Gǎi Dào Nr. 61 – Januar 2016

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Gai Dào

N°61 - Januar 2016

Am diesjährigen Sozialstreik-Treffen in Poznan waren solche Forderungen ein sehr umstrittener Punkt, besonders hinsichtlich der Zweckmäßigkeit, dem revolutionären Selbstanspruch und des Inhalts (hier: Grundeinkommen, Mindestlohn, Wohlfahrt und Niederlassungsfreiheit. Alles auf europäischer Ebene und bedingungslos für alle). Nun liegt es an allen, die die Notwendigkeit transnational zu kämpfen erkannt haben, sich über diesen Ansatz zu verständigen und auf ihn zu reagieren. Denn unabhängig von der Bewertung dieses Textes wird kaum wer bestreiten, dass neue Formen des kollektiven Widerstandes dringend erprobt werden müssen. Der Sozialstreik ist eine solche

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innovative Methode des Klassenkampfes. Und die Ahnung von ihm verbreitet sich zusehends, sodass an immer mehr Orten an seiner Weiterentwicklung getüftelt wird. Dem Vernehmen nach haben bereits auch gewisse Repressionsorgane ein ausgesprochen entwickeltes Interesse an ihm. Kein Wunder eigentlich. Braut sich doch die Suppe der Sozialstreik-Initiant*innen zur Hauptsache aus einem gefährlichen Gemisch von autonomen Arbeiter*innenkollektiven, Basisgewerkschaften, Linkskommunist*innen, Syndikalist*innen und Anarchist*innen zusammen. Auf dass die Klasse wieder eine gefährliche werde!

Charta der Streikenden Wir sind die Streikenden: Wir sind die Prekären, die Migrant*innen, die Industriearbeiter*innen, die Studierenden, die am 14. November 2014 zusammen in Streik getreten sind und so die Spaltungen, die unsere gemeinsame prekäre Lage produzieren, herausgefordert haben. Von: Coalizione per lo sciopero sociale (Koalition für den Sozialstreik) Dezember 2015 Wir sind jene, die im Stundenlohn auf Abruf arbeiten, wir sind die Arbeiter*innen, die tatsächlich untergeordnet sind, obwohl wir als „Selbständige“ oder als „Arbeitspartner*innen“ einer kollektiven Unternehmung gelabelt werden. Wir sind die „Internen“, die „Volontär*innen“, die „Lehrlinge“ und die Student*innen, die gratis arbeiten und hoffen, in der Zukunft einen Lohn zu erhalten. Wir sind die neue Generation von autonomen Arbeiter*innen, verarmt, ohne wohlfahrtsstaatliche Leistungen und getroffen von der unfairen Besteuerung. Wir haben eine Aufenthaltsgenehmigung in unseren Taschen, die erneuert wird als Gegenleistung für unsere Ausbeutung. Wir sind die Arbeiter*innen ohne Rechte, mit tiefen Löhnen, mit kaum Zugang zu staatlichen Leistungen. Wir sind prekäre Arbeiter*innen, auch wenn wir einen festen Arbeitsvertrag haben. Der Sozialstreik ist die Kampfansage, die uns vereint hat gegen jene, die von unserer Prekarität profitieren: Wir haben es einmal getan und wir werden es wieder tun. Wir sind die Streikenden: Wir glauben denen nicht, die uns sagen, die Krise sei vorbei und die Wirtschaft erhole sich. Die europäischen Austeritätspolitiken sind unsere neue Normalität. In Italien nennen sie diese Massnahmen „Jobs Act“, „Sblocca Italia“, Jugendgarantie, „Buona Scuola“ und „Buona Università“, aber für uns bedeuten sie nur eines: Prekarität. Wir akzeptieren nicht, dass Europa und seine Staaten uns die Türen verschließen, wenn wir nicht mehr „verwertbar“ sind, und dass sie uns „Wohlfahrtstouristen“ oder „Illegale“ nennen. Mit den Krümeln, die sie uns überlassen, sind wir nicht zufrieden, wir verlangen viel mehr. Wir wissen, dass wir neue, zeitgemäße Werkzeuge brauchen, um unsere Kämpfe zu vereinen und uns selbst zu organisieren. Wir wissen, was wir wollen: Ein Grundeinkommen und eine Grundversorgung („welfare“ im Original, Anm. d. Übers.), einen Mindestlohn und die

bedingungslose Aufenthaltserlaubnis. Nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa, weil wenn die Prekarität die Grenzen überschreitet, müssen das unsere Kämpfe auch tun. Wir sind die Streikenden, wir sind durch den Streik definiert, nicht durch die Prekarität: Ein Streik auch für jene, die nicht streiken können, für jene, die neue Werkzeuge erfinden müssen, um sich zu organisieren. Aus diesem Grund wollen wir das Grundeinkommen und eine europaweite Grundversorgung. Jede Kürzung der öffentlichen Ausgaben im Namen des Budgetausgleichs macht uns ärmer und produziert neue Prekarität, zwingt uns zur Erbringung von Dienstleistungen zu immer tieferen Löhnen, die alleine der Markt bestimmt. Jede Steuererleichterung für Unternehmen, jede Verteuerung der Sozialleistungen, jede neue Finanzierung einer Megabaustelle ist eine Attacke gegen unsere Rechte und unsere Leben. Wir produzieren Wohlstand und wir wollen nicht arm sein. Deshalb fordern wir das Recht auf Wohlfahrt („welfare“) und auf ein bedingungsloses Grundeinkommen in allen Teilen Europas. Bedingungslos deshalb, weil wir nicht bereit sind, jegliche Arbeitsbedingungen und jeden Lohn zu akzeptieren, nur um jenen zu erhalten. Bedingungslos, weil es somit unabhängig der Staatsbürgerschaft ist: Wir wollen nicht, dass die Migrant*innen den Preis dafür zu zahlen haben. Diese Kosten müssen von jenen bezahlt werden, die Profite aus unserer Prekarität schlagen. Wir sind die Streikenden: Der Streik ist unsere Waffe gegen die Erpressung des Lohnes. Aus diesem Grund wollen wir einen europäischen Mindestlohn. Wir haben es satt, immer wenn wir rebellieren, großen oder kleinen Bossen zuzuschauen, wie sie die Produktion nach Polen oder Rumänien auslagern. Wir sind es leid, durch Werkvertragsarbeiter*innen ersetzt zu werden, weil ein*e


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