Frizz 1015 Leipzig

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10 Portrait 1015 LE:! Muster HA 23.09.15 17:47 Seite 10

PORTRAIT N Text: Mathias Schulze; Foto: Gregor Pryballe

Schnurrt „Schrödingers Katze“, geht das Abendland auf jeden Fall unter. Aber dafür ist die Welt gerettet! Die Band mit Sänger Daniel Dexter (Foto) ist im Oktober in Leipzig gleich zweimal zu sehen.

Gefühlskino ohne Plastikgeschmack K Bob Dylan, Rio Reiser, Beatles. Und gleich danach, dazwischen, also mittendrin, kommt die Leipziger Band „Schrödingers Katze“. Mathias Schulze hat Sänger Daniel Dexter getroffen

Nasskalte Herbststürme, Frost in den Gliedern, Schwere in den Gedärmen, schwarzer Nebel im Hirn. Woche für Woche kreist und dröhnt ein Hubschrauber über die Leipziger Innenstadt. Worum geht es? Keine Ahnung, komplette Sinnlosigkeiten. Die hässlichste aller Sinnstiftungen, die Nation, ist auf jeden Fall wieder gefragt. Das tut weh – im Geist, im Körper. Und der Hubschrauber dröhnt, bis tief hinein ins aufgeräumte Gemüt, bis tief hinein in die heiligen Membranen, die eigentlich Schutz, Schönheit, Glanz und Vertrauen spenden sollten. Und dann sitzt dort Daniel Dexter, zerknautschte Tabakpackung, Nikotin in der Luft, Kaffee vor der Brust. Man grüßt sich. Platznehmen, Durchatmen. Hier geht es doch um Kunst, hier geht es doch um Musik, hier geht es doch um das, was das Leben lebenswert macht. Und dennoch ist sie da: Die Wand der Müdigkeit, der Erschöpfung. Alle hören das viel zu laute Dröhnen des dumpfen Brüllens, das Hässliche. War da nicht eben das Bild des kleinen, toten Jungen am Strand? Werden nicht gerade Stacheldrahtzäune gebaut? Eigentlich sollte es aber um Kunst gehen. Dexter, Jahrgang

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FRIZZ Oktober 2015

1978, kratzt sich am Bart, Rauchschwaden überall. Beatles, der Sound der 60er Jahre. Das ist die Referenz, sein Grundfundus an Harmoniewechseln. Komplex, aber eingängig. Langsam, ganz langsam hellt sich die Stimmung auf. Wie eine vergilbte Seite schiebt sich Hoffnung in die Seele. Dexter kommt ins Plaudern: „Die Art und Weise, wie ich Texte montiere, orientiert sich an Bunuel, Godard, der Nouvelle Vague. Ich will keinen einheitlich emotionalen Teppich liefern. Eins zu eins langweilt mich. Die Metaphern dienen lediglich dem Zweck, das Fehlende, Ungesagte einzugrenzen.“ Als der nächste Kaffee auf dem Tisch steht, schiebt er nach: „Die Balance ist mir wichtig. Dass weder Kopf noch Gefühl überbetont sind. Der Hörer soll ein bisschen mitdenken. Kann ja sein, dass er dabei was viel Spannenderes im Kopf hat als ich.“ Nun ist das pralle Prachtweib namens Leipzig wieder da: Kein strammer Schritt, kein Gedöns, keine Verachtung, keine Kopfschmerzen. „Atlantik-Hotel“. So heißt der neue Song, direkt anzuklicken, wenn man die Homepage von „Schrödingers Katze“ besucht. Je-

ner Band, der Dexter seine Stimme leiht und der außerdem Werner Kunschke (Gitarre und Effektgeräte), Jan Kohnert (Gitarre), Jochen Gille (Rückraum-Feinmotoriker) und Susann Bähnisch (Bass) angehören.

„Spar dir die Worte, mal mir ein Bild.“ Im Refrain des „Atlantik-Hotels“ poppt es spielerisch auf. Reine Lust: „Ba, Bap, Bap, Bap, Bap, Bap, Bap, Bap“. Direkt darunter ein anderer Song: „Schwarze Linien auf schneeweißem Grund“. Sofort sieht man die Beatles wieder über den Zebrastreifen laufen. Es klappert, es zwirbelt, es rutscht, es raschelt leicht und herbstlich in der Pappelallee. Wunderbar. Und textlich? Auch das ist gut: „Spar dir die Worte, mal mir ein Bild.“ Dexter zündet sich noch eine Zigarette an, der Bob Dylan Leipzigs. Ein zackiger Rock-Fetzen heißt „Straße nach Gibraltar“. Dexter erklärt schmunzelnd: „Ein Kollege meinte, dass man Begriffe wie NSA oder Smartphone nicht in einem Pop-Song verwenden kann. Sie wären einfach zu neu, um Assoziationen zu wecken. Herzen, Ringe, Brüste – die brauchten schließlich

auch ein paar Jahrtausende, um zum etablierten Vokabular eines Popsongs zu gehören.“ Assoziative Felder, sachliche Kollegenkritik. Leipzig macht Pop für Erwachsene. Willkommen Schönheit! So nennt sich gar ein Album der Katzen. Ganz in der typischen Rio-Reiser-Manier, der Manier, in der alles gegeben wird, damit der Traum Wirklichkeit wird, steht der Song „So lange du die Sterne nicht berührst“. Gefühlskino ohne Plastikgeschmack. Wege in die kultivierte Melancholie, Wege zum Blut in den Adern, nicht zum Blut auf den Straßen. Alles ohne klebrigen Zuckerguss. Wer braucht da noch einen Hubschrauber? „Eigentlich komme ich ja aus der Liedermacher-Tradition, Geschichten erzählen und so, mit Anfang, Ende und einer Moral. Aber dann wurde ich immer abstrakter, surrealistischer. Warum? Hm. Neugier, die Angst vor dem Stillstand. Wer will schon immer dieselbe Platte machen?“, fragt Dexter in den erhellenden Dunst der Selbstgedrehten. Wer glaubt, er sei nur bei den Katzen unterwegs, irrt. Da gibt es noch ein Duo mit der schönen Schauspielerin und Sängerin Beate Furcht. Dort lebt Dexter die Liebe zum Chanson aus, dort schnitzt er an seiner Klavierarbeit. Stundenlang könnte man weiterreden. Stunden ohne Rechthaberei, Stunden ohne Angst. Tja, sonst noch? Natürlich gibt es noch die herrliche Soul-Band „The Seasides“, die gerade einen Manager sucht. Natürlich gibt es noch Berlin und den DJ-Job. Oder den Schachunterricht, den Dexter erteilt. „Die deutschsprachige Musik hat es in Leipzig, im Gegensatz zum Jazz, ziemlich schwer“, sagt er. Dafür fliegen allwöchentlich Hubschrauber. Dexter dreht sich noch eine Zigarette und lacht: „Ich hab schon oft für und folglich auch mit ganz wenig Geld gearbeitet.“ Erstaunlicherweise ist immer etwas Gescheites dabei rausgekommen. Wahrlich, das kann nicht jeder von sich behaupten. N Schrödingers Katze, 9. Oktober, Big Easy, 20 Uhr, und am 30. Oktober, Geyserhaus, 20 Uhr, FRIZZ verlost jeweils 1 x 2 Tickets, mehr: www.schroedingerskatze.com