Oktober/November 2016 "Trauma - Heraus- forderung des Lebens"

Page 36

zum Titelthema

Trauma und Retraumatisierung

Was ein Trauma ist, wird in dieser Ausgabe ausführlich behandelt und definiert. Viele Menschen wissen mittlerweile mit diesem Begriff etwas anzufangen. Was eine Retraumatisierung ist, wissen jedoch die Allerwenigsten. Als ehemals selbst Betroffene einer Retraumatisierung und heutige Traumatherapeutin ist es mir ein Anliegen darüber zu informieren. Was ist eine Retraumatisierung? Ein traumatisierter Mensch hat immer Symptome, diese können fast unmerklich oder von jeher sehr stark sein. Viele Traumabetroffene reagieren auch auf Trigger, d.h. Auslösereize, die nicht immer zu erkennen sind und meist starke Ängste auslösen, oft kombiniert mit Bildern und Körperreaktionen. Trigger können Farben, Gerüche, Geräusche etc. sein, also Reize, die irgendwie mit dem ehemaligen Traumageschehen in Verbindung zu bringen sind. Die beschriebenen Triggerreaktionen gehen jedoch vorbei. Anders ist es bei einer Retraumatisierung. Hier gibt es auch Auslösepunkte, aber die Vehemenz und Dauer der Reaktion ist eine ganz andere. Hier werden die lange etablierten Abwehrmechanismen außer Kraft gesetzt, so dass es zu einer Überflutung mit altem Traumamaterial kommt. Der betroffene Mensch hat bei einer Retraumatisierung Gefühle, Bilder, Körperempfindungen und Wahrnehmungen, als ob er in diesem Moment direkt die alte Traumatisierung erneut durchleben würde. Er ist diesen Symptomen hilflos ausgeliefert und erkennt sich selbst, sein Erleben, seine Gefühle und seine Reaktionen nicht wieder. Bei einer Retraumatisierung geht ein Mensch wirklich „durch die Hölle“.

34

Beispiel: Herr F. ist ein erfolgreicher Informatiker. Er steht mitten im Leben und lebt in einer festen Beziehung. Seine Partnerin trennt sich. Daraufhin einfach JA 10-11/2016

macht er ein Atemseminar, um mit der Trennung und den entsprechenden Gefühlen besser klar zu kommen. Soweit, so gut, so normal. 2 Wochen nach diesem Seminar wird er plötzlich von Angstund Panikattacken überschwemmt, er kann nicht mehr schlafen, hat massive Schmerzen, überall im Körper, kann nicht mehr am Rechner sitzen, weil er die entsprechenden Reize nicht mehr aushält und erleidet einen zusätzlichen Kräfteverlust. Obwohl er geistig der Alte ist, ist er nicht mehr derselbe Mensch. Er erkennt sich und seine Reaktionen nicht mehr wieder und hat Angst, dass er seinen inneren Zustand nicht überlebt. Er kann kaum noch arbeiten und nicht mehr alleine wohnen. Was ist hier passiert? Herr F. hat eine schwere Retraumatisierung erlitten. Auslösepunkte waren die Trennung und das Atemseminar. Beide triggerten quasi alte Trennungserfahrungen als Kind (Herr F. wurde als Kleinkind ständig allein gelassen und eingeschlossen). Das gesamte gut verdrängte Kindermaterial kam mit einer massiven Wucht nach oben und führte zu den genannten schrecklichen Symptomen. Herrn F. gibt es wirklich, nach einer Odyssee bei verschiedenen Ärzten und Psychotherapeuten sowie in einer Fachklinik kam er zu mir, völlig verzweifelt. Die Profis hatten seinen Zustand nicht erkannt, eben weil die Symptome einer Retraumatisierung in der Fachwelt wenig bekannt sind. Herr F. kam wöchentlich zu mir und nahm Sitzungen in „Somatic Experiencing“ nach Dr. Peter Levine. Heute, nach 6 Monaten, geht es ihm wieder gut – mehr Kraft, nur noch selten Schmerzen, er arbeitet wieder erfolgreich und erlebt viel Freude. Herr F. muss noch nacharbeiten, aber er ist in seinem Kern wiederhergestellt. Wichtig: eine Retraumatisierung geht nie von alleine vorbei! Die Symptome bleiben, in der beschriebenen Radikalität, wenn sie nicht behandelt werden! Bei einer Retraumatisierung geht es auch erstmal gar nicht darum die Traumata, wie sexueller Missbrauch, Gewalt oder emotionale Traumatisierungen zu bearbeiten, sondern es geht darum,