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mit offener Tür und einem Babyfon an Mutters Bett habe ich an dem Nachmittag, als ein Herzanfall sie ohne Vorwarnung tötete, nichts gehört. Ich senke meine Stirn gegen die Tür. Ich sollte weinen, ich sollte den Verlust irgendwie spüren, doch ich fühle … nichts. Sind meine Gefühle erstarrt, weil die Krankheit mir meine Mutter lange vor dem Herzinfarkt geraubt hat, oder bin ich zu erschöpft, um etwas zu spüren? Vielleicht erlebe ich die seelische Variante eines körperlichen Schocks. Ich wende mich von der Tür ab und drehe mich um. Dabei erhasche ich im Spiegel über dem antiken Ankleidetisch einen flüchtigen Blick auf mich selbst. Die braunen Augen, die meinen Blick erwidern, müssen die meines Vaters sein, denn sie haben nichts mit den eisblauen Augen meiner Mutter gemeinsam. Volle, dunkle Haare winden sich in wirren Locken nach unten über meine Schultern; die Naturfarbe meiner Mutter war Honigblond. In ihren reiferen Jahren hat sie die Haare silbergrau werden lassen und in einem glänzenden Chignon-Knoten getragen. Selbst auf dem Krankenbett habe ich dafür gesorgt, dass ihr Haar immer ordentlich lag. Ich konnte doch nicht riskieren, dass sie auf einen öffentlichen Flur wanderte und dabei geringer aussah als Mary Elisabeth Wentworth Norquest. Ein gequältes Lächeln zupft an meinen Lippen. Mutter und ich waren uns ungefähr so ähnlich wie Senf und Vanillesoße. Da überrascht es nicht, dass nur wenige der Gäste mich erkennen. Hätte ich eine weiße Schürze über meinem einfachen schwarzen Kleid getragen, hätte mich niemand auch nur eines Blickes gewürdigt. Ich hebe den Kopf, als jemand vor der Tür hustet. „Aurora? Liebes, alles in Ordnung?“ Ich blicke zurück in den Spiegel. Der Frau dort scheint es definitiv gut zu gehen. Ihre Augen sind klar, ihre Wangen trocken, und ihr Mund trägt immer noch einen leichten Hauch von Lippenstift. 

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