#5 Maschine-Werden

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Sowohl physische als auch virtuelle Marktplätze sind jedoch keineswegs nur Orte isolierter ökonomischer Transaktionen, sondern auch Orte sozialer Interaktion. Bei Silk Road war dieser soziale Aspekt in Form von lebhaften Diskussionen auf den Foren der Website integraler Bestandteil der Plattform. Neben der Qualität verschiedener Drogen und den neuesten Sicherheitsstandards wurden in diesen Foren auch politischökonomische Theorien diskutiert. Obwohl die Betreiber der Plattform laut Anklageschrift 80 Mio. US-Dollar Provisionen kassiert haben, behauptete DPR, Silk Road sei weniger ein geschäftliches als vielmehr ein politisches Projekt. Wie seine eingangs zitierte Aussage, im Hidden Web sei es „profitabel, die eigenen Ketten zu sprengen“, zeigt, läuft in diesem Falle möglicherweise beides auf dasselbe hinaus. So erklärte DPR in einem Foren-Post: Ich spreche über die österreichische ökonomische Theorie, Voluntarismus, Anarchokapitalismus usw., von historischen Personen wie Mises und Rothbard oder Salerno und Rockwell heute. Ich habe alles gelesen, was ich konnte, um mein Verständnis von Ökonomie und Freiheit zu vertiefen, aber es war alles intellektuell, es gab keinen Aufruf zum Handeln, außer den Menschen um mich herum zu erzählen, was ich gelernt habe und sie so hoffentlich dazu zu bringen, das Licht zu erblicken.6 Silk Road hingegen sei nun die praktische Umsetzung der „anarchokapitalistischen“ Theorien. Auf seinem LinkedIn-Pro-

6 http://www.forbes.com/sites/andygreenberg/2013/04/29/collected-quotationsof-the-dread-pirate-roberts-founder-of-the-drug-site-silk-road-and-radicallibertarian/#73b6287d4f51 Zugriff 12.4.2017, übers. SiSch.

fil verkündet Ulbricht dann auch: „Ich will die ökonomische Theorie als ein Mittel zur Befreiung der Menschheit von Zwang und Aggression nutzen.“7 Ökonomische Theorie wird hier also als Utopie begriffen, die es in der realen Welt umzusetzen gilt. Damit handelt es sich um eine Art von digitalem Aktivismus, der gerade nicht darin besteht, beim Staat Rechte einzufordern, wie es z.B. das Konzept der „digitalen Bürger“ von Isin und Ruppert8 vorsieht. Stattdessen geht es um eine Form des „konstruktiven Aktivismus“,9 bei dem der angestrebte Zustand selbst durch direkte Aktion herbeigeführt werden soll. Das Aufgreifen der ökonomischen und informatischen Theorie als zu materialisierende Utopie illustriert darüber hinaus auch die Performativität theoretischer Modelle: Sie beschreiben keineswegs nur eine vorgefundene Realität, sondern stellen selbst – mehr oder weniger erfolgreiche – Interventionen in diese dar. Im Fall von Silk Road setzt sich diese Utopie aus zwei theoretischen Strömungen zusammen: dem extremen Neoliberalismus und der Kybernetik. Die Kybernetik wurde in den 1940er Jahren von Norbert Wiener, John von Neumann und anderen als Universalwissenschaft von „Kommunikation und Kontrolle“ begründet.10 Ihre Vision von Kontrolle beruht darauf, dass sich das zu steuernde System auf der Grundlage von Feedbacks selbst regulieren soll. John von Neumann gilt sowohl in der Ökonomie (mit seinen Arbeiten zur Spieltheorie) als auch in der Informatik (mit seinen Computertheorien, unter anderem zu selbstreplizierenden Automaten) als zentrale Figur. Basierend auf Analogien zur Input/Output-Analyse in der Thermodynamik versuchte er, Informatik und Ökonomie zusammenzuführen. Dabei konzipierte er monetäre Preise als 7 https://www.linkedin.com/in/rossulbricht Zugriff 12.4.2017, übers. SiSch. 8 Isin, Engin/Ruppert, Evelyn (2015): Being Digital Citizens. London: Rowman & Littlefield. 9 Maddox et al., Constructive activism. 10 Wiener, Norbert (1968 [1948]): Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine. Reinbek: Rowohlt.

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