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Die Dämmerung war noch nicht mehr als eine bleiche Ahnung am östlichen Himmel. Das Licht war noch so gedämpft, dass die Wellen, die sich unterhalb des Palastes an den Felsen brachen, nur Schatten waren. Ein paar Sterne trotzten ebenfalls noch der aufgehenden Sonne. Zwei Wächter schritten die Grenzmauern des Palastgeländes ab und löschten dabei die Nachtfackeln. Weil sich fast alle anderen in Jerusalem aufhielten, war es im Palast auffallend still. Wenn Pontius Pilatus anwesend war, brummte das Haus vor Geschäftigkeit, und es herrschte eine angespannte Atmosphäre. Selbst in der Stille der Nacht war der Ort dann von einer erwartungsvollen, manchmal ängstlichen Stimmung geprägt. Es gab kaum einmal einen ruhigen Augenblick, schon gar nicht für eine junge Dienerin wie Lea. Lea betrat die Küche, wo Dorit bereits auf ihrer Matte saß. Die alte Frau zog es vor, in der Nähe der Feuerstelle zu schlafen, auch wenn dies bedeutete, dass sie aufstehen musste, sobald die erste Küchensklavin ihren Arbeitstag begann. Aber selbst jetzt, wo das Mädchen nicht da war, schlief Dorit nie länger als bis zur Morgendämmerung. Die alte Frau riss vor Überraschung die Augen auf. „Lea, warum bist du nicht im Bett?“ „Ich fühle mich, als sei ich eben aus dem Gefängnis entlassen worden.“ „Dir geht es also besser?“ „Mehr als das, Dorit. Ich bin wieder gesund.“ „Komm, lass mich fühlen, ob dein Fieber auch wirklich abgeklungen ist.“ Dorit erhob sich und legte eine altersfleckige Hand auf Leas Stirn. „Ich habe mir große Sorgen um dich gemacht, Kind.“ Leas Antwort wurde vom Ruf eines Palastwächters unterbrochen, der aus der Richtung der Palasttore kam. Lea richtete sich auf, als sie hörte, dass sich Pferde näherten. Die betagte und von Schlachten ganz raue Stimme, die Antwort gab, erkannte sie sofort. 11


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