Goethe & Schiller - ediert, ergründet, erzählt

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Dechiffrierungen eines Dichterbundes Wie aber könnten künftige Forschungen auf der Grundlage der Neuedition des Briefwechsels der beiden Weimarer Klassiker aussehen? Zum Beispiel, führte Alexander Nebrig in seiner Besprechung der Reclam-Ausgabe mit merklich wachsender Begeisterung aus, könne man nun, da textphilologisch abgesichert sei, »dass Goethe zum Diktat neigte, Schiller aber seine Briefe ausschließlich selbst niederschrieb«, ein »Phänomen« untersuchen, das die Oellers’sche Edition erst sichtbar mache: »einen bewussten Umgang Goethes mit der Zeichensetzung« nämlich.16 In Zeiten einer zunehmend kulturwissenschaftlich verstandenen Germanistik kann sich für derart philologische Fragestellungen freilich nicht mehr jeder erwärmen. Johan Schloemann, Literaturredakteur der Süddeutschen Zeitung und selbst studierter (Alt-)Philologe, meinte angesichts der Neuausgabe des Briefwechsels zwar, Philologie sei »ein wunderbares Geschäft, in dem mit vollem Recht jedem einzelnen Jota hohe Bedeutung zugemessen wird«, in der Form, wie sie Oellers mit seiner Edition vorführe, biete sie dem »allgemeine[n] Lesepublikum« jedoch »kein Jota mehr« an Verständnis für die Weimarer Klassiker.17 Und auch Terence Reed gab zu bedenken, dass die »minutiösen Nachweise[]« von in Kommata verbesserten Punkten eher vom »Purismus der Editionswissenschaft« zeugten, »die immer schon Gefahr läuft, in ein l’art pour l’art auszuarten«, als dass sie einen poetischen Mehrwert der Texte dokumentierten.18 Nun täte man der Germanistik allerdings ebenso unrecht wie Goethe und Schiller und den Editoren ihres Briefwechsels, wenn man behauptete, anderes als Editionsphilologie um der Editionsphilologie willen wüsste die Wissenschaft mit der Dichterkorrespondenz heute nichts mehr anzufangen, der jenseits des germanistischen Elfenbeinturms ohnehin längst das Etikett vom »deutschen Hausschatz einer gebildeten Freundschaft«19 anhafte. Wie weitreichend und facettenreich das kulturgeschichtliche Panorama ist, das der Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller gleichermaßen umspannt wie eröffnet, zeigt sich beispielhaft am neusten Beiheft der Zeitschrift für deutsche Philologie (ZfdPh), das ganz dem Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe gewidmet ist (und das im Übrigen jene Faksimiles der Briefhandschriften enthält, die die Reclam-Ausgabe vermissen lässt). Das im Heft auf 204 Seiten versammelte Dutzend wissenschaftlicher Beiträge geht auf ein internationales Symposium zurück, das das Goethe- und Schiller-Archiv der Klassik Stiftung Weimar gemeinsam mit Norbert Oellers im Oktober 2009 aus Anlass der Neuedition des Briefwechsels ausgerichtet hat. Seite an Seite mit editionskritischen und -historischen Aspekten, denen sich die beiden Herausgeber des Beiheftes, Bernhard Fischer und Norbert Oellers, in unterschiedlichen Akzentuierungen widmen, stehen hier Untersuchungen zu Gattungs-, Stil- und Rhetorikspezifika der Korrespondenz (Wilfried Barner, Alice Stašková), ferner Erörterungen zu philosophischen (Shu Ching Ho) und poetologischen (Bernd Witte, Volker C. Dörr), literar- und theaterästhetischen Themen (Walter Hinderer, Lesley Sharpe). Schließlich dürfen natürlich auch Beiträge zu der Thematik nicht fehlen, als deren Denkmal der Briefwechsel gemeinhin gilt – der Dichterfreundschaft des Dioskurenpaars der klassischen deutschen Literaturgeschichte (Kurt Wölfel, Ernst Osterkamp). Dabei ist die Verwendung des Wortes ›Freundschaft‹ in diesem Zusammenhang gar nicht so einfach, wie Rolf-Bernhard Essig in seinem Nachwort zu einer Kleinen Schiller’schen Philosophie der Freundschaft letzthin nochmals her74

vorgehoben hat. Denn schon dieses kurze Wort stehe eigentlich »im krassen Gegensatz zu dem windungsreichen Weg samt einigen Sackgassen, der nötig war, bis sich die beiden aus Fremden, Rivalen, Verächtern hin zu schlagkräftigen Verbündeten, einander bewundernden Kollegen, ja zu liebenden und sehnsüchtigen Freunden entwickelten«.20 Tatsächlich war das Verhältnis zwischen Goethe und Schiller nicht nur von freundschaftlicher Eintracht geprägt, sondern auch von zahlreichen Differenzen. So tauchen denn auch bereits in den Titeln der Beiträge des ZfdPh-Beihefts bemerkenswert häufig Vokabeln wie ›Gegensatz‹ (Hinderer, Ho), ›Paradoxie‹ (Witte) oder ›Kontroverse‹ (Rolf-Peter Janz) auf. Und auch in Aufsätzen, denen die Gegensätzlichkeit nicht direkt überschrieben ist, kommt sie doch immer wieder zum Ausdruck: Alice Stašková charakterisiert in ihrer Untersuchung von »Stil und Rhetorik im Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe« die Schreibstile verkürzt als diametral: »Goethe ist klar, aber ungenau, Schiller ist genau, aber unklar.« (S. 64). Für Volker Dörr spiegelt auch die im strengen Sinne einzige ›echte‹ Gemeinschaftsarbeit der beiden Klassiker, die auf das Engste mit dem Briefwechsel verknüpfte Skizze Ueber epische und dramatische Dichtung von Goethe und Schiller, eher Divergenzen als Konvergenzen wider: Die beiden gemeinsam genannten Autoren reden, wenn sie über den vorgeblich gemeinsamen Gegenstand reden, eigentlich über verschiedene Dinge; sie reden weniger miteinander als vielmehr aneinander vorbei, was dem Dialog doch starke monologische Züge verleiht. (S. 136) Vor diesem Hintergrund sei der von Goethe und Schiller gewählte Titel letztlich »durchaus sinnvoll [zu] dechiffrieren als ›Über epische und dramatische Dichtung von Goethe bzw. Schiller‹ oder noch deutlicher ›Über epische Dichtung von Goethe und dramatische von Schiller‹« (S. 128) – eigentlich schade, dass Dörr anstelle dieser sinnfälligen Formulierungen den originären Texttitel als Überschrift für seinen Aufsatz gewählt hat (vgl. S. 121). Auch für Kurt Wölfel ist im Briefwechsel von Goethe und Schiller, »dem unmittelbarsten Dokument« ihrer Freundschaft, »der ernste Geist, nicht das liebende Herz« die federführende Instanz – mit Blick auf den Namen von Goethes Schreiber Johann Ludwig Geist durchaus im doppelten Wortsinn: Die Korrespondenz der beiden Dichter könne man, wohl dem Selbstverständnis der Korrespondenten entsprechend, »ein ›hohes Geistergespräch‹ nennen, ›auf den Gipfeln der Menschheit‹ stattfindend« (S. 163). Hierzu mag auch passen, dass Goethe und Schiller vom ersten bis zum letzten Tag ihres Briefwechsels stets ein freundliches, sicherlich auch durchaus freundschaftliches, aber doch eine gewisse Distanz wahrendes ›Sie‹ pflegten, während in den Korrespondenzen Schillers mit Christian Gottfried Körner und Goethes mit Zelter nach mehr oder minder kurzer Zeit das vertraute ›Du‹ gebraucht wurde.21 Nicht das ›Du‹ oder das ›Sie‹, sondern das ›Wir‹ sieht Ernst Osterkamp als »grammatisches Zentrum« des Briefwechsels und der sich in ihm manifestierenden Freundschaftsbeziehung Goethes und Schillers (S. 179). Denn, so erfährt man gleich zu Beginn seiner Ausführungen: »Im Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe – dem wichtigsten Zeugnis der bedeutendsten Dichter-


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