Hagebutte Verlag, Herbst 2021

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Plötzlich war die Sehnsucht nach Berlin da. Echte Saudade, ­Heimweh. Es war ein schöner Tag gewesen, ich hatte mit Freunden Feijoada gegessen und Bücher gekauft. Es passierte am späten Nachmittag. Ich saß zwischen den Kindern auf dem Sofa und aß ein Eis am Stiel, Geschmack Doce de Leite. Im Fernsehen wurde irgendein belangloser deutscher Film gezeigt, ich weiß nicht mal mehr, worum es ging. Aber ich hörte die Sprache. In den letzten Wochen hatte ich auf der Straße öfter Deutsch mit meinen Söhnen gesprochen. Hauptsächlich um unsere Gespräche durch die »Geheimsprache« vor neugierigen Ohren zu schützen. Es war befreiend, mit seinen Kindern einfach so drauflosreden zu können, ohne dass einen jemand verstehen konnte. Deutsch war seit neun Jahren Teil meines Alltags und fehlte mir, wenn ich es nicht sprechen konnte. Wie bekommt man eine Sprache, eine Kultur, die sich seit so Langem wie ein waghalsiges Überholmanöver in meinem Kopf befindet, wieder aus dem System? In dem Film schneite es, und ich umklammerte mein Eis, um in mir die Erinnerung an die Kälte wachzurufen. Die Hitze in Rio de Janeiro lässt jeden deutschen Winter wie eine absurde Filmidee wirken.

Luciana Rangel ist Journalistin und Autorin aus Rio de Janeiro und lebt seit 2005 in Deutschland. Ihre Produktionen über Geschichte, Politik und Kultur wurden von der Europäischen Union und TV Globo mit Preisen ausgezeichnet. Sie erhielt auch den brasilianischen Petrobras-Preis für den Dokumentarfilm »Sehnsuchtsland Brasilien« (ZDF). Als Autorin nahm sie an der zweisprachigen Anthologie »Sehnsucht ist ein verdorbenes Wort« (Bübül Verlag), »Schreiben Berlin« (Nós Verlag) und am »Herbstsalon« des Berliner Maxim-GorkiTheaters teil. Sie ist Doktorandin am Lateinamerikanischen Institut der Universität Bielefeld.


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