ehrenfelder #2
2011/2012
Kein Ort, nirgends Ehrenfelds heimliche Verzückungsorte
U1
Gähnen steckt an Werden wir die neue Südstadt?
Utopie
Ein völlig unbrauchbarer Begriff als Parole
Keine Panik
Die Kripo über gefühlte und reale Angst-Räume
Keine
Utozwpeitiee Die Ausgabe
Titelgestaltung: Mareile Busse, Stefan Flach Foto umseitig: Stefan Ditner, Foto oben: Matthias Knopp Texte umseitig: Jessica Hoppe, Matthias Knopp, Prasanna Oommen
Schwimmende Insel „Tritt in den unterschiedlichsten Figurationen in Erscheinung. Allen schwimmenden Inseln gemeinsam ist eine zwitterhafte Existenz zwischen greifbarer Realität und imaginierter Gegenwelt. Obgleich materiell realisiert, entziehen sie sich in ihrem ungerichteten Gleiten auf den Weltmeeren dem Zugriff der Kartographie, mithin sämtlichen Instrumentarien einer rationalistischen Weltbeschau. Schwimmende Inseln sind „Orte, die außerhalb aller Orte liegen“ (Foucault 2006, S. 320; —> Heterotopie), real und utopisch zugleich. Gemäß ihrem utopischen Charakter ist das Auftreten schwimmender Inseln häufig mit einem Heilsversprechen verknüpft. So auch im Kontext des Klimawandels. Der belgische Architekt Vincent —> Callebaut hat mit der Ökopolis —> Lilypad eine schwimmende Insel entworfen, die den Klimaflüchtlingen der —> Zukunft Zuflucht bieten soll. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt die Organisation Terreform (—> Terraforming). Ihr Projekt »Future North« sieht vor, bestehende Städte in klimatisch vorteilhaftere Zonen zu verschieben. Die Städte werden dazu aus der sie umgebenden Landmasse herausgelöst und als schwimmende Inseln zum dann aufgewärmten Nordpol geschleppt. Erste Studien für die Agglomerationen Hong Kong, New York, Miami, Tokio und San Francisco liegen vor (vgl. Terreform o. J.). Nicht alle schwimmenden Inseln sind positive Welten. In Neil Stephensons Roman Snow Crash ist die schwimmende Insel ein
dystopischer Ort. Die USS —> Enterprise bildet das Zentrum eines großen Floßes, das durch die Weltmeere treibt und Flüchtlinge aus Asien nach —> Kalifornien bringt. Auf dieser schwimmenden Insel herrschen Gewalt, Ausbeutung und Tod. Im Königreich Lummerland löst die schwimmende Insel Neu-Lu das durch Klimaflüchtlinge ausgelöste Problem der Überbevölkerung. „Lummerland ist“, so der König, „ein kleines Land […]. Für einen König, eine Lokomotive, einen Lokomotivführer und zwei Untertanen reicht es gerade. Aber wenn nun noch ein Untertan dazukommt …“ (Ende 2004, S. 20) Doch ein geheimer Informant verrät den Lummerländern die Position einer schwimmenden Insel. Direkt neben Lummerland vertäut, vergrößert Neu-Lu die Fläche des Königreichs auf fast das Doppelte. »Das ist die Lösung des Problems! […] Wer hätte aber auch an so etwas gedacht! Nun brauche ich mir keine Sorgen mehr zu machen! Zum ersten Mal seit langer Zeit werde ich wieder in Frieden schlafen können.“ (Ende 2004 [1960], S.243)“
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Schwimmende Insel Die „zwitterhafte Existenz“ von Nane Webers Inselutopie offenbart sich auf Seite 2.
Aus: Borries, Friedrich von (2010): Klimakapseln – Überlebensbedingungen in der Katastrophe. Berlin: Suhrkamp, S. 157, 160. Ende, Michael (2004 [1960]): Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer. Stuttgart/Wien: Thienemann. Foucault, Michel (2006 [1967]): Von anderen Räumen. In: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 317–329.
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Ehrenfeld. Ein Mekka fĂźr private Utopien?
Das Editorial Illustration: Nane Weber
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Utopien haben Konjunktur, der Begriff „Utopie“ ist beliebt. Er ist im Daueraufschwung – ständig in aller Munde. Auch in Ehrenfeld, einer aktuellen Kölner Projektionsfläche für Entwicklungsmöglichkeiten. Gerade auf dieser Spielwiese manifestiert sich die Inflation unserer zeitgenössischen Utopien: Es gibt eine Menge davon. Das liegt an uns und unseren Umständen. Wir leben heute in dem Luxus, unsere Utopien rein spaßeshalber denken zu können. Sie gedeihen auf unserem Überfluss. Früher waren Utopien Kinder des Mangels. Sie waren überlebensnotwendig, denn ohne sie im Kopf gab es kein Morgen. Sie hielten her für die Gemeinschaft, für die Identität der Generationen. Dass dies heute anders ist, sieht man im Panoptikum Ehrenfeld – und in diesem Magazin. Wie es im Stadtteil weitergeht, in welche Richtung sich dieser entwickelt, fragen sich viele. Wir uns auch. Was uns dabei aufgefallen ist: Heutige Utopien sind privat, biografisch, emotional. Sie sind zielgruppenorientiert, also nicht für jedermann. Sie beinhalten oft eher kleine denn große gesellschaftliche oder gar städtebauliche Versprechen. „Große Visionen“ werden – auf Stadtteilebene heruntergebrochen – dementsprechend konkret. Und diskutabel. Denn des einen Utopie ist des anderen Dystopie (Interstella 50825, S. 82). Wenn die
Bäume des einen Nachbarn in den Himmel wachsen, könnte es sein, dass es für den anderen ziemlich schattig wird. Mitten auf der Insel Ehrenfeld purzelten uns die Utopien entgegen: verkauft, versprochen, getarnt als Heilsversprechen, als Ziel formuliert und einander abgejagt. Für ehrenfelder #2 benutzen wir sie: als Idee, Indikator, Navigator, Störer, Simulator. Nichts gegen eure Utopien. Aber definiert ernsthaft und laut, wem mit ihnen gedient werden soll! Wer vertritt wessen Interessen in diesem Stadtteil, wer befördert das tatsächliche Gemeinwohl? Am Ende mussten wir es uns mal aufschreiben. Wir haben versucht, „Diversity“ ernst zu nehmen und unterschiedliche Akteure zum Thema Helios-Gelände abgebildet (Quo vadis, Helios? S. 32). Wir haben versucht, verschiedene Blickarten auf den Stadtteil zu spiegeln (… und was wir dort fanden, S. 58) und Gedankenausflüge auch dorthin zu unternehmen, wo die Utopie geboren wird (Absturz mit Zeitmaschine, S. 88). Wir haben versucht, uns nicht zum Gärtner irgendeines Gartens machen zu lassen, aber mit verschiedenen Paradiesgärtnern gesprochen (Wahre Utopien, S. 16). Dabei haben wir häufig feststellen müssen: Ehrenfeld ist auch herrlich dystopisch – weil sich hier viele tummeln, die sich um die utopischen Befindlichkeiten ihrer Mitbürger nicht die Bohne kümmern.
Der Text zu den Heilsversprechen von Einkaufszentren (Shoppen in Utopia, S. 10), der Appell an die Wahrnehmung unserer Handlungsspielräume (Ehrenfeld gehört dir, S. 40), die Analyse tatsächlicher Ehrenfelder Fakten (Bricht in Ehrenfeld der Wohlstand aus? S. 48), der Bericht zur Schließung der Hauptschulen (Der letzte Gong, S. 28) und viele, viele andere haben ehrenfelder #2 auf 112 Seiten zu einem Kaleidoskop werden lassen, ganz im Sinne unseres Selbstverständnisses: Auch wir sind Teil des großen (Gentrifizierungs-)Theaters, genauso wie dieses Magazin. Wir wollen das Leben um uns herum nicht lediglich geschehen lassen, sondern immer auch versuchen zu wissen, wie es sich genau zugetragen hat. Deshalb hat sich das nunmehr zweijährige BeobachterDasein gelohnt. „Nicht utopisch: ehrenfelder #2“ – So posaunten wir selbst seit Mitte 2010, denn auch wir träumen unsere Mikroutopien. Und jetzt ruht dein Blick auf unserer jüngsten Utopie, die damit keine mehr ist.
Prasanna Oommen, Matthias Knopp und Jessica Hoppe für die ehrenfelder-Redaktion
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Utopie Utopia braucht Raum zum Existieren! Nutzungsraum bietet die vollkommene Leere auf Seite 77.
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Inhalt Was wem wichtig ist in Ehrenfeld So lebten wir morgen Meine kostenlose Luxusutopie – nur für mich
Schwimmende Insel_01 Leben auf der Insel, der Heimat der Utopie. Und wie selbst Lummerland seine Grenzen ausdehnt.
Editorial_02 Ehrenfeld – ein Mekka für private Utopien?
Löwe, Luchs, Wölfin_06 Viele Utopien fallen einem in den Weg in Ehrenfeld. Vier davon.
Shoppen in Utopia_10 Das Heil(sversprechen) lauert hinterm Leuchtturm. Ein Beitrag von Bernd Wilberg.
Wir träumen zu viel
Arkade E_14
Das ist nichts für Verdränger
Wahre Utopien_16
Das Unbehagen in und an Ehrenfeld Wie wollen wir leben
Sieht aus wie Kalk, soll aber mal Ehrenfeld sein. Ein Knotenpunkt in der Dauerverplanung.
Vier Orte, die man finden sollte. Entdeckt und beschrieben von Christiane Martin.
Superjeilezick vorbei?_24 Brings über sich, Ehrenfeld, gestern und heute.
Der letzte Gong_28 Ehrenfeld schließt seine Hauptschulen – und verliert mehr als eine Schulform. Ein Bericht von Helmut Frangenberg.
Quo vadis, Helios?_32 Der Kampf um ein Filetstück – und wer darin wessen Interessen verfolgt.
Ehrenfeld im 21. Jahrhundert_34 Manche Dinge ändern sich nie. Eine Betrachtung von damals.
Facelifting_37 Da gibt es weder Feedback noch Response, keinen Nicht-Ort oder Schicki-Micki, auch keine Teaser oder etwa Kreatope oder Shoppen oder Ficken, auch keine Glückseligkeit.
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Eine Verschlimmbesserung? Ingo Gräbner muss sich sehr wundern.
Die wahren Utopisten sind unsichtbar_38 Und haben uns doch verraten, wo sie sich verstecken.
Schöne bunte Konsumwelt_39
Schöner Beten in Ehrenfeld_98
Die drei Konsum-Säulen der Venloer Straße.
Wie richtet man eine kölsche Moschee ein?
Ehrenfeld gehört dir – dann hol es dir auch!_40
Yesterday’s Future_104
Eine Anleitung zum Zugreifen von Dorothea Hohengarten und Katharina Wolff.
Schirme und Schlaf_46 Zitternde Straßen, Goldkettchen, Mercedes und Mösen auf der Venloer. Von Adrian Kasnitz.
Breitbandkater ohne Fox aber mit Voids, 303ern und kurzen Wegen auf der Suche nach dem Utopischen.
Ehrenfeld? Zum Selberbasteln!_108 Auch wir können basteln. Für usszeschnigge.
Die Gesichter hinter ef #2_110
Wer dieses Mal dabei war.
Bricht in Ehrenfeld der Wohlstand aus?_48 Knallharte Fakten eines Wandels. Vorgerechnet von Thilo Großer.
Impressum_112 Danke!
… und was wir dort fanden_58 mit Jule Steffen und Matthias Schmidt hinter den Spiegeln. Alice im Ehrenfeld.
Mission: Mischen!_68 Anti-Gentrifizierer unter Polizeischutz?
Die vollkommene Leere_72 Worte, die weh tun.
Das Ausmaß der Utopie_78 Eine Straße für alle und alles.
Veedeltektonik_80 Kein Witz – Utopie! Ehrenfeld am Äquator.
Interstella 50825_82 Wie lange die Apokalypse noch auf sich warten lässt, wissen wir auch nicht.
Absturz mit Zeitmaschine_88 Ein Trip durch die Kondensstreifen Ehrenfelds, mit Aski Ayran Elber.
Land unter hinter der Moschee_94 Ehrenfelder Kickern steht das Wasser bis zum Hals.
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Schon wieder Fliegen Lat. 50.94905, Long. 6.912492 Die Mikroutopie Fliegen findet sich in vielen Utopien. Heute sind wir dieser Utopie wieder einen Schritt näher gekommen. Dabei haben wir sie angekratzt. So wie das Kind, das während des Eis-Schleckens weint. Es weint, weil das Eis zeitgleich mit dem Genuss, mit jeder Glück und Zerstörung bringenden Zungenberührung, weniger wird. So wenig, wie das Eis ohne die entsprechende Region oder Technik auf Dauer existiert, kann die Utopie an sich existieren. Doch genau das ist unser Wunsch und Gedanke. In Utopien Gedachtes denken wir ausschließlich, um diesen Nicht-Ort insgeheim zu erschaffen. Aber die Nährlösung für die Utopie liegt im Hier und Jetzt – dort, wo sich nun endlich auch jeder Laie in die Lüfte erhebt, per „AR.Drone“. Durch sie reichen nun immerhin unsere Augen in Echtzeit für 50 Meter in den Himmel: Kinderleicht regeln wir mit dem Smartphone über Funk vier Minipropeller, in deren Mitte – einem bald gebärendem Spinnenbauch gleich – die Schaltzentrale und unsere beiden Augen sitzen. Eins nach vorne, eins nach unten blickend. Und was sie erfassen, sehen auch wir live auf dem Bildschirm unseres Phones – selbst den im Innenhof verrottenden Hubschrauber. Foto und Text: Matthias Knopp
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Wilde Schafsjagd Lat. 50.95031, Long. 6.910731 Lat. 50.95034, Long. 6.907581 Lat. 50.94940, Long. 6.912809 Lat. 50.94931, Long. 6.912978 Lat. 50.95037, Long. 6.910134 Lat. 50.95123, Long. 6.906228 Lat. 50.95012, Long. 6.907979 Lat. 50. 95031, Long. 6.908966 Lat. 50.95042, Long. 6.9101 Lat. 50.95104, Long. 6.907235 Lat. 50.95034, Long. 6.908552 Lat. 50.95041, Long. 6.909634 Lat. 50.95032, Long. 6.908924 … „Aber auch unser dritter und vierter Tag in Sapporo verstrich ergebnislos. Wir standen um acht Uhr auf, frühstückten, trennten uns, gingen unseren Aufgaben nach, tauschten beim Abendessen Informationen aus, kehrten ins Hotel zurück, hatten Geschlechtsverkehr und schliefen. Ich warf die alten Tennisschuhe weg, kaufte neue Mokassins und zeigte Hunderten von Leuten das Schaffoto. Meine Freundin erstellte mit Hilfe der Informationen aus Ämtern und Bibliotheken eine lange Liste von Schafzüchtern und rief die Leute der Reihe nach an. Das Ergebnis war gleich Null. Niemand erkannte den Berg, und keiner der Züchter wußte etwas über ein Schaf mit einem sternförmigen Mal auf dem Rücken. Ein alter Mann meinte, einen solchen Berg vor dem Krieg in Südsachalin gesehen zu haben, aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß Ratte bis Sachalin gekommen war. Von Sachalin aus kann man keine Eilbriefe nach Tokyo schicken.“ Textauszug aus Murakami (1997): Wilde Schafsjagd. Frankfurt am Main: suhrkamp Sticker: Künstlerin/Künstler unbekannt1 Foto: Matthias Knopp 1
ie gestickerten Doppelherz-Schafe tauchen in Matthias D Knopps Wahrnehmung seit ungefähr März 2011 vermehrt in Köln-Ehrenfeld auf (einer Vermisstenanzeige gleich; zur Streuung siehe Koordinaten oben). Da die Sticker bewusst in der Öffentlichkeit platziert werden, gehen wir davon aus, dass eine Anschlusskommunikation darüber – so, wie sie hier in Form des Textes und Fotoabdrucks und im Kurzfilm (siehe scannbaren Barcode) stattfindet – toleriert wird. Gefragt haben wir den Künstler/die Künstlerin aber nicht – wie auch.
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170, 7461 Lat. 50.94926, Long. 6.910686 Die Internetsuche nach „Mr. Oizo + Utopie“ liefert als Top-Ergebnis den Link auf den Wikipedia-Eintrag Jackson and his Computer Band. Bekanntheit erlangte dieses Musikprojekt von Jackson Fourgeaud besonders durch das Album Smash, auf welchem sich unter anderem die Single Utopia befindet. Am Album wirkte auch der französische Elektro-Musiker Mr. Oizo mit ([m sjø wazo] mit vollem Namen Quentin Dupieux). Dessen Track Flat Beat (1999) wurde über drei Millionen Mal verkauft. Protagonist des dazugehörigen Videos war Flat Eric, eine Kreatur aus dem Creature Shop von Jim Henson (Muppets, Fraggles). In den Levi’s-Werbespots war Flat zusammen mit seinem Fahrer Angel in Kalifornien unterwegs. Sein Leben beendete er in der Lichtstraße. Track „Utopia“, jeweils „KÜNSTLER (ALBUM)“: Brendan Perry (Ark), Cáceres (Utopía), Candy Coated Chaos (Utopia Single), Cari Lekebusch, Collide (Two Headed Monster), Footprintz (Utopia-Single), Fukkk Offf (Remix is King), Gigi (Gold & Wax), Goldfrapp (Felt Mountain), Intuitiv (All I See), Jackson and His Computer Band (Smash), Jingo de Lunch (The Independent Years), Karl-Heinz Schäfer & Arabian (Dirty French Psychedelics), Mantus (Chronik), Markscheider Kunst (Utopia), Matenrou Opera (Anomie), Moskwa TV (Blue Planet), Nena (Feuer und Flamme), Oliver Town, Óscar Barila (Deep & Glorious, Vol. Blue), Paul Leoric, Pauseland (Palindrome), Phillip Boa and the Voodooclub (Boaphenia, Remastered), Soup (Children of E.L.B.), Tom Gerstens’ G Plus Ensemble (Utopia), Umek (Utopia EP), etc. 1
ie Suche im internationalen Musikportal Beatport findet D 170 Tracks mit dem Titel Utopia; im Metadatum von 746 Tracks ist das Wort enthalten.
Foto und Text: Matthias Knopp
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Löwe, Luchsin, Wolf Lat. 50.9497, Long. 6.8973 Denkst du an Utopie, denkst du immer auch an ScienceFiction, und vice versa – die Abgrenzung der beiden Genres verschafft erhebliche Mühen. Dietmar Dath, Autor von Die Abschaffung der Arten – hält es mit George Orwell (Farm der Tiere), teils auch mit Douglas Adams (Per Anhalter durch die Galaxis | So Long, and Thanks For All the Fish): „Das Wort »Utopie« liegt mir nicht; es heißt ja soviel wie »nirgends« – was nirgends passiert, ist uninteressant; jedenfalls uninteressanter als alles, was in Ost-Texas, Anatolien oder Sachsen passiert. Ich mag an ScienceFiction, auch an derjenigen, die sich utopisch nennt oder als utopisch mißversteht (obwohl sie in Wirklichkeit ganz schön topisch ist), unter anderem, daß sie sagt: Dies ist nicht nirgends, dies ist übermorgen. Damit zwingt sie dazu, sich ganz anders für die gebotenen Schaustücke zu interessieren, als wenn es hieße: Mein Gedankenspiel hänge ich in den luftleeren Raum. Freilich gibt es, das Gesagte vorausgesetzt, schöne utopische Bücher, auch kluge: »Neu-Atlantis« von Bacon zum Beispiel, oder die drei »Golden Age«-Bände von John C. Wright. Aber die werden immer regiert vom vorausweisenden, prognostischen Zug, ihr eher atmosphärisches »Nirgendwo« ist im Grunde ein bißchen unaufrichtig, Scheineskapismus, verkappte Programmatik.“ Textauszug aus Dath (2008): www.cyrusgolden.de/ Rev. 2011-06-25 Foto und Einleitung hier: Matthias Knopp
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Arcadia
Ich kann mir beispielsweise eine Kombination aus Universität oder sogar Kirche und Mall vorstellen. Rem Koolhaas
We are buying and selling your history How we go about it is no mystery We check it with the city Then change the law Are you looking forward? Now you want some more Pet Shop Boys, Shopping
Shoppen in Utopia Wer nach Utopien für Ehrenfeld sucht, muss sich nicht weiter mühen: Mit den Plänen für ein Shoppingcenter liegt die großartigste Utopie bereits vor. Text: Bernd Wilberg, Fotos: mfi/Rickes Pixelio, Illustration: Nane Weber
I Wenn die Alten Utopien entwarfen, berichteten sie immer von fernen Inseln und Ländern, die nie zuvor jemand betreten hatte. Nur dort, an einem dieser Nicht-Orte, ließ sich ihre bessere Welt erbauen. Um gedanklich weit ausgreifen zu können, musste man all das fliehen, was mit Geschichte behaftet war: Thomas Morus’ „Utopia“ (1516), der „Sonnenstaat“ (1602) des Tommaso Campanella oder auch die „Insel Felsenburg“ (1731) von Johann Gottfried Schnabel. Heute muss keine Terra incognita erst urbar gemacht werden, um Utopia errichten zu können. Die frohe Botschaft lautet: Utopia kommt in unsere Städte! Als Shoppingcenter, als Einkaufsparadies. Hier kulminieren die utopischen Sehnsüchte der Jahrhunderte. Das Center ist Zentrum und Speicher des gesamten utopischen Vorrats. Es ist Sebastian Brants Schlaraffenland ebenso wie Elysium, Ort der Seligen in der griechischen Sage. Es ist die perfekte Stadt in der Stadt, und vielleicht ist das Einkaufsparadies sogar Platons ideale „Politeia“ – kondensiert auf die gerade noch zulässige Bruttogeschossfläche und mit ausreichend Parkplätzen versehen.
II Die lange Serie der gescheiterten utopischen Planstädte – von Pienza in der Toskana, wo im 15. Jahrhundert Papst Pius II. sein christliches Utopia errichten wollte, bis zur brasilianischen Hauptstadt Brasilia, die man fortschrittstrunken in den geschichtslosen
Urwald setzte – sie findet im modernen Shoppingcenter ihr glückliches Ende. Denn dort ist nun tatsächlich alles an seinem ihm zugewiesenen Platz. Die Menschen werden durch Architektur so geleitet, dass niemand vom rechten Weg abkommt; sie tun genau das, was sie tun sollen, und kein Regime befehligt sie. Es ergibt sich alles ganz von selbst. Das Einkaufsparadies ist das Himmlische Jerusalem, es ist die perfekte Planstadt. Nicht irgendwo hinter den Wolken, sondern gleich in unserer Nachbarschaft.
III Émile Zola beschreibt das Kaufhaus in seinem Roman „Au Bonheur des Dames“ (1883) als Metropole en miniature. Ein geschlossenes System aus Eisen und Glas und Marmor, in die Höhe geschichtet zu mehreren Stockwerken, befüllt mit einem schier endlosen Vorrat an Waren. Doch bildet all dies lediglich die materielle Rahmung für eine viel größere Idee: den unablässigen Tausch von Waren gegen Geld. Eine „mit Hochdruck arbeitende Maschine“, befeuert von den sich darin versammelnden Menschen. Während aber das Warenhaus des 19. Jahrhunderts noch eine Phantasmagorie der Mechanik ist, verkündet man uns heute Größeres. In den Worten von mfi, jenem Projektentwickler, der in einer Trinität mit der Bauwens-Gruppe und der Grundstücksentwicklungsgesellschaft GEG in Ehrenfeld seine Utopie errichten will, ist das Shoppingcenter kein seelenloses Räderwerk mehr, seine Routinen produzieren heute vielmehr »Emotion«. So kommt der Geist in die Maschine.
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abgerissen und ersetzt durch mehr Räume für mehr und tiefre Vergeßlichkeiten. Günter Kunert, Nachrichten aus Utopia: Schlupf und Winkel
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Diese utopischen Einkaufsparadiese tauften ihre Planer zunächst „Passagen“, später „Arcaden“, dann „Höfe“. Nun heißen sie „Quartiere“ – die echten Quartiere müssen die visionären Projektentwickler zuvor abreißen, um die neuen, die optimierten errichten zu können. Dort, wo zuvor ein Stück Ehrenfeld war, entsteht nun das „Helios-Quartier“. Es kann keinen besseren Namen für eine utopische Stadt in der Stadt geben: Gewidmet dem Gott der Sonne, ist das „Helios-Quartier“ ein heiliger Bezirk. Auch insofern, als wir ja in Erfahrung der Heiligkeit stets einer unendlichen Fülle begegnen, die uns ganz und gar einnimmt. So ist es auch im göttlichen Einkaufsparadies auf Erden. Mysterium tremendum – davor erschauern wir.
Die utopischen Broschüren von mfi künden uns davon. Wir sehen Männer, Frauen und Kinder als verzückte Bewohner einer Neuen Welt. Im Einkaufsparadies, dieser himmlischen Stadt, ist die Freude – und das eben ist die schwindelerregende Utopie – endlos und ewig. Die mfi-Broschüren zeigen uns die Bilder der Neuen Menschen, wie sie all die Waren erstehen. Schaut auf diese Bilder! Wie antike Statuen wirken diese Menschen in den Computersimulationen. Stolz sind sie, und majestätisch biegen sie sich vor Freude. Ist es nicht wundersam, dass all diese mit Waren Beladenen unter ihrer Last nicht keuchen, nicht ächzen?
VI Sind wir als diese Neuen Menschen erst einmal auf den Weg des Shoppingcenters gelangt, flanieren wir endlich auf der Mall, dann ist alles nur noch Weggabelung, und doch fühlen wir uns aufgehoben. Wir beginnen dann zu ahnen, dass wir, ganz gleich wohin wir uns wenden, stets nur den richtigen Weg wählen können – weil eben jeder Weg in die richtige Richtung führt. Der Determinismus der Architektur und unsere Willensfreiheit, sie fallen in eins. Denn eine prästabilierte Harmonie ist in das Shoppingcenter eingewoben, und unsere Seelen werden sich in feinster Übereinstimmung mit der Shoppingmall und ihrem Besatz befinden. Litten wir nicht Hunger? Oh ja. Doch wir bemerken es erst, wenn wir bei „Nordsee“ Platz genommen haben. Dürstete uns nicht? Ach! Wir spüren es erst, wenn wir bei „Starbucks“ in den Sesseln versunken sind! Und wollten wir uns nicht hier bei „H&M“ die alten Kleider abstreifen und uns neue anlegen? Unseren Geist in der Bibliothek von „Thalia“ einstimmen? Durch die sagenhaften Flachbildschirme von „Media Markt“ in die Ferne sehen? Ja, sicher. Ja, sicher. Das wollten wir, doch wussten wir es noch nicht.
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Tempel 1.700 m2 Verkaufsfläche gibt’s bald im neuen Designtempel Moschee. Seite 98
VII Shopping, die Eventisierung des Handels, ist ein magischer, ein religiöser Akt. Wir wären unverständig, bezeichneten wir den Konsum als Religion des Materialismus. Vielmehr transzendiert der Konsum das Weltliche. Und aus Eisen und Glas und Marmor, den Bauteilen der Kaufhaus-Maschine des 19. Jahrhunderts, wird hier „Emotion“, Glückseligkeit. Ja, doch: Das Shoppingcenter ist ein Tempel. Und was für einer! Ein Tempel, in dem nicht wir zu opfern haben; es ist vielmehr jener letzte und größte und herrlichste Tempel – wo man uns Opfer darbringt. Wunder geschehen. Ohne erkennbare Veränderung entnehmen wir unsere Plastikkarten den Lesegeräten und haben unseren Besitz gemehrt! Die Verwandlung von Plastik in ein Paar neuer Schuhe, in einen DVD-Rekorder, in ein Fitnessgerät, eine „Emotion“.
VIII Und wird das „Helios-Quartier“ nicht endlich auch Platons Politeia erschaffen – jenen kühnen Entwurf der gerechten Gesellschaft? Folgt nicht alles hier der platonischen Dreiteilung der Menschen nach ihrem Wesen? Sind die Verkäuferinnen und Verkäufer des Shoppingcenters denn nicht der Nährstand? Sind die Aufseher denn nicht die Wächter? Und sind nicht zu guter Letzt wir, die wir eintreten, die Herrscher und Philosophenkönige? Ist denn etwa nicht der Kunde König? So steht es doch geschrieben.
IX Die Shoppingcenter sind auch jene Märkte, die Thomas Morus in den utopischen Städten vorsieht. Vier davon gibt es in jeder Stadt, eines in jedem Viertel, wir dürfen sagen: in jedem „Quartier“. Die Einwohner von Morus’ Utopia bekommen dort alles, was sie verlangen. So auch wir, wenn wir die Shoppingcenter betreten.
Doch gibt es welche, die bemängeln die Gleichförmigkeit der Shoppingcenter: die immer gleiche Architektur, der immer gleiche Besatz an Waren. Aber ist der Utopie die Aufhebung aller Unterschiede nicht gerade wesentlich? Muss daher nicht jede Utopie Gleichförmigkeit schaffen? Denn Variationen des Bestmöglichen sind zwangsläufig unvollkommen. In Morus’ Utopia gibt es 54 Städte, und alle sind sie gleich. Der Projektentwickler mfi hat bereits fast halb so viele Shoppingcenter in Deutschland errichtet. Es ist nicht mehr weit, seid bereit!
X Die Losungen von mfi, in zahlreichen Imagebroschüren niedergeschrieben, sind Beschwörungen. Es heißt: „Wir machen Ihre Sache zu unserer.“ Es heißt: „Nur Gemeinsamkeit schafft Großes.“ Und auch: „Veränderungen sind wichtig – wir wissen auch welche!“ Ob Preissenkung auf alles außer Tiernahrung, ob zinslose Ratenzahlung für Artikel ab 200 Euro. Wir verfallen entweder in Glossolalie – Schau hier! Sieh dort! – oder wir verstummen angesichts der Pracht. Wir versinken dann gleichsam im Shoppingcenter. Wir sind im Zentrum der Herrlichkeit angekommen, wir sind geborgen in der Mall wie in einem Uterus. Und die Welt da draußen, der „ergänzende städtische Raum“, wie es bei mfi heißt, er kommt uns dann ganz unwirklich vor. Dessen Betriebsamkeit, dessen Verheißungen – nichts weiter als ein fahler Abglanz der Idee des Shoppingcenters.
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> ,das Heil schlechthin‘ – wir wussten nur noch nicht davon. Seite 10
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ehrenfelder #1 Darin Seite 38–39, 40–43, 47, 78–79, sowie separat „Powercorner Big E“ – der extra Bastelbogen.
Arkade E Text: Matthias Knopp, Visualisierung: Dennis Kluth
Die Kreuzung Venloer Str./Gürtel ist längst prominent. Prominent, da sich z. B. schon diverse Studenten auf sie stürzten, sie zigmal neu geplant wurde und sie in ehrenfelder #1 bereits so zahlreich eine Rolle spielt. Aber vor allem ist sie es, weil sich unserer Auffassung nach viele Utopien an sie schmiegen. Die Utopie schnellen Reisens, entwickelt beim Warten auf die Bahn (Wie wollen wir uns bewegen?). Die Utopie einer anderen Arbeitswelt (Womit und wie wollen wir unser Brot verdienen?). Die Utopie eines anderen Miteinanders (Wie lassen wir echte Multikulturalität entstehen?). Die Utopie einer anderen Nachtclubkultur (Wir wollen viele „Grüne Wege“!?). Die Utopie eines anderen Einkaufens ( ). Letztere ist es, die uns momentan als ‚das Heil schlechthin‘ verkauft wird, – uns im Juli 2011 vielleicht schon längst verkauft sein wird. Da wir hoffen, dass es in Ehrenfeld nicht wie in Kalk (ausschließlich bezogen auf die „Köln Arcaden“, alles andere sei dahingestellt) endet, hier unsere bildhafte Dystopie von einem Ehrenfeld inklusive Arkaden. Textlich bleibt aber vorerst alles beim Alten:
Blicke ich von meinem Standpunkt aus – vor dem Restaurant mit den beiden goldenen Bögen – geradeaus, sehe ich hinten rechts das lustige rosa Haus, in dem sich im ersten Stock das „Café Dido“ befindet (da müsste man mal eine Party feiern), unten der Dönerladen, der, wie ich jetzt zufällig sah, zu einer Kette gehört. Links davon auf derselben Straßenseite schließt sich ein grauer Fünfgeschosser an, er wirkt, als hätte man ihn längs halbiert und nur die linke Seite (die mit dem Herzen) bestehen lassen. Dahinter im Erdgeschoss wird’s mir schummrig, dann auch noch die Wache. (Meinen liebsten Leuchtturm sieht man von hier aus selbst ohne Arkaden nicht.) Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, der sich unter das Gebäude duckende türkische Gemüsehändler, – reines Kakaopulver haben sie nicht, dafür feinste Pinienkerne und reinste Petersilie. Und wieder vorne links angelangt, dieser ominöse „Matratzenmarkt Concord“ – wie die Pest in der ganzen Stadt – inklusive Außenwerbung für die beiden so gar nicht Utopischen, Express und Kölner Stadt-Anzeiger. Davor der U-Bahn-Steig, der so merkwürdig verloren wirkt (Meinte Koolhaas solche Nicht-Orte mit seinem ‚Junkspace‘?). Und quer zu mir? Der Gürtel. Ob Speck oder Karate, man weiß es nicht und freut sich drüber. Links geht’s nach Sülz, rechts eigentlich an den großen Fluss, würde der Gürtel nicht einfach irgendwann so unversehens im Betonspaghetti-Wirrwarr enden. Und hinter mir die Stadt.
Wahre Utopien
Es gibt sie in Ehrenfeld zahlreich, die Utopien, die keine Wunschvorstellung en sind, sondern „Unorte“ im wörtlichen Sinne der Utopie, aus dem Altgriechisch en stammend: „ou“ für „nicht“ und „topos“ für „Ort“. Sie sind unvermutet und fallen aus dem Raum, aus der Umgebung, aus dem Rahmen. Sie sind schräg und utopis ch, aber wirklich. Wo genau sie liegen, wird nicht verraten; wer suchen mag, wird sie finden. Text: Christiane Martin, Fotos: Jörg Dicke, Stefan Flach
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soziale Gefüge In Ehrenfelds Schrebergärten von Gentrifizierung keine Spur. Und vor dem Gartentor? Mehr zum Thema auf Seite 48.
Zwischen Gartenzwerg-Idyll und urbaner Landwirtschaft Der Eingang zum Paradies liegt an einer der verkehrsreichsten Straßen Ehrenfe lds. Nur ein paar Meter ist hier die Häuserzeile unterbrochen und ein grünes Metalltor lässt kaum ahnen, was sich dahinter verbirgt: eine Frischluftoase, wenige Hektar groß und aufgeteilt in 60 Kleingärten. Im Schatten von Herkuleshochhaus und Colonius-Fernsehturm bauen hier die einen traditionell Karotten, Kohl und Kartoffeln an, die anderen progressiver Zitronenthymian und Zucchini. Jeder auf seiner Parzelle: der frühere Gasinstallateur neben der Journalistin und dem Lehrer, der Sozialpädagoge mit Kleinkind neben dem Rentnerehepaar. Fast könnte man eine Gentrifizierung des Gartenzwerg-Idylls vermuten. Doch weder steigen die Preise – die Pacht kostet seit jeher 49 Cent pro Quadratmeter im Jahr – noch gerät das soziale Gefüge in eine Schiefla ge. Man akzeptiert sich, streitet friedlich und diskutiert über hüfthohe Hainbuchenhecken hinweg die Vorzüge von Biodünger oder Blaukornchemie. Richtig zum Unort wird der Kleingarten dann am Abend, wenn die umstehe nden Wohnhäuser mit ihren aufflammenden Lichtern hinter den Gardinen immer näher rücken, der von außen eindringende Stadtlärm immer noch nicht abebbt – und dennoch oder gerade wegen dieser Diskrepanz zum „Draußen“ eine unbeschreibliche Ruhe einkehrt. Die alteingesessenen Nachbarn haben sich nach Hause begeben zu Abendbrot und TV-Programm, die fußballs pielenden Kinder liegen im Bett. Und während man die frische Ernte des Tages verspeist, die Füße auf den Gartentisch legt und der Amsel beim Baden zuschaut, wird der Tag zu einem der glücklich sten des Jahres. Immer wieder.
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Feierabenderholung für Js kölsche Kraate und hippe D Wer sich zwischen den Fußball- und Tennisplätzen ganz in der Nähe eine s neu entstehenden Ehrenfelder Gotteshauses auf die etwa s abseits liegenden Pfade verirrt, stöß t auf ein skurriles Kleinod. Dicht von Bäumen und Busc hwerk umgeben liegt hier ein Miniatu rgolfplatz. 18 Bahnen à 6 Meter verbergen sich zwischen Bierbänken, Rosen in Pflanzkübeln und einem kleinen Teich. Eine heimliche Idylle – da sind sich die Betreiber vom Kölner Miniatu rgolf Club e. V. einig, und damit das so bleibt, wollen sie nicht allzu viel Werbung machen für ihre Sportanlage im Kleinformat. Hier werden Turniere auf Landesliga-Ebene ausgetragen, Büro gemeinschaften aus der Umgebung genießen ihren Feierabend, Vereinsmitglieder feiern Geburtstagspartys, zufällig vorbeikommende Spaziergänger schauen neugierig herein. Man braucht nicht viel fürs Amüsement: einen Schläger, einen Ball und ein bisschen Geschick. Vier Run den sind ein Spiel, und es gewinnt, wer am Ende die wen igsten Schläge braucht. Dabei wird Köls ch getrunken, geraucht und debattiert. Und mitten drin steht Jupp – der Platzwart. Seit einig en Jahren kümmert der pensionierte Dachdeck er sich ehrenamtlich um den Platz und gehört zum Inventar so wie die Vereinsbaracke oder der überdachte Freisitz. Mit Miniatu rgolf hatte er früher „nichts am Hut“, aber jetzt findet er es spannend. „Gibt immer was zu tun hier und zu gucken.“ Das Publikum sei ja sehr gem ischt. „Das sind die Kraate aus der Eckk neipe genauso wie die DJs aus den neuen Clubs.“ Und so wird auch hier der Ort zum Unort, weil er ist, wie er ist: unsichtbar, unbekannt, unvermu tet – mit einer überraschend bunten Klientel.
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Jenseits der Autobahn Auf den ersten Blick ist hier nichts unerwartet: ein 18 Hektar großer Park in der Großstadt, symmetrisch angelegt nach barockem Vorbild mit Bäumen, Wiesen, Pflanzbeeten und einem Teich. Doch auf den zweiten Blick offenbart sich die Utopie, der Unort, denn der Park hat eine Seele – geschaffen durch einen kleinen Biergarten mit Bootsverleih, der seit 15 Jahren von Petra und Thomas betrieben wird. Sie selbst nennen diesen Ort „Das lauschige Plätzchen an der Autobahn“ und treffen damit seine Skurrilität exakt. Denn ein Teil der Faszination liegt auch hier im Kontrast: Während junge Eltern auf der schmalen Terrasse Berliner Weiße schlürfen – rot oder grün – und der Nachwuchs über die Wiese tollt oder sich im Ruderboot übers Wasser treiben lässt, rauscht direkt nebenan die Autobahn. Der idyllischen Atmosphäre scheint das keinen Abbruch zu tun. Viele verbringen auf den grün gestrichenen Bierbänken ganze Nachmittage und Abende. Man sitzt, trinkt, quatscht, trifft sich. Wer will, bekommt auch etwas zu essen, zubereitet in einem winzigen Häuschen, das mit seinen roten Fensterläden und dem rankenden Knöterich zum verwunschenen Charme beiträgt. Abends, wenn Fledermäuse über das Wasser jagen, glimmen bunte Lichter auf und am Wochenende gibt es hier echte Geheimtipp-Partys: von Lagerfeuer und Mitmach-Musik bis zu „Beatz at the beach“. Verschiedene DJs legen auf und die Tanzfläche direkt am Wasser füllt sich schnell. Von Weitem sieht die Szenerie exotisch aus; man denkt eher an eine Strandparty in Brasilien als an einen Kölner Park. Doch auch zu später Stunde holt einen der nicht abreißende Lärm der Autos in die Realität zurück. Aber das macht nichts, denn die zeigt: Es gibt schräge Orte direkt vor der eigenen Haustüre.
Rein adminisP.S. Der beschriebene Unort liegt genaugenommen nicht in Ehrenfeld. er von ihnen wird Genutzt sich. für ihn Nachbarn trativ beanspruchen die Nippeser Im Herzen, wegen seiner marginalen Lage aber eher selten, sodass man sagen kann: also rein emotional, gehört dieser Park den Ehrenfeldern.
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Im Schatten des Turms von Sansibar h um das Wahrzeichen Eh Viele Legenden ranken sic von g we it chtturm, der we renfelds, einen alten Leu den Himmel ragt. War er in ter Me jedem Wasser 44 00 hier ansässigen Leucht ein Werbegag der um 19 h klic wir er r wa ich. Oder mittelfirma? Wahrscheinl s obsolet wurde, nachdem wa , mt tim bes für Sansibar n els an die Briten abgetrete angeblich Teile des Archip hren Helgoland? Eher unwa wurden – im Tausch geg te h erzählt diese Geschich scheinlich. Aber Dietric afenh rch st gut zu dem mä am liebsten und sie pas er ein – et 70-Jährige arbeit . ten Ort, an dem der über s an eine Mauer schmiegt rm Tu des sich im Schatten vern me blu nen Son d kleinen Schreinerei, die un üppig: Geranien or t-T tat rks We m t vor es sitz nenschein Im Sommer blüht e Unort-Oase und bei Son ein in r hie che bra , rie sen ust wandeln die Ind e, Pause vom Sägen, Frä tten drin. Eine Tasse Kaffe Andrea, die Inhaberin, mi s Leben hat die heute keit. Ihr ganzes bisherige lich enk chd Na d un – Schrauben denkmalgeschützten ser Nische, umgeben von die in in ner rei Sch e alt 40 Jahre oren, wuchs sie unter In der Nachbarschaft geb . cht bra ver , ten bau rie Indust Laufkundschaft, die sich auf und lebt heute von der ar“ sib San von rm „Tu dem oder Fenster bauen lässt. Möbelstücke restaurieren ihr bei d esun irrt ver n rhi hie tz für die Ideen eines Inv das Feld räumen, um Pla e ein r hie d un hat t Doch bald schon soll sie de gekauf ganze umgebende Gelän ler vie nd sta der Wi e tors zu machen, der das nig n der zor l. Auch wenn sich dagege EinShopping Mall bauen wil twickelt“ werden und ob „en as etw l sol r Hie : iss gew ist s anein wo t, ft rden in Zukun Ehrenfelder reg – Andrea und Dietrich we ng auu beb lasch dtp Mi r Sta ode haben, ist für kaufscenter , was sie hier geschaffen das nn De it n. Ze sse auf mü n ort ner Un gilt. Ein ders schrei oder sogar zu beseitigen nen ord zu es den s, uch ner Wildw d. l eine Legende bleiben wir also, von dem nicht einma
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woanders schreinern Vielleicht kommt es auch anders: Die Frage des Bleibens der jetzigen Nutzer wird derzeit politisch diskutiert. Seite 34
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Superjeilezick
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Peter und Stefan Brings können von Ehrenfeld ein Lied singen: Sie sind hier geboren und aufgewachsen, zur Schule gegangen und um die Häuser gezogen. Sie haben hier ihre Songs geschrieben und geprobt. Sind im Veedel zig Mal umgezogen und bezeichnen Ehrenfeld beide als Heimat. Obwohl einer von ihnen inzwischen in Nippes wohnt und der andere im Einfamilienhäuschen am Rand von Neuehrenfeld. Mit uns sprachen die Brüder über ihr Ehrenfeld von damals und heute, über das, was sie sich für Ehrenfeld wünschen und darüber, ob früher wirklich alles besser war. Interview/Text: Jessica Hoppe, Stefan Flach; Fotos: Stefan Flach
ehrenfelder: Ist Ehrenfeld gut fürs Image?
Stefan Brings: Im Moment auf jeden Fall. Auf den Sitzungen und in den Konzerten merken wir das: Ehrenfeld hat gerade ein ziemlich gutes Image – aus Ehrenfeld zu kommen, finden die Leute cool. Das ist was anderes als wenn du sagst, du kommst aus der Südstadt. Das ganze Bap-Ding ist irgendwie abgefrühstückt. Da war ja lange Zeit die Sau los, am Wochenende alles rappelvoll, und dann war es schlagartig vorbei. Dann kam Nippes mal eine Zeit lang ein bisschen – und jetzt ist Ehrenfeld dran. ehrenfelder: Und – zu Recht?
Stefan Brings: Na ja, Ehrenfeld ist wirklich irgendwie anders, besonders, nicht wie Nippes, Sülz oder Lindenthal. Ehrenfeld hatte schon immer so einen anarchischen Unterton, auch in den letzten 20 Jahren schon … Natürlich ist Ehrenfeld nicht die Hafenstraße in Hamburg, aber Ehrenfeld war immer cool. Ein bisschen so was kriegt jetzt gerade auch Kalk. ehrenfelder: Jetzt verändert Ehrenfeld sich gerade. Wie nehmt Ihr das wahr, als alte Ehrenfelder?
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Underground Was Stefan Brings’ Tochter freuen wird: Inzwischen macht sich die Ehrenfelder SPD für den Bestandsschutz des Lokals stark. Seite 33
Peter Brings: Das ist ’ne ganz schwierige Frage – weil es ja vor allem eine Frage des Blickwinkels ist: Zwanzigjährige sehen Ehrenfeld mit ganz anderen Augen als wir. Klar, natürlich hat sich hier sehr viel verändert. Aber das ist nun mal der Lauf der Dinge … ehrenfelder: Wie sieht dieser Lauf aus?
Peter Brings: Na ja – was hier gerade passiert, das sieht man ja auch an anderen Orten: Ein Stadtteil ist billig, deshalb kommen die alle hier her, kreative Leute und Studenten, die es sich nett machen mit dem Bisschen, was sie haben. Die bevölkern die Kneipen und Cafés, und das hat Charme. Bis es dann irgendwie hip wird. Und plötzlich wollen alle da hin, weil es so toll ist. Und dann kommen irgendwann die Spekulanten, es wird saniert – und dann sind die Arschlöcher da. Die mit dem Cabrio rumfahren und allein in einer 150-Quadratmeter-Wohnung wohnen. Aber davon gibt’s ja zum Glück nicht so viele und deshalb mache ich mir auch nicht so viele Sorgen um Ehrenfeld. Stefan Brings: Aber manches ist schon hart. Meine Tochter hat mir das mit dem Underground erzählt. Also, wenn die das wirklich abreißen, ist das so, als ob sie den Kölner Dom abreißen würden!
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„Und plötzlich wollen alle da hin, weil es so hip ist. Und dann kommen irgendwann die Spekulanten, dann wird saniert – und dann sind die Arschlöcher da.“ Peter Brings: Würde mein Leben aber nicht tangieren, ich geh ja nicht mehr ins Underground … Stefan Brings: Nein, aber dein Gefühl fürs Viertel würde es tangieren! Du musst mal freitags oder samstags um zwei Uhr nachts da langfahren, was da los ist in der Ecke. Für die ganzen neuen Läden da waren das Underground und die Live Music Hall die Keimzelle. Peter Brings: Klar, wäre es schrecklich, wenn so was einfach verschwindet, aber ich denke trotzdem: Es ist einfach der Lauf der Dinge. ehrenfelder: Und das muss man nicht per se kritisch sehen?
Peter Brings: Nein, finde ich nicht. Wenn ich zum Beispiel an andere Ecken in Köln denke, nimm mal den Wiener Platz in Mülheim oder die ganzen alten Sozialwohnungen, wie hier am Maarweg, dann muss ich sagen: Das find ich doch besser heute! Das ist zwar neu, aber besser! Am Maarweg, wo sie die alte Fabrik jetzt aufgemöbelt haben: Da waren so olle Sozialwohnungen – da hat am Ende nur noch ein alter Mann mit Hund aus dem Fenster geguckt … deprimierend! Das war das Ehrenfeld, das ich früher kannte: Diese in den 50er und 60erJahren schnell hochgezogenen Dinger, wo die ganzen Malocher drin gewohnt haben und in der dritten Generation später dann nur noch Sozialhilfeempfänger, das war so richtig Ghetto. Die GAG-Dinger, die sie jetzt überall abreißen, um was Neues hinzubauen. Da drin will doch heute keiner mehr wohnen. Ich bin ehrlich gesagt froh, dass das alles wegkommt. ehrenfelder: Wie war denn das Ehrenfeld, in dem Ihr aufgewachsen seid?
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Straßenfeste Nähere Betrachtungen zum Thema liefert auch Thilo Großer. Seite 48
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Stefan Brings: Wir sind hier geboren, haben zwischendurch aber eine ganze Weile in Bickendorf gewohnt, also auf der anderen Seite von der Äußeren Kanalstraße. Und das war gut: In Ehrenfeld hast du damals nicht gewohnt, weil du es wolltest. Unser Opa, das war so ein ganz Kölscher, der hatte echt keine Allüren, aber der hat zu Ehrenfeld „Räuberfeld“ gesagt. Das war ein sozialer Aufstieg, wenn du in Bickendorf gewohnt hast. Peter Brings: Als ich ein Kind war, hast du in manchen Straßen hier hundertprozentig richtig eins auf die Fresse gekriegt, und die Kohle haben sie dir auch abgenommen, wenn du welche hattest. Da wohnten die Asis, die Klüttenschlep-
per1, das war schon eine ganz andere Nummer. Das ist heute natürlich nicht mehr so krass. Wir sind in GAG-Mietskasernen großgeworden. In dem Hof, der riesig war, durfte man damals nur Wäschetrocknen – Kinderspielen war verboten. So was gibt’s hier heute zum Glück nicht mehr. ehrenfelder: Was habt Ihr heute für ein Verhältnis zu Ehrenfeld?
Peter Brings: Wie gesagt, wir sind hier geboren. Das ist dann wie deine Mama, die findest du schön, weil sie deine Mama ist, und deine Kinder findest du auch schön. Und so findest du auch Ehrenfeld schön … Egal von wo du zurückkommst. Sogar die Venloer Straße – und darüber kann man ja wirklich streiten, ob die schön ist - aber ich find die schön, denn die riecht und schmeckt nach zu Hause. ehrenfelder: Ihr seid also nicht zufällig immer noch in der Nähe?
Stefan Brings: Nein. Wir haben als Jugendliche mal in Flittard gewohnt – das war auch nett, aber das war ein Dorf, da stehen Kühe auf der Wiese. Ansonsten waren wir immer hier und ich fand es immer schön, da zu sein, wo du schon als Kind gespielt hast. Peter Brings: Eigentlich ist das hier schon Müngersdorf (der Probenraum, d.R.). Aber für uns ist das immer noch Ehrenfeld … Wir haben immer in Ehrenfeld geprobt! Stefan Brings: Ich wohne im Moment zwar in Nippes, aber ich fahre jeden Tag mit dem Fahrrad durch Ehrenfeld. ehrenfelder: Was ist im Moment das Besondere an Ehrenfeld?
Stefan Brings: Ehrenfeld ist total jung. Studenten, nicht nur Asis. In Nippes gibt es viel weniger junge Leute als in Ehrenfeld. Geh da mal in ’ne Kneipe rein, nur alte Leute, das reinste Rentnerparadies. Hier in Ehrenfeld sind so viele Junge, das siehst du sonst nirgends. In Nippes können die allerdings auch die Mieten nicht bezahlen. Peter Brings: Hier aber auch bald nicht mehr. Stefan Brings: Das stimmt. Peter Brings: In vielen Straßen in Neuehrenfeld, zum Beispiel der Eichendorffstraße, Försterstraße, die Kante da: Das ist der Wahnsinn, was das kostet. Stefan Brings: Aber es gibt in Ehrenfeld auch immer noch eine ganz andere Seite. Peter Brings: Klar, denn es gibt hier auch noch viele Ecken, die nicht so vorzeigbar sind. An der Venloer Straße zum Beispiel, die ganze „Lower East Side“ da mit Platenstraße und Marienstraße, da willst du ja auch heute noch nicht unbedingt wohnen, wenn du drei Kinder hast und was Nettes suchst. Stefan Brings: Straßenfeste, wie auf der Venloer Straße sind immer ein guter Spiegel: Da siehst du schon noch, dass die Bevölkerungsstruktur eine andere ist. Ich meine jetzt nicht das Landmannstraßenfest, sondern ganz traditionelle Straßenfeste – Da denkste dann schon mal, Mensch, wo kommen die ganzen Asis her?
„Straßenfeste, wie auf der Venloer Straße, sind immer ein guter Spiegel: Da siehst du schon noch, dass die Bevölkerungsstruktur eine andere ist. Dann denkste schon mal, Mensch, wo kommen die ganzen Asis her?“
ehrenfelder: Was bekommt Ihr als Musiker von der Elektroszene in Ehrenfeld mit?
Stefan Brings: Wir kennen die Leute, die die c/o Pop machen schon lange, ich interessiere mich aber sonst nicht sehr für diesen Elektrokram. Ich krieg das nur über meine Tochter mit. Das ist einfach eine ganz eigene Szene. Wir haben ein ganz anderes Publikum, das muss man schon sagen. Peter Brings: Unser Freizeitleben ist davon bestimmt, dass wir jeden Freitag und Samstag spielen. Wenn Du kölsche Musik machst, so wie wir, dann machst du das nicht dienstags oder mittwochs. Da kriegt man nebenbei wenig mit. Wir können uns nicht viel anderes angucken. ehrenfelder: Ihr habt ja mal einen Song über Ehrenfeld gemacht …
Stefan Brings: Das war 1993, für unsere dritte Platte. Damals haben wir noch keinen Karneval gemacht und wir hatten noch keinen Song über Köln geschrieben. Wir haben in Ehrenfeld gewohnt und hatten unseren Probenraum hier. Der Song war eine richtige Gemeinschaftsarbeit von uns allen. Und war auch wirklich so gemeint: als Hymne an die Heimat. ehrenfelder: Aber es ist kein Schmusesong … Im Gegenteil, da rauchen noch die Schornsteine. War das noch eine andere Zeit?
Peter Brings: Klar, es war damals hier noch anders. Andererseits wird in dem Lied aber auch gesagt: Ehrenfeld ist immer entweder ganz oben oder ganz unten. Das passt ja auch heute noch. Und das Thema Integration wird in dem Lied ja auch schon angesprochen. ehrenfelder: Wie seht Ihr denn das Thema Integration und aktuell den Moscheebau in Ehrenfeld?
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lüttenschlepper, kölscher K Begriff für Kohlenmann
Stefan Brings: Dass diese Moschee jetzt wirklich gebaut wird, ist schon toll. Das war eine Vision, und das hätte auch anders laufen können, da sind ja die Wellen hochgeschlagen. Aber wenn, dann geht so was nur hier in Ehrenfeld, davon bin ich fest überzeugt. Peter Brings: Ansonsten ist das mit der sogenannten Integration ja immer noch so ein Thema. Die Leu-
te sind es auf beiden Seiten auch ein bisschen leid. Machogehabe, den Pascha raushängen lassen, bei Typen, die so alt sind wie wir, die total Kölsch sprechen und Deutsche sind, da haste keinen Bock drauf. Aber dieses Land sagt auch immer noch nicht, wir sind ein Einwanderungsland. Die Nationalmannschaft ist was anderes: Der Özil ist unser Junge, wenn er Tore schießt. Trotzdem gucken die Deutschen nicht mit den Türken Fußball, auch wenn die in der Kneipe nebenan ’ne Deutsche Fahne raushängen. So ist das in Ehrenfeld ganz oft. Man hat sich aneinander gewöhnt, aber sonst läuft eigentlich nicht viel. Mir geht es ja selbst so: Ich gehe gerne beim Türken einkaufen, ich hab türkische Freunde, und wenn ich nach Ankara komme, riecht es da plötzlich nach Ehrenfeld. Du kennst das alles, bist damit aufgewachsen und es bleibt Dir trotzdem irgendwie fremd. Das ist auch immer noch die Wahrheit. Stefan Brings: Allerdings – ob das mit der Moschee jetzt besser wird … Es gab ja auch viele Leute, die man für liberal gehalten hat, die waren trotzdem dagegen. Dabei steht doch an jeder Ecke ’ne Kirche. Peter Brings: Auf jeden Fall ist Ehrenfeld seit unserer Kindheit noch mal um einiges bunter geworden. Früher gab es viele Türken, aber Afrikaner oder Asiaten hat man hier nicht gesehen. ehrenfelder: Worauf seid Ihr stolz in Ehrenfeld?
Stefan Brings: Auf die Moschee. Dass das wirklich geklappt hat, diese Idee zu realisieren! ehrenfelder: Was wünscht Ihr Ehrenfeld?
Peter Brings: Dass die Leute hier Arbeit haben, um ihr Leben zu bestreiten. Stefan Brings: Dass auch in Zukunft noch ein paar Leute die kölsche Sprache sprechen. Vielleicht auch die Ehrenfelder mit Migrationswurzeln. ehrenfelder: Wenn Ehrenfeld ein Motto hätte, wie könnte es lauten?
Peter Brings: Dreckisch, ävver jerääsch. ehrenfelder: Wir danken Euch für das Gespräch.
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Ehrenfe
Wer von der neuen rot-grünen Landesregierung in NRW mutige schulpolitische Reformen erwartet hat, wurde erst einmal enttäuscht. Gezeichnet von den ideologischen Grabenkämpfen der Vergangenheit setzt man lieber auf einen Schmusekurs. Anstatt mutig zu agieren, wird weiter vorsichtig reagiert – zum Beispiel auf die sinkenden Anmeldungen an Hauptschulen. Jahrelanges Engagement in den Schulen hat nicht geholfen, die Abstimmung mit den Füßen aufzuhalten. Obwohl in Ehrenfeld wie in den meisten anderen Bereichen der Stadt die Kinderzahlen steigen, werden Schulen geschlossen. Helmut Frangenberg über das Ende von zwei Ehrenfelder Traditionsschulen und das Fehlen von konkreten Perspektiven für betroffene Kinder und Familien. Text: Helmut Frangenberg, Fotos: Jörg Dicke, Illustration: Stefan Flach
Einer hätt immer die Aaschkaat“ war auf einer CD zu lesen. Mit „Do sin mer fies op et Föttche jefalle“ wurde ein uralter Bläck Fööss Hit zitiert. Die Schüler und Lehrer der Hauptschule in der Overbeckstraße hatten das diesjährige Karnevalsmotto zum Anlass für wenig erfreuliche Zitate aus dem weiten Weisheiten-Schatz kölscher Mundart-Dichtkunst genommen. „Köln hat was zu beaten“ sollte eigentlich eine Vorlage für gut gelaunte Zugbeiträge sein. Doch die Schule sah keinen Grund zum Feiern: „Kölle beatet uns jet, oh Gott! – Zom 100. Jubiläum KHS fott!“ stand auf dem selbst gebauten Festwagen. Protest im Ehrenfelder Dienstagszug. „In Würde und mit einem kleinen Paukenschlag“ habe man sich von den Ehrenfeldern verabschieden wollen, sagt Werklehrer Alfons Schmitz, der sich seit Jahren ums Kostümebasteln und Wagenbauen an der Schule kümmert. Es war das letzte Mal. 100 Jahre Schule in der Overbeckstraße – das wäre ein Anlass für ein großes Fest gewesen. Stattdessen lud die Schule zum „Kehraus“. „Wir hätten gerne weiter gemacht“, sagt Lehrer Schmitz, „vielleicht nicht als Hauptschule, aber doch als neues Angebot.“ 35 Jahre war er an der Schule tätig. Ähnlich lang unterrichtet Witburga Bednorz-Brustat an der Hauptschule in der Borsigstraße, wo im nächsten Jahr Schluss ist. Die Stadt verabschiedet sich von ihren Hauptschulen, nachdem immer weniger Eltern ihre Kinder an dieser Schulform anmelden wollten. Ehrenfeld spürt die Folgen der städtischen Schulpolitik gleich doppelt. „Ich verstehe die Entschei-
dung“, sagt Bednorz-Brustat, die genau wie Schmitz selbst in Ehrenfeld wohnt. Die Hauptschule sei zur „Restschule“ geworden, insofern seien die Schließungen „folgerichtig“. „Aber die Frage bleibt: Was wird aus unseren Schülern?“ Dabei geht es den engagierten Pädagogen nicht nur um diejenigen, die nun zu den Hauptschulen in der Umgebung geschickt werden. Es geht auch um all die Kinder aus sozial schwachen und so genannten bildungsfernen Familien, die
„Wir haben Sorge, dass unsere Schüler in der Masse und in großen Schulen untergehen.“ in Zukunft gefördert und begleitet werden müssen. Wie und wo das geschehen soll, ist unklar. Der Versuch, aus der Montessori-Hauptschule in Bickendorf eine Gemeinschaftsschule mit einer Art „Filiale“ in der Borsigstraße zu machen, ist erst einmal gescheitert. Die Gesamtschule in Bocklemünd kann schon seit Jahren nicht alle Kinder aufnehmen, die bei ihr angemeldet werden. Haben sozial schwächere Familien und ihre Kinder keinen Platz mehr im hippen Trendviertel
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Verdrängungswettbewerb Katharina Wolff und Doro Hohengarten rufen auf, der Verdrängung Einhalt zu gebieten. Seite 44
der Stadt? „Ehrenfeld wird bunter und lebendiger“, sagt Witburga Bednorz-Brustat. „Vielleicht bleibt da was anderes auf der Strecke.“ „Wir haben Sorge, dass unsere Schüler in der Masse und in großen Schulen untergehen“, sagt Schmitz. Genau wie seine Kollegin aus der Borsigstraße wirbt er für Schulen, die im Stadtteil verwurzelt sind. „Die Schule war eine Anlaufstelle, so etwas wie Heimat, gut vernetzt im Viertel“, sagt Bednorz-Brustat. Das klingt ein bisschen pathetisch, gemeint ist jedoch etwas ganz Praktisches: Hier gingen Kinder und Jugendliche zur Schule, die eine ganz intensive Begleitung brauchten. Seit Jahren geht es an Hauptschulen um mehr als das Vermitteln von Lernstoff. Die Schulen mussten Elternhäuser ersetzen. Was das heißt, kann auch Kabarettist Jürgen Becker berichten. Das Engagement des ehemaligen Realschülers aus der Gravenreuthstraße zusammen mit vielen anderen ehrenamtlich Aktiven an der Borsigstraße hat den Schülern nicht nur viele spannende Aktivitäten beschert, sondern auch neue Erfahrungen und viel Spaß gebracht. Für viele Schüler war die Begegnung mit Beckers Mitstreitern der erste intensive Kontakt mit einer bürgerlichen, bis dahin fremden Welt. Jürgen Becker kann unzählige, für Außenstehende unglaubliche Geschichten erzählen. Wie die des türkischstämmigen Mädchens, der eine Lehrstelle in einem Südstadt-Cafe vermittelt wurde. Nie zuvor war sie in diesem Teil der Stadt gewesen. Südstädtern Kuchen zu verkaufen, wurde zu einer echten Herausforderung. Die junge Frau muss sich gefühlt haben wie eine, die mit dem Fallschirm in einem fremden Land abgeworfen wird, ohne dessen Sprache zu kennen. Genau wie zuvor in der Schule musste man sich auch hier intensiv um sie kümmern, sonst hätte sie schon nach wenigen Tagen aufgegeben. Sie hielt durch, die
„Der Schülerrückgang an den Kölner Hauptschulen hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass die Kinder und Jugendlichen unter recht guten Bedingungen gefördert werden konnten.“
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Helios-Geländes Vielfältige Wünsche für das Helios-Gelände kann man nachlesen auf Seite 32/33.
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Südstädter und die Ehrenfelderin fanden zueinander. Doch die schöne Geschichte hat trotzdem kein gutes Ende. Sie schwänzte die Berufsschule, fiel durch die Prüfungen. „Leider läuft das eben nicht immer so, wie man sich das wünscht“, lautet Beckers Fazit nach einem Treffen mit den ersten Zehntklässlern, mit denen vor drei
Jahren das Engagement an der Schule begann. 22 Ehrenfelder Ex-Hauptschüler waren gekommen, nur wenige hatten eine Lehrstelle gefunden, zwei die Lehre abgebrochen. Fünf von zehn anwesenden ehemaligen Schülerinnen – längst nicht alle volljährig – seien bereits Mutter geworden. Die nächste Generation an Ehrenfelder Kindern mit äußerst schlechten Startchancen ist bereits geboren. Der Schülerrückgang an den Kölner Hauptschulen hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass die Kinder und Jugendlichen unter recht guten Bedingungen gefördert werden konnten: Kleine Klassen, engagierte Lehrer und zusätzliche Sozialarbeiter, neue Förderkonzepte, Kooperationen mit Jugendhilfe-Trägern und bürgerschaftliches Engagement machten vieles möglich. Als der Kölner Stadtrat die Schließung der ersten Schulen beschloss, wurde allerorten betont, dass diese Netzwerke zugunsten der Kinder erhalten bleiben müssen – ein leeres Versprechen. Die erfolgreiche Schülerfirma in der Overbeckstraße ist schon seit längerem abgewickelt. Der Erfahrungsschatz prämierter Berufsvorbereitung wird nicht mehr gebraucht. An anderen Standorten stehen Jugendhilfeeinrichtungen ohne schulischen Partner da. Das vorerst ersatzlose Wegbrechen eines Hilfenetzes für benachteiligte Kinder und Jugendliche passt für manchen zu den Warnungen vor der zunehmenden Spaltung der Stadt in Arm und Reich. In Ehrenfeld werden gerne die bunte Vielfalt und die soziale Mischung gelobt, die für urbanes, interkulturelles Lebens sorgen. So etwas erhält sich nicht von selbst. Der Verdrängungswettbewerb ist längst in vollem Gange. Es ist vor allem der Wohnungsmarkt mit zum Teil exorbitant steigenden Mieten und Preisen, der Menschen mit weniger Geld vertreibt. Hauptschulschließungen ohne die Entwicklung von neuen oder die Ausweitung von bestehenden Angeboten sind ein weiteres Puzzlestück im Prozess der drohenden Entwicklung zum Schicki-Micki-Viertel der sich selbst feiernden Kreativwirtschaft. Der gerade von der Stadtverwaltung vorgelegte Schulentwicklungsplan beschreibt im wachsenden Stadtbezirk Ehrenfeld den Mangel. Es fehlen Plätze an weiterführenden Schulen, es fehlt an schulformübergreifenden Angeboten. In der ganzen Stadt werden inklusive und integrative Schulen gebraucht. Der Elternwunsch nach einem längeren gemeinsamen Lernen ist eindeutig artikuliert. Doch wo er erfüllt werden soll, ist unklar, auch weil sich die Landesregierung nach Jahrzehnten eines ideologischen Grabenkriegs zu einem allzu zaghaften bildungspolitischen Schmusekurs entschieden hat. Die Stadt sucht händeringend nach Grundstücken, auf denen sich moderne bildungspolitische Konzepte verwirklichen lassen. In Ehrenfeld gibt es eins: Für die Zukunft des Helios-Geländes ließe sich durchaus Innovatives denken, das sich mit den frei werdenden Gebäuden in der Overbeck- und in der Borsigstraße verbinden ließe. Stattdessen herrscht weitgehend Ratlosigkeit. Die rappelvollen Realschulen und das Albertus Magnus Gymnasium werden sich nicht freiwillig öffnen, auch weil es an Anreizen und der nötigen Ausstat-
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Hauptschule Borsigstraße
Dekonstruktivismus Mehr aus der bunten Welt der Dekonstruierer gibt’s auf Seite 102.
tung fehlt. Die Gymnasiallobby ist stark. In Bickendorf hat sie es sogar geschafft, die Gründung einer Gemeinschaftsschule als unerwünschte Konkurrenz um Kinder und Räume vorerst zu behindern. Die Gesamtschule in Bocklemünd wird zwar um einen Zug erweitert, doch dadurch wird die „Nachfrage nach Gesamtschulplätzen nicht gedeckt“, heißt es im Schulentwicklungsplan. Die Hauptschule in der Baadenberger Straße wird faktisch zur einzigen im Stadtteil verbliebenen Restschule für die, die sonst keiner will. Das ist keine motivierende Perspektive für diejenigen, die dort arbeiten, und diejenigen, die dort lernen sollen. Viele der verbliebenen Hauptschulen wollen sich aus eigener Kraft in eine integrative oder gar inklusive Stadtteilschule für alle umwandeln. Doch auch unter der rot-grünen Landesregierung sind ihre Möglichkeiten sehr begrenzt. Die Stadt wünscht deutlich größere Spielräume, die man an die einzelnen Schulen weitergeben könnte. In allen Hauptschulen hört
man die gleichen Klagen: Die Erfahrung der Lehrer im Umgang mit „ihren“ Kindern fließe zu wenig ein in die Diskussionen über die schulpolitische Zukunft. „Schulentscheidungen sind politisch, nicht pädagogisch“, sagt Witburga Bednorz-Brustat ernüchtert. Sie hofft wie Alfons Schmitz, dass die besonderen Förderbedingungen für Kinder mit schlechteren Startchancen in den Schulen erhalten bleiben. Letztlich sei es egal, welcher Name am Schultor stehe, entscheidend sei, was im Gebäude passiert. Einfach nur darauf zu hoffen, dass die schwächeren Kinder in heterogenen Klassen anderer Schulen mitgezogen würden, sei zu wenig. Heterogenität kann helfen und motivierende Impulse geben; ohne eine individuelle Förderung könnten aber auch viele einfach verloren gehen. Die Aussichten für Ehrenfeld sind positiv, aber eben nicht für alle, die hier leben. „Muss i denn, muss i denn aus Ehrenfeld hinaus?“, war ein weiteres musikalisches Zitat der Ehrenfelder Hauptschüler im diesjährigen Karnevalszug.
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Quo vadis, Helios?
Stadtentwicklung ist nichts für schwache Nerven. Denn die Interessen von Politik, Investoren und Bürgern liegen mitunter weit auseinander. Das ist auch in Ehrenfeld so, wo die Zukunft des Helios-Geländes kontrovers diskutiert wird. In diesem Interessendickicht den Überblick zu behalten, ist nicht immer leicht.ehrenfelder hilft – und stellt hier die wichtigsten Akteure und ihre Positionen vor. Text: Jessica Hoppe, Recherche: Oliver Zliq Weber
Der Betreiber Der Eigentümer „Uns schwebt eine IndustrieArchitektur vor, die die vorhandenen Formen aufnimmt und eine hohe Aufenthaltsqualität bietet. Da darf kein städtebaulicher Murks entstehen.“ (Paul Bauwens-Adenauer)
Das Kölner Unternehmen Bauwens GmbH und Co. KG will auf dem Helios-Gelände einen neuen Komplex mit Einkaufszentrum, Büros und Wohnungen errichten: das Helios-Quartier. Hierfür tat man sich mit der Essener Betreibergesellschaft Management für Immobilien AG (mfi) und der Grundstücksentwicklungsgesellschaft (GEG) zur „Projektentwicklung Ehrenfeldgürtel GmbH“ zusammen. Die Planungen für das neue Quartier stützen sich auf eine von der Stadt in Auftrag gegebene Potenzialanalyse, die Mängel im Warenangebot benennt und eine Nachfrage für weitere Verkaufsflächen in einer Größenordung von bis zu 20.000 Quadratmetern sieht.
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„Was manche als Flair empfinden, sehen die meisten in Ehrenfeld als kaputte Bausubstanz an.“ (Matthias Böning, Vorstandssprecher mfi)
Die Betreibergesellschaft Management für Immobilien AG (mfi) unterhält in Deutschland 45 innerstädtische Einkaufszentren und ist auch an der Entwicklung des Helios-Quartiers beteiligt. Schon die Köln Arcaden in Kalk wurden von mfi mitentwickelt und betrieben. Eine Referenz, die in Teilen der Kölner Politik und Öffentlichkeit als fragwürdige Empfehlung gilt, weil dort vorgegebene Höchstgrenzen für Verkaufsflächen überschritten wurden. mfi steht auf dem Standpunkt, dass Ehrenfeld einen erhöhten Bedarf an Konsummöglichkeiten hat und sich das Warenangebot durch ein Einkaufszentrum komplettieren ließe. Nach eigener Aussage braucht ein solches allerdings mindestens 20.000 Quadratmeter Einzelhandelsfläche, um im Wettbewerb bestehen zu können.
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Das Helios-Gelände zwischen Gürtel, Venloer-, Vogelsanger- und Heliosstraße gehört der Bauwens Unternehmensgruppe. Die will dort ein Einkaufszentrum mit 20.000 bis 30.000 Quadratmetern Verkaufsfläche errichten. Ergänzend sind auch Wohnungen und Büros vorgesehen. Anfang 2010. Während die Lokalpolitik nach Bekanntwerden der Pläne noch kontrovers diskutiert, gründet sich eine Bürgerinitiative, die für den Erhalt der gewachsenen Mixtur aus kultureller und gewerblicher Nutzung in den alten Gebäuden kämpfen will und ein Mitspracherecht der Bürger zu diesem Thema verlangt.
Viele Versammlungen, Anhörungen und Podiumsdiskussionen später haben sich Ehrenfelder Bürger lokal und überregional Gehör verschafft. Die politisch Verantwortlichen suchen den Dialog, ein Bürgerbeteiligungsverfahren wurde parteiübergreifend beschlossen. Juli 2011. Noch ist keine Entscheidung gefallen, kein Bauantrag gestellt, kein Architektenwettbewerb ausgerufen oder gar entschieden. Die ersten Planungsworkshops der Bürgerbeteiligung stehen in den Startlöchern. Die Wünsche der Ehrenfelder für das Areal sind vielfältig und jeder ist eingeladen, sich einzubringen. Die Ergebnisse des Beteiligungsverfahrens sollen in die städtebaulichen Vorgaben einfließen, auf deren Basis ein Architektenwettbewerb ausgerufen wird. Es bleibt spannend, ob der Bürger am Ende wirklich beteiligt wird.
Helios-Mini-Glossar Helios griechischer Sonnengott, der den Sonnenwagen über den Himmel zog Helios AG 1882 gegründetes „Unternehmen für elektrisches Licht und Telegraphenanlagenbau“; Pionier der damals noch jungen Elektrotechnik Helioswerke, Helioshaus, Rheinlandhalle bis heute Teil des alten Baubestands Heliosturm 44-Meter hoher Leuchtturm, heute ein Wahrzeichen Ehrenfelds Helios-Gelände Areal zwischen Ehrenfeldgürtel, Vogelsanger-, Venloer- und Heliosstraße Helios-Quartier Die Bauwens GmbH spricht im Sinne eines Gesamtkonzepts für das Gelände vom HeliosQuartier. Im öffentlichen Diskurs ist zur Zeit meist von den Helios-Höfen die Rede; gemeint ist damit das geplante Einkaufszentrum.
Die Bürger „Diesem Konsumtempel sollen gewachsene Strukturen mit Geschäften, Ateliers und kreativen Werkstätten weichen. Was dann käme, fehlt hier gar nicht.“
Die Politik „Das Helios-Gelände ist unser Filetstück hier in Ehrenfeld. Wir lassen uns nicht über den Tisch ziehen.“ (Bezirksbürgermeister Josef Wirges, SPD)
(Hanswerner Möllmann, Sprecher der Bürgerinitiative)
Auf der Venloer Straße sind zum geplanten Einkaufszentrum auf dem Helios-Gelände viele Meinungen zu finden: Einer träumt vom neuen Park, andere finden die Idee von Saturn und H&M vor der Haustür gar nicht so schlecht. Die öffentliche Wahrnehmung kennt allerdings vor allem die Projektkritiker mit ihren Kompromissvorschlägen und Gegenentwürfen. In der Bürgerinitiative Helios (BI) engagieren sich ca. 150 Ehrenfelder Bürger aktiv gegen das neue Einkaufszentrum in der geplanten Form, weil es ihrer Überzeugung nach den kulturellen Charakter des Veedels zerstört und den bestehenden Einzelhandel gefährdet. Sie kämpfen für eine alternative Gestaltung des Helios-Geländes und haben sich erfolgreich für ein vertieftes Bürgerbeteiligungsverfahren eingesetzt.
Die Zukunft des Helios-Geländes ist allen etablierten Parteien der Bezirksvertretung Ehrenfeld wichtig. Trotz einiger Kontroversen stehen die Zeichen auf Dialog, das Bürgerbeteilungsverfahren wird parteiübergreifend getragen. Die SPD fordert ein ergänzendes Waren- und Dienstleistungsangebot auf dem Areal und Bestandsschutz für das Underground. Die CDU spricht sich für Einzelhandel auf maximal 20.000 Quadratmetern und für eine „Einbeziehung kultureller Elemente“ aus. Die Grünen sind für eine gemischte Nutzung des Areals durch Kultur, Wohnen und Gewerbe und für maximal 8.000 Quadratmeter Einzelhandel. Die FDP warnt davor, bei der Planung lediglich die Interessengruppen zu berücksichtigen, die ihre Anhänger am besten mobilisieren können. Die Linke lehnt die bisherigen Pläne als sozial destabilisierend ab und fordert, dass alle bisherigen Nutzer des Geländes die Chance bekommen sollen, dort zu bleiben. Die Ehrenfelder Wählergruppe Deine Freunde plädiert für einen Bürgerpark – den Bauwens Adenauer Park.
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0 0 0 2 d l e f n e hr E Ehrenfeld im rd i w t r o r o V n 21. Ei Jahrhundert t n a l p ver Text: Werner Blamberg (†), Foto: Stefan Flach
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Ein nicht enden wollender Verkehrsstrom rauscht vorbei an den wenigen Passanten, die auf schmalem Bürgersteig ihren Heimweg suchen. Eine Verkehrsstreife hat einen Radfahrer gestoppt. Eine Anzeige ist fällig. Auf dem vierspurigen Autoschnellweg Vogelsanger Straße ist Radfahren aufs Strengste untersagt. Zu groß ist die Behinderung des fließenden Verkehrs. Zukunftsgebilde eines Science-Fiction-Visionärs oder reale Vorstellungen unserer Stadtplaner und Kommunalpolitiker zur Entwicklung unseres Vorortes? Große Dinge stehen an: U-Bahn, Geschäftszentrum, neues Bezirksrathaus, Einkaufsboulevard. Ehrenfeld soll jetzt noch schöner werden! Kapitalanlage: Geschäfts- und Einkaufszentrum
Fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit vollzieht sich hinter den Kulissen ein Tauziehen um die Gestaltung des neuen Geschäftsund Einkaufszentrums auf dem Gebiet des ehemaligen Moll-Geländes (Aldi, „PS“, derzeitiges Bezirksrathaus) und dem benachbarten Helios-Gelände (Rheinlandhalle/Depot) sowie der Zukunft der Vogelsanger und Venloer Straße. Auf einer für die Betroffenen unzumutbaren Bürgeranhörung im Juni ’85 konnte keine Klarheit geschaffen werden. Konkrete Antworten auf Fragen zu Häuserabrissen, Betriebsverlagerungen, Baubeginn und vor allem zur Kostenberechnung waren der Verwaltung nicht zu entlocken. Kein Wunder, dass Bürger und Presse gleichermaßen verärgert reagierten. Unter diesen Umständen konnte sogar die Bezirksvertretung nicht umhin, einstimmig eine erneute Bürgeranhörung zu beschließen. Doch hier spielt die Verwaltung nicht mit. Mit gehabter Anhörung sei dem Gesetz genüge getan. Eine Wiederholung brauche nicht stattzufinden. Was der Bürger nicht weiß, macht ihn nicht heiß? Jetzt muss der Stadtentwicklungsausschuss hierüber entscheiden. Während Ehrenfelder Bürger im Unklaren über die Zukunft ihres Veedels gelassen werden, verändert sich das Gesicht des Vorortes zunehmend. Der große Wohn- und Geschäftskomplex neben dem Bürgerzentrum nimmt immer mehr Gestalt an. Der Alleininhaber dieses Terrains ist die Aachen-Münchener-Versicherungsgesellschaft, die natürlich auch an einer adäquaten Verkehrsanbindung (Vogelsanger Straße) interessiert ist. Schließlich wollen die Investoren Rendite sehen. Das benachbarte Rheinlandhallengelände (Inhaber Helios AG) soll die andere Hälfte des Einkaufszentrums bilden. Um dies schneller zu erreichen, wird das Terrain am grünen Tisch fix vom Gewerbegebiet zum Mischgebiet erklärt. Begründung: Es sollen neue Wohnungen geschaffen werden (unmittelbar neben dem zukünftigen 4711-Werk), die auf Gewerbegebiet nicht gebaut werden dürften. Hintergrund: Aus einem Mischgebiet lassen sich kleine Gewerbebetriebe wesentlich leichter vertreiben als aus einem Gewerbegebiet. Im Verwaltungsdeutsch heißt so etwas verharmlosend „Auslagerung störenden Gewerbes“! Da, wo heute noch am Ehrenfeldgürtel ein Ford-Händler sein Geschäft betreibt, und darüber hinaus weit in den derzeitigen Depotparkplatz hinein, wird in wenigen Jahren das neue Bezirksrathaus stehen – noch schöner, noch größer als jetzt. Ein solches Zentrum braucht natürlich, wie schon erwähnt, einen passablen Verkehrsanschluß. Reizwort: Vogelsanger Straße
Unter dem Decknamen „Begradigung der Vogelsanger Straße“ soll diese zu einer vierspurigen Schnellstraße ausgebaut werden. Voraus-
sichtlicher Baubeginn 1988. Dass die Maßnahme ursprünglich als Entlastung für die durch den U-Bahn-Bau gebeutelte Venloer Straße geplant war, ist bereits vergessen. Doch schon im Herbst ‘87 soll die U-Bahn-Teilstrecke bis zum Gürtel fertiggestellt sein! Trotz dieses Widerspruchs hält die Stadt an ihren Plänen fest. Der Verkehr auf der Vogelsanger Straße wird dann zu Stoßzeiten ähnlich stark sein wie der auf der Nord-Süd-Fahrt. Radfahrer sind wegen des zu erwartenden hohen Verkehrsaufkommens nicht erwünscht, Radwege daher gar nicht erst eingeplant. Ein Überqueren der Straße wird nur noch an Ampelanlagen ohne Lebensgefahr möglich sein. Von der voraussichtlichen Lärm- und Abgasbelästigung der Anwohner wollen wir lieber gar nicht erst reden! „Jeck, dat machen die doch nit!? Wo soll dann he all der Verkehr durchjonn?“ zweifelt ein noch ungläubiger Anwohner – „Erfolg“ der städtischen Informationspolitik! Dort, wo die Vogelsanger Straße auf den Eisenbahndamm stößt, ist eine neue Untertunnelung geplant. Nicht, wie man meinen sollte, in gerader Linie der Straßenführung, sondern, angeblich aus Kostengründen, in weit ausholendem Bogen. Wie zufällig wird so der Verkehr vorbei am immer leerstehenden Parkhaus hinterm Aldi hin, zum „Neuen Ehrenfelder Zentrum“ (Leo Wirtz) gelenkt. Dass hierfür einige, von alten Menschen jahrzehntelang bewohnte Mehrfamilienhäuser sowie kleine Handwerksbetriebe der Planierraupe zum Opfer fallen werden, wird totgeschwiegen! Anders als auf dem Helios-Gelände hat man hier – gemeint ist das Dreieck zwischen Heliosstraße, Vogelsanger Straße und Bahndamm – ein Mischgebiet in ein Gewerbegebiet umgewandelt. Erforderliche Grundlage zum Abriss von Wohnhäusern! Selbst hier hielt es die Verwaltung nicht für nötig, die betroffenen Bürger vom geplanten Abriss ihrer Wohnstätten zu unterrichten. Lockmittel: Einkaufsboulevard Venloer Straße
Mit steigenden Geschäftsmieten und der übermächtigen Supermarkt-Konkurrenz des neuen Einkaufszentrums werden kleine Bäckereien und Lebensmittelläden das Feld räumen müssen. „Einkaufsboulevard“ lautet die Devise. Auf breiten Gehwegen mit schicken Betonblumenkübeln und altertümlich gestylten Straßenlaternen (Stückpreis wie auf· den „neuen“ Ringen 15.000 DM) flanieren dann Ehrenfelds Arbeitslose unter schattigen Bäumen vorbei an Geschäften gehobenen Bedarfs. Soll das die Zukunft sein? Wenn in Zukunft im neuen Einkaufszentrum die großen Einzelhandelsketten ihre Filialen errichten, wird dies nicht ohne Auswirkungen auf das bisherige, gewachsene Zentrum, die Venloer Straße zwischen Innerer Kanalstraße und Gürtel bleiben. Wird hier nicht massiv in gewachsene Strukturen eines Viertels eingegriffen? Werden hier nicht mittels solcher Planung große Unternehmen zum Schaden vieler kleiner Geschäfte im Viertel begünstigt? Der Charakter Ehrenfelds, in dem traditionell Leben und Arbeiten eine gewachsene Einheit bilden, wird so nachhaltig zerstört. Die Politiker dieser Stadt, allen voran die SPD mit ihren laut bekundeten Prinzipien der Stadtgestaltung (Eindämmung des Individualverkehrs, Bewahrung der Veedel in ihrer gewachsenen Struktur, keine weiteren Wohnsilos und sterilen Geschäftszentren á la Chorweiler), sind nun gefordert, die Bürger nachhaltig zu informieren und zu ihren Gunsten regulierend in die Entwicklung einzugreifen. Eine bürgerfreundlichere Planung, wie sie derzeit in Alt-Sülz praktiziert wird, sollte auch in Ehrenfeld möglich sein!
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Umseitig steht ein Text ganz in Pink. Für den Leser bedeutet diese Farbwahl einen Verweis zu ähnlichen Kontexten. Hier ist der Text ein EINZIGER VERWEIS!
Unsere Releaseparty zur Veröffentlichung von ehrenfelder #1 im Januar 2010 wurde mit einem Überraschungsgast geadelt: Ingo Gräbner, Initiator und Herausgeber des allerersten Magazins namens „Ehrenfelder“ – uns bis dato unbekannt. Genau 25 Jahre vor dem Erscheinen unseres Magazins mit identischem Titel hatte sich damals eine kunst- und kulturaffine Autorenschaft rund um das bekannte Atelier Sömmering von Ingo Gräbner geschart, um ‚ihren‘ Stadtteil Ehrenfeld nicht einfach so den Politikern, Stadtteilplanern und Investoren zu überlassen. Ingo Gräbner wurde – wie andere Kulturaktivisten, die sich teure Prozesse nicht leisten konnten – aus Ehrenfeld hinauskomplimentiert; heute wohnt er angrenzend in Köln-Bickendorf. Wie wichtig es ist, sich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen von leeren Versprechungen oder Dystopien, die im Dunst des Kölner Klüngels ausgebrütet werden, lernen wir von unseren Vorgängern: Der in Pink gesetzte Artikel stammt aus dem Jahr 1985 und könnte fast eins zu eins in die Jetztzeit übertragen werden …
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Facelifting Auch Adrian Kasnitz setzt die Faltenbildung der Venloer Straße mit dem U-Bahn-Bau in Verbindung. Seite 46
Ehrenfeld: ein ewiger Loop? Ingo Gräbner hat wieder etwas für den ehrenfelder geschrieben. Siehe Text rechts.(PO, MK)
Foto: Matthias Knopp
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Ein Stadtteil im Kulturwan Text: Ingo Gräbner
„Sie können Ihre Kunst doch genauso gut in Pulheim machen“, meinte der Grüne Blume von Balloni zu den anwesenden Kulturschaffenden. Ort: VHS, Rothehausstraße. Anlass: Bürgeranhörung zu den Sanierungsplänen der Stadt und der DB im Bereich Glasstraße. Zeitpunkt: späte 80er-Jahre. Ein typischer Vorgang in Ehrenfeld. Nicht nur damals. Dabei geht es natürlich auch um andere Bevölkerungsschichten im Viertel, die auf Dauer dem Druck der Bodenspekulation nicht gewachsen sein werden und sich irgendwann an den Rändern der Stadt wiederfinden. Dieser Strukturwandel hat Ehrenfeld auf vielen Ebenen umgekrempelt und sein Ende ist nicht absehbar. Zuerst schlossen die Fabriken oder verlagerten ihre Produktion wegen der mangelhaften Infrastruktur (schwierige Verkehrsverhältnisse, Platzprobleme bei geplanten Modernisierungen) in neu erschlossene Gewerbegebiete. Die veraltete Bausubstanz der Wohnungen und der Verlust der Arbeitsplätze vor Ort ließ einen großen Teil der arbeitenden Bevölkerung in Viertel wie Bocklemünd oder Chorweiler ausweichen. In die alten Fabrikgelände zog Kleingewerbe oder sie wurden als Wohnraum erschlossen. Die günstigen Gewerbemieten lockten Kulturschaffende, neu entstehende Medienbetriebe und wegen der zunehmenden Arbeitslosigkeit versuchten sich immer mehr Leute in irgendeiner Selbständigkeit, die wenig Kapital erfordert. Rentner, ein Teil der Alteingesessenen, Ausländer mit geringem Anspruch an Wohnkomfort und Studenten nutzten den billigen Wohnraum, in den mangels Renditeversprechen nicht mehr investiert wurde. Die Lebensader Venloer Straße veränderte ihr Gesicht durch den U-Bahnbau komplett. Parken war in der Bauzeit praktisch unmöglich, der öffentliche Nahverkehr war eingestellt und zusammen mit Baulärm oder -staub behinderte dies den Einzelhandel so stark, dass besonders der Fachhandel weitgehend auf der Strecke blieb. Natürlich spielten hier auch veränderte Kaufgewohnheiten der Konsumenten eine wesentliche Rolle. Die parallel beginnende bis heute nicht abgeschlossene Verarmung weiter Teile der Bevölkerung hat eine Geschäftsstruktur in dieser tradtionellen Einkaufsstraße entstehen lassen, die von 1-EuroShops, Billigbäckereien, Fastfoodläden und Spielhöllen geprägt ist. Daneben die üblichen Bankfilialen, Apotheken, Optiker- und Billigschuhketten. Erst in jüngster Zeit hat man den Eindruck, dass sich auch diese Struktur teilweise wieder wandelt. Vielleicht hat dazu auch die erneute Veränderung der Verkehrsführung beigetragen. Die schmale
Straße hatte von jeher größte Schwierigkeiten, die vorhandenen Verkehrsströme angemessen zu bändigen. Das dem U-Bahnbau folgende Tempolimit hat sicherlich einen Teil des Durchgangsverkehrs auf die Vogelsanger und die Subbelrather Straße verlagert. Dennoch bleibt genügend ortsgebundener Verkehr, um die Venloer Straße ständig dem Erstickungstod auszusetzen. Besonders dramatisch war die Lage für die Radfahrer, denen bisher Beifahrertüren parkender Autos, unaufmerksame Linksabbieger oder Fußgänger und gefährliche Längsrillen drohten. Die Neuregelung (gemeinsame Fahrbahn für Autos und Fahrräder) hat zumindest einen breiteren Bürgersteig erzeugt, den die Gastronomie massiv nutzt. Wird die Venloer doch noch zur Flaniermeile? Mit den Kulturschaffenden entstanden seit den Achtzigern auch Kulturorte. Ehrenfeld wurde zum In-Viertel. In Kunstorten, Theatern, Musikhallen und Diskotheken entwickelte sich ein Nachtleben für junge Leute. Entsprechende Gastronomie zog nach. Es wurde schick, im Viertel zu wohnen, ‚Kreative‘ siedelten sich wegen niedriger Gewerbemieten an – Wohnen und Arbeiten am selben Ort zu erschwinglichen Preisen. Mit den Boomzeiten der Neunziger stiegen folgerichtig die Mieten, das Bildungsbürgertum kaufte sich ein. Nachdem die Südstadt und das Agnesviertel abgegrast waren, ging der Goldgräbertrend in Richtung Nippes und Ehrenfeld. Gründerzeithäuser zu Niedrigpreisen kaufen, die Sanierung mit den Mieteinnahmen finanzieren, und dann die Altmieter mit Eigenbedarfsansprüchen kündigen – das war Usus. Ich weiß, wovon ich rede, das Atelier Sömmering, der Pionierkunstort der Achtziger, ist 2007 auf diese Art untergegangen. Ab nach Pulheim? Uns hat es nur nach Bickendorf verschlagen, aber auch das bedeutet, eine magische Grenze zu überschreiten; genauso wie die Innere Kanalstraße in den Achtzigern die Innenstadt vom Arbeiterviertel Ehrenfeld trennte. Jedenfalls scheint ein nicht-kommerzieller Kunstort in der Größenordnung des Atelier Sömmering heute in Alt-Ehrenfeld schwer finanzierbar. So sägt man am Ast, auf dem man sitzt. Entsprechend sind viele Kulturorte der vergangenen Jahrzehnte wieder verschwunden. Natürlich gibt es dafür auch noch andere Gründe. Verlieren die eigenen Projekte ihren innovativen Charakter, bleibt womöglich auch die idealistische Lust auf der Strecke. Aber keine Panik bitte, nachfolgende Generationen treten auf die Bühne – mit eigenem Stil, mit neuen kulturellen Formen.
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> www.ehrenfelder.org Neue Fragen beantworten hier: www.ehrenfelder.org/extra/fragebogen
„An welchem Ort versteckst du dich in Ehrenfeld?“, fragten wir Euch seit Januar 2010 auf unserer Homepage. Dies sind Eure geheimsten Verstecke. Gewesen.
Die wahren Utopisten sind unsichtbar
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Schöne bunte Konsumwelt Essen steht auf Platz eins, gefolgt von der Frage „Was soll ich bloß anziehen?“ Denn: Telefonieren lässt es sich besser satt und angezogen. Die Grafik zeigt die drei häufigsten Arten von Läden auf der Einkaufsstraße, und in welchen Farben sie eingerichtet sind. Erhebung: Christina Pellmann und Denis Pfabe, Grafiken: Stefan Flach
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Die genauen Zahlen zu den einzelnen Geschäften finden sich auf Seite 78/79.
Essen In den Restaurants, Imbissstuben und Lebensmittelläden dominiert die Farbe Gelb den Gesamteindruck der Ladenlokale.
Anziehen Weiß und Schwarz, so sind die Bekleidungsgeschäfte überwiegend eingerichtet.
Telefonieren Bei den Telekommunikationsläden liegen Weiß, Rot und Blau im Trend.
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Hamburger Schanzenviertel In ef #1 haben wir das Manifest „Not in Our Name, Marke Hamburg“ in voller Länge abgedruckt. Siehe darin Seite 80.
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Ehrenfeld gehört dir – dann hol es dir auch! Strategien für ein Ehrenfeld für alle. Ein Aufruf aus der Südstadt – wo die Langeweile schon ausgebrochen ist. Text: Dorothea Hohengarten, Katharina Wolff Fotos: Jörg Dicke, Illustration: Mareile Busse
Eines Morgens stehst du auf, und auf der Venloer Straße hat der erste Starbucks eröffnet. Du musst dein Buch nicht mehr im kleinen Buchladen um die Ecke bestellen, sondern hast ’ne Riesenauswahl bei Thalia im Helios-City-Mall-Gelände. Du schläfst jetzt besser, denn statt dem Getrampel der Familie Özkay über dir hörst du nur noch ab und zu das leise Klicken des Türschlosses, wenn dein neuer Nachbar spätabends aus der Kanzlei heimkehrt. Irgendwie ist es zum Sterben langweilig geworden, dein Ehrenfeld, das mal so quirlig, dreckig und erfinderisch war. Früher war es ein Ort für alle, heute gibt es hier kaum noch Überraschungen. Nur noch Servicelächeln. Ehrenfeld fühlt sich an wie ein Vorort des Belgischen Viertels. Woanders, im Hamburger Schanzenviertel zum Beispiel, hat es ähnlich angefangen. Erst war es ein heruntergekommenes Altbauviertel mit Migranten, Studenten und linken Protestbewegten, mit bezahlbaren Wohn- und Arbeitsräumen. Dann kamen immer mehr „Kreative“ mit ihrer Kunst, ihren Clubs und Bars und kleinen Szenelädchen. Es gab Straßenfeste, und der Stadtteil wurde hip. Die Hausbesitzer sanierten ihre Gebäude, Investoren kauften auf, vertrieben mit teilweise unsanften Methoden ehemalige Bewohner. Jetzt gibt es fast nur noch teure Wohnungen ab 12 Euro den
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soziale Mischung Das kommt auch Kriminalhauptkommissar Knut Samsel vom Kölner KK 61 entgegen, denn: Mehr soziale Mischung heißt mehr soziale Kontrolle. Seite 68
Quadratmeter, und Touristenbusse durchqueren die kleinen Straßen auf der Suche nach aufregender Hamburger Szenekultur, wie sie der Stadtführer verspricht. Das ist Gentrifizierung – die Aufwertung eines Stadtteils einerseits, die Auslese von sozialen Schichten andererseits. Mitgesteuert wird sie durch politische Entscheidungen (oder Unterlassungen) und durch finanzstarke Investoren, denen es um kurzfristige Gewinne geht und nicht um einen gemeinsamen Lebensraum für Stadtmenschen. Geschieht euch das gerade in Ehrenfeld? Die Anzeichen mehren sich: Die Mieten im Viertel gehören schon zu den teureren in Köln. Immer mehr Familien, besonders Migranten, ziehen weg. Öffentliche Gelder gibt’s vor allem für imageaufbessernde Kreative, kaum für soziale Vereine. Investoren zeigen großes Interesse an allem, was hier noch brachliegt. Was, wenn Helios nur der Anfang ist? Was, wenn auch an anderen Orten in Ehrenfeld mit Grundstücken und Gebäu-
Es geht um den großen „Plan“ und darum, dass ihr, die ihr Ehrenfeld so mögt, euch auch einen macht. den spekuliert wird in der Hoffnung, dass euer Stadtteil bald der „Hot Spot“ Kölns wird? Gerade weil alles langsam vor sich geht, könntet ihr entscheidende Entwicklungen verschlafen … Habt ihr eigentlich eine Idee, wie euer Stadtviertel aussehen soll, redet ihr drüber? Oder passiert euch alles nur? Wärt ihr bereit, etwas für euer Viertel zu tun? Geht so, oder? Vielleicht zieht ihr nachher einfach nach Kalk, wenn euch Ehrenfeld zu edel geworden ist … Ruht euch nicht auf eurem bohemistischen Schuldkomplex aus. Klar, ihr seid selbst mit schuld daran, dass Ehrenfeld diesen Hype erlebt – mit euren Schmucklädchen, Designschmieden, Elterninitiativen und süßen Cafés. Doch das ist kein Grund, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Wappnet euch! Ihr braucht sie jetzt, die Strategien gegen den Ausverkauf eures Stadtteils. Macht Ehrenfeld zu eurem Stadtteil – eignet es euch an! Diese Strategie zum Beispiel hat den Realitätstest längst bestanden: die Genossenschaft. Statt seinen Stadtteil irgendeinem Investor zu überlassen, steigt man selber ins Rennen ein: Man kauft Baugrund oder eine Immobilie. Wer sich das allein nicht leisten kann, tut sich mit anderen zu einer Solidargemeinschaft zusammen. Als Gruppe schafft man so bezahlbaren Wohnraum und teilt Kosten und Risiken. Das machen neuerdings Kleingenossenschaften beim Häuserbau. Die gemeinnützige Wohnungsgenossenschaft „Die Ehrenfelder“ macht das schon ewig, sie hat ein Drittel ihrer mehr als 4.100 Wohnungen in Alt-Ehrenfeld. „Uns gibt es seit 111 Jahren. Wir haben vor Investoren keine Angst“, sagt
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Vorstandssprecher Georg Potschka, während er die Simrockstraße entlang geht. Solche Sätze sind wie Bollwerke, Verdrängungsprozesse prallen hier ab. Dauerhaft. „Gentrifizierung ist so ein Modewort“, findet Potschka, „bei uns bleibt die soziale Mischung stabil.“ Die halbe Simrockstraße gehört der Genossenschaft. Dort reihen sich 20er- und 40er-Jahre-Häuser an ein 50er-JahreGebäude, das gerade nach den Wünschen der Bewohner saniert wurde – mit Laubengängen und Glas-Dachkuppeln. Dahinter steht eine Handvoll Wohnpavillons mit kleinen Spielplätzen. Auf den Klingelschildern stehen Namen wie Ögüz, Demaiziere, Schmidt. Studenten, Paare, Familien, Rentner und Sozialhilfeempfänger wohnen hier, und, so mutmaßt Potschka, auch Bestverdiener mit 100.000 Euro Jahresgehalt. Smart-Wohn-Millionäre in einer Genossenschaft? „Warum nicht“, lächelt er stolz, „Wir wünschen uns einen Querschnitt der Kölner Bevölkerung“. Die Simrockstraße als Modell eines Ehrenfelds für alle? Nur 5 bis 6,50 Euro Miete pro Quadratmeter zahlt man hier, während Wohnungen auf dem freien Markt mittlerweile fast das Doppelte kosten. Vor allem aber: Dieser Wohnraum ist sicher. Wer es schafft, eine Genossenschaftswohnung zu ergattern – und 1.300 Menschen stehen auf der Warteliste –, der darf lebenslang bleiben. Keine Spekulationsaufkäufe, keine Eigenbedarfsklagen. Für diese paradiesischen Zustände muss man allerdings was tun. „Wir wollen Leute, die sich nicht nur in ihre eigenen vier Wände zurückziehen, sondern sich engagieren, ihre Ideen und Arbeit einbringen“, sagt Potschka. Wer repariert mal den tropfenden Wasserhahn für die Oma von oben? Wer übersetzt der türkischen Hausfrau die Nebenkostenabrechnung? Wer opfert seine Freizeit im Ehrenamt, unentgeltlich? Ständiges Verhandeln, Solidarität und Engagement. Das ist anstrengend, aber nötig, wenn man solche Systeme wie Genossenschaften und Stadtviertel dauerhaft erhalten will – und wenn man sich gegen „die Großen“ zur Wehr setzen will. Aber engagierter Immobilien(mit)besitz kann nicht die einzige Strategie sein. „Selbst wenn mir das Haus nicht gehört, in dem ich wohne, gehört der anderen Seite auch wiederum nur das Haus. In der Stadt kommen Leute auf engem Raum zusammen, machen Erfindungen, die Stadt wird zu ihrer gemeinsamen Plattform. Über ihre Fähigkeiten und den Austausch entsteht etwas Neues. Die Stadt gehört den Leuten, die sie gestalten und benutzen.“ So erklärt uns das Christoph Twickel, der den Hamburger Kampf gegen den totalen Ausverkauf der Stadt mitkämpft und ihn in dem Buch „Gentrifidingsbums“1 beschrieben hat. Es geht also erst mal um Identifikation und die daraus folgende Bereitschaft, etwas für sein Viertel zu tun. Eines muss euch klar werden: Ehrenfeld gehört jedem Einzelnen von euch. Jeder Einzelne hat ein Recht auf seine Stadt! In Hamburg mobilisieren Gentrifizierungsgegner eben mal schnell 4.000 Leute für eine Aktion und nennen das wenig. Das Hamburger Netzwerk „Recht auf Stadt“ verbindet 31 verschiedene Initiativen, die um eine soziale und gerechte Stadt kämpfen. Das gleiche gibt es in Berlin, Frankfurt, Freiburg. Köln ist von so einer breiten Anti-Gentrifizierungsbewegung
noch meilenweit entfernt. Doch formieren sich auch hier diejenigen, die ihr Recht auf Stadt einfordern. In den Aufstand gegen die schleichende Verschöngleichung der Stadt ist Bewegung gekommen, die Bürgerinitiative (BI Helios) gegen das Einkaufzentrum auf dem Helios-Gelände bringt genügend Menschen zusammen, um eine Bürgerversammlung aus den Nähten platzen zu lassen. Via Facebook haben sich inzwischen über 3.000 Sympathisanten vernetzt. Erreicht haben sie bisher ein „vertieftes Bürgerbeteiligungsverfahren“ bei der Umgestaltung des Helios-Geländes. Der Investor muss für die Zukunftsplanung Bürgerwünsche berücksichtigen. Dafür muss er auch in Kauf nehmen, dass sich der Baubeginn erheblich nach hinten verschiebt. Das ist doch ein Anfang – politisch aktiv zu werden nach der klassischen Strategie: Zusammenkommen, Bürgerinitiative gründen, Öffentlichkeit schaffen, den Bezirksbürgermeister für sich gewinnen, Anhörrechte bei den Entscheidungen von Bezirk, Stadt oder Rat erwirken. Allerdings: Wird das ausreichen, um wirklich mitzuentscheiden? Wird den BI-lern am Ende mit einem Beteiligungsverfahren doch nur der Wind aus den Segeln genommen, während die Entscheider ihre Entscheidungen mehr oder weniger so treffen, wie sie es ohnehin vorhatten? „Ich bin immer vorsichtig bei dem Wort Beteiligung“, sagt zu-
mindest Twickel. „Oft geht es nur um Bürgerberuhigung“. Dass die Bürgerbeteiligung flankiert werden muss von anderen Strategien, das hat Andreas Lemke von der BI Helios gemerkt. Es ist Winter, und Lemke holt sich Rat bei der Hamburger Anti-Gentrifizierungsbewegung. Twickel hält eine Lesung in der Stadt. In einer rappelvollen Szene-
Eines muss euch erstmal klar werden: Ehrenfeld gehört jedem einzelnen von euch. Jeder hat ein Recht auf seine Stadt! Bar lehrt er die Kölner das Fürchten. Während er SchöneWelt-Imageclips der Hamburger Bauinvestorenszene an die Wand wirft, scheint es vielen im Publikum zu dämmern: Wetten auch hier Großinvestoren darauf, dass ein von Kreativen belebter Normalo-Stadtteil wie Ehrenfeld eines
1 Twickel, Christoph (2010): Gentrifidingsbums. Oder eine Stadt für alle. Hamburg: Edition Nautilus
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Tages das In-Viertel für Besserverdienende wird? Dass sich dann mit hohen Grundstückspreisen und dem Verkauf und der Vermietung von Edelwohnungen und Gewerbeflächen eine fette Rendite machen lässt? Wie könnten wir da rechtzeitig gegensteuern, will Lemke von Twickel nach der Lesung wissen. Der stellt eines direkt klar: Zerbrecht euch nicht den Kopf über die richtige oder die falsche Strategie. Es geht darum, überhaupt was zu tun: „Man muss auch einfach mal sagen: Wir setzen jetzt einen Punkt, wir machen etwas sichtbar und erzeugen Öffentlichkeit. Das ist immer besser, als darauf zu warten, dass man möglichst viele Kräfte zusammen hat, um dann einen ,Big Bang‘ zu veranstalten.“ Was er dann aus Hamburg berichtet, zeigt das Dilemma von Ehrenfeld: In Hamburg stellen sich seit Jahren immer wieder Bürger in verschiedenen Zusammenschlüssen gegen die Wegnahme von Flächen und Gebäuden und begeistern mit publikumswirksamen Aktionen wie dem Google-MapsLeerstandsmelder ungenutzter Wohn- und Bürogebäude, großen Facebook-Versammlungsaktionen oder Fette-Mieten-Parties die örtlichen und überregionalen Medien für sich. Hier in Ehrenfeld hinken das Bewusstsein für die Notwendigkeit und die Organisation des Widerstands der Entwicklung hinterher. Jeder macht sein Ding, punktuell, wenig vernetzt und eher mäßig einfallsreich.
Wollt ihr euch wirklich einsetzen dafür, dass auch die streng muslimische Familie von nebenan bleiben kann? Dass ein ewig brotloser Künstler sein billiges Fabrik-Atelier behält? Beispiel Helios-Gelände: „Ich wünsche mir mehr kreative Aktionen“, sagt Lemke, „Bei uns fehlt da trotz viel positiver Resonanz von außen irgendwie das Personal. Wir müssten auf dem Gelände viel präsenter sein, von innen nach außen strahlen, aber wir sind immer noch zu wenig vernetzt mit denjenigen Leuten, die dort leben und arbeiten.“ Eigentlich müsste das Helios-Gelände ein zweites Hamburger Gängeviertel werden. Als dort der alte Hafenarbeiterkomplex abgerissen werden sollte, öffneten die Künstler die Türen und machten – Stichwort Transparenz – das Viertel zum schützenswerten „Traumort“ für viele unterschiedliche Menschen. Warum laden die Handwerker, Manta-Schrauber, Musiker, Designer des Helios-Geländes nicht in ihre Büros, Probenräume und Werkstätten, um zu zeigen, was sie dort tun? Oder ist dieser Ort mit seinen Subkulturen in Wirklichkeit gar nicht so schützenswert und kann etwas Neuem, Besserem weichen? Auf jeden Fall
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können es die Ehrenfelder nur entscheiden, wenn sie selbst dort gewesen sind. Ladet sie ein! Und die Presse gleich mit! Zeigt es, wenn ihr ein gemeinsames Interesse habt, zu bleiben – und vielleicht wollen sogar andere Ehrenfelder, dass ihr bleibt. Weil ihr alle das Leben in Ehrenfeld reichhaltiger macht. Und wie kann Vernetzung gelingen? In Hamburg gelang sie zum Beispiel durch die aufwändige Verhüllung eines leerstehenden Spekulationsobjekts. Der Gewerbehof sollte abgerissen und in teuren Wohnraum umgewandelt werden. Den vorwiegend türkischen Mietern war gekündigt worden. Eine Künstlergruppe verhüllte das Gebäude mit gefakten Werbebannern, um den Abriss zu verhindern und für den Erhalt von bezahlbaren Flächen zu demonstrieren. Durch die Aktion wurde einer der rausgeschmissenen Einzelhändler aufmerksam und stieß zu der Initiative. Weitere türkische Geschäftsleute wurden per Facebook zu Mitstreitern: „Und plötzlich hat man da die komische Verbindung zwischen dem Hornbrillenträger und dem türkischen Supermarktbetreiber, die aber beide ein Interesse haben, dass es günstige Räume in der Innenstadt gibt, weil sie ein Stück weit davon leben. Das ist ein Beispiel dafür, dass man es hinkriegen kann, dass sich auf einer Ebene Leute treffen, die sonst nicht so einfach zusammenkommen würden. Man würde sie nicht über eine Zeitschrift oder sonstige Medien erreichen, auch nicht über die klassische Form der Mobilisierung wie das Flugblatt“, meint Twickel. Je breiter der Widerstand, desto erfolgreicher kann er sein. Zieht eine repräsentative Mehrheit an einem Strang, dann lässt sich vieles verhandeln und gestalten. Dann hat die Gegenseite was zu verlieren. Auf die anderen Menschen im Viertel zuzugehen, ist nicht leicht. So etwas braucht besondere Ideen und gegenseitiges Interesse. Vor allem aber muss man es wirklich wollen – das Ehrenfeld für alle. Wollt ihr euch wirklich einsetzen dafür, dass auch die streng muslimische Familie von nebenan bleiben kann? Dass ein ewig brotloser Künstler sein billiges Fabrik-Atelier behält? Dass „Asi-Kids“ weiter in ihr Jugendzentrum gehen können? Wollt ihr diese Leute hierbehalten, auch wenn ihr euch selbst irgendwann eine teurere Wohnung leisten könnt? Wenn ihr solche Fragen mit Ja beantwortet, dann kommt raus aus euren Kreativbüros und Zoobars und redet mit den anderen Menschen im Veedel. Findet heraus, was sie wollen, findet das gemeinsame Interesse und macht es publik! Nehmt Neu- und Umbauprojekte kritisch unter die Lupe: Was bringen sie wem in Ehrenfeld? Und lasst euch nicht einlullen. Sabine Voggenreiter erhält eine Million Euro vom Land, um Ehrenfeld zum „Designquartier“ auszubauen. Das ist toll für sie, für viele Kreative und irgendwann, wenn Ehrenfeld mal ein attraktives Designquartier geworden ist, auch für die Rendite der Bauinvestoren. Aber was haben die anderen Bürger davon? Gibt es Kunstoder Designprojekte, die etwa auch die Jugendlichen im Stadtteil miteinbeziehen, die für ein Ehrenfeld für alle stehen? Es geht nicht um Nettigkeiten. Es geht ums Recht zu bleiben. Wenn es euch ernst ist mit Ehrenfeld, dann solltet ihr dieses Recht artikulieren und einfordern – für euch und mit anderen. Und zwar rechtzeitig, bevor ihr zum Vorort des Belgischen Viertels werdet.
Auf die anderen Menschen im Viertel zuzugehen, ist nicht leicht. So etwas braucht besondere Ideen und gegenseitiges Interesse. Vor allem aber muss man es wirklich wollen – das Ehrenfeld für alle.
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Helios-Gelände Wer auf dem „Filetstück Ehrenfelds“ welche Interessen verfolgt: Seite 32/33
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Text: Adrian Kasnitz, Illustration: Alina Edelstein
Dass ich in Ehrenfeld gewohnt habe, ist jetzt zehn Jahre her. Aus dieser Zeit stammt ein Gedicht, Titel „strohhut“, und es spielt mit den Eindrücken, die ich damals täglich auf der Venloer Straße hatte: in der krempe noch münzen zwei, drei euro – tagesbudget. an der ecke, wo die straße zittert der individuelle verkehr in salven das trommelfell erschüttert. dort wo passanten kollidieren der speichel trieft und das blut scheint die ölsonne und frittiert die gegenstände also goldkettchen mercedes mösen.
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Utopie Zur Schwierigkeit der Definition von Utopie schreiben die Chefredakteure im Editorial. Seite 2
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1-Euro-Shop Auch Ingo Gräbner merkt die veränderten Kaufgewohnheiten der Konsumenten Mitte der 80er Jahre an. Seite 37
Zugegeben, kein sehr freundlicher Text. Auch wenn Ehrenfeld damals nicht mehr der Ort der Industrie und des Parfümgestanks war, was noch weiter zurückliegt, gab es doch vor, mehr mit Rock und Authentizität zu tun zu haben als andere Stadtteile. Die kleinen freundlichen Inseln waren sehr spärlich gesät. Man konnte dort billig wohnen und billig Bier trinken, wenn man aber so ungewöhnliche Bedürfnisse wie sagen wir mal (leckeren) Kaffee-Trinken oder (in der Sonne) Sitzen stillen wollte, war man eigentlich schon fehl am Platz. Der Niedergang der Venloer Straße, der für viele Ältere mit dem U-Bahn-Bau einsetzte, aber eigentlich mit dem Strukturwandel zusammenhängt, war damals auf dem Höhepunkt. Heute werden die Bilder der Ramschläden von manchen noch denunziatorisch für Ehrenfeld benutzt, was so gar nicht mehr stimmt. Wer erinnert sich noch an den 1-Euro-Shop Urban, der bis 2003 mehrere Geschäfte in Ehrenfeld unterhielt? Aber eben nur bis 2003. Dass der ehemalige Arbeiter-Stadtteil eigentlich eine raffinierte Kombination aus wohlhabendem Bürgertum, Angestellten, Hartz-IV-Empfängern, Künstlern, Studenten
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Schirme und Schlaf
Einkaufszentren Bernd Wilberg betrachtet die Losungen und Beschwörungen der Shoppingcenter-Schöpfer. Seite 10
und Migranten ist, das ist eigentlich das Besondere. Und vielleicht liegt es nur an dem gestiegenen sozialen Ansehen, das türkische Migranten mittlerweile besitzen, dass Ehrenfeld eine Renaissance erlebt, die in den Wahnvorstellungen von Projektentwicklern und Investoren seltsame Blüten wie Einkaufszentren treiben lässt. Mit Utopie hat das allerdings nichts zu tun. Utopisch sind allenfalls die Leute, die allen Widrigkeiten zum Trotz hierhergezogen sind, dableiben und auf bessere Zeiten warten, bis sie eines Tages den Schritt wagen, etwas zu verändern. Und auf die kommt es an. Damals, kurz vor der Jahrtausendwende, fiel mir ein Buch in die Hände, Titel „Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887“ des amerikanischen Schriftstellers Edward Bellamy, erschienen 1890 bei Reclam in Leipzig, so lautet jedenfalls meine Ausgabe. Der junge Amerikaner Julian West, der Ende des 19. Jahrhunderts durch Hypnose in einen über hundert Jahre dauernden Schlaf fällt, erwacht im Jahr 2000. Noch immer steht das Haus, in dessen Keller er schlief, aber es gehört einer anderen Familie. Die amerikanische Gesellschaft hat sich in der Zwischenzeit in eine ganz und gar positive und mit vielen sozialen Einrichtungen bestückte gewandelt. Alle Menschen sind glücklich und tätig. Es gibt weder Arm noch Reich, alle sind gleichermaßen dazu angehalten, das Wohl der Gesellschaft zu verbessern und zu arbeiten. Neben den anderen witzigen Ideen und Zukunftsvorstellungen wie Vorwegnahmen von Radio und Kreditkarte, die man nachlesen sollte (das Buch lässt sich sicherlich antiquarisch besorgen), ist der Gedanke der Erziehung der wichtigste. Das grundlegende Prinzip der Gesellschaft lautet, dass jeder ein Recht darauf hat, dass die Mitmenschen gebildet sind!
Wie sehr sich eine Stadt in 10 bis 15 Jahren verändert, merkt man als Bewohner kaum. Wir schlafen ja nicht hundert Jahre wie Julian West. Wir sind auch nicht in Berlin-Mitte oder der Hamburger HafenCity, wo ganze Quartiere aus dem Boden gestampft wurden. Natürlich gibt es auch in Köln augenscheinliche Veränderungen. Aber wer etwas über sein Viertel erfahren will, muss genauer und historischer schauen. Erst wenn man einen Straßenzug dicht beschreibt, die Beschaffenheit der einzelnen Fassaden aufzeichnet, den Weg- und Zuzug der Bewohner festhält, die wechselnden Ladenbesitzer und Kneipenpächter befragt, wird so etwas wie Wandel deutlich. Alltägliches verändert sich unmerklicher. Kommt noch der Kartoffelmann einmal die Woche durch die Marienstraße gefahren? Gibt es noch die Kaffeerösterei auf dem Weg nach Bickendorf? Wann waren wir noch einmal in der Eckkneipe, als uns alle verdutzt angestarrt haben, weil wir nicht zum Inventar gehörten? Legt der alte Mann im Unterhemd noch jeden Morgen seine Johnny-Cash-Platte auf? Weißt du noch, dass in dem Laden, bevor das Büdchen aufgemacht hat, ein Sonnenstudio drin war und davor die Kunstkneipe Lounge und davor – weiß ich auch nicht mehr? Das abgerockte Ehrenfeld ist passé. Ehrenfeld hat Liebreiz gewonnen. Aber es mangelt auch noch an vielem wie zum Beispiel guten Bäckern, Weite und Weitsicht, einem alternativen FußballClub und nicht zuletzt an Schirmen, die die Venloer Straße überspannen. In den nächsten Jahren wird sich entscheiden, wie es mit ,Ihrefeld‘ weitergeht. Wir können nur hoffen, dass sich viele einmischen in den Prozess, viele sich trauen, ihre kleine Chance zur Veränderung wahrzunehmen. Viele sich bilden.
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Wandel erkennt man an mindestens zwei Zeitpunkten. Vgl. also ehrenfelder #1.
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Bricht Ehren in der
feld Wohlstand aus Im Stadtteil gibt es heute mehr Junge, Deutsche, Gebildete und Grüne als vor zehn Jahren. Deswegen wird’s noch lange nicht kuschlig: Die neuen Bürgerlichen sind nicht unter sich. Arme, Alte, Ausländer und andere haben das Feld nicht geräumt. Eine Bestandsaufnahme. Text und Foto: Thilo Großer, Grafiken: Mareile Busse
Das alte und das neue Ehrenfeld: An der Helmholtzstraße stehen sie sich gegenüber. In einer 380.000Euro-Eigentumswohnung wohnt Thomas S. mit Frau und Kindern. Auf die 100-Quadratmeter-Dachterrasse, die zu der James-Bond-Wohnung mit Spritzbetonoptik gehört, kommt das Paar seit dem Umzug aus dem Belgischen Viertel vor lauter Arbeit und Kinderstress nur selten. Sehen sie mal von oben herab, blicken sie auf Koi-Karpfen im Teich des Nachbarn. Baukräne drehen sich, Neubauten rücken heran. Die Kolbhallen, einst industriell genutzt, liegen in Hörweite der neuen Ehrenfelder. „Neulich war GoaParty“, sagt Thomas S.
Abgefuckt, angeranzt und demonstrativ: In den Kolbhallen vollbringen ein paar Künstler seit zwei Jahrzehnten das Kunststück, gegen den Willen der Stadt ein alternatives Eigenleben zu führen.
Abgefuckt, angeranzt und demonstrativ: In den Kolbhallen vollbringen ein paar Künstler seit zwei Jahrzehnten das Kunststück, gegen den Willen der Stadt ein alternatives Eigenleben zu führen. Je näher die Wohnbebauung an das Refugium ehemaliger Hausbesetzer heranwucherte, desto mehr neue Nachbarn rümpften wegen Fetenlärm und Rauchschwaden die Nase. Nach sechs Gerichtsprozessen der Kommune gegen die Kommunarden ist Beruhigung eingekehrt im Kolbhallen-Verein „Wir selbst e.V.“. Die Auflagen sind erträglich. „Wenn wir uns anstrengen, können wir bleiben“, sagt Vorstandsmitglied Uli Schulz. Im Winter wohnt er unterm Hallendach in einem kleinen Zimmer mit Holzofen; im Sommer präferiert er einen Zirkuswagen im Hof. Nach Jahren des Ärgers mit Polizei, An- und Mitbewohnern träumt der 46-Jährige nun von einer beschwerdefreien Koexistenz. Und endlich einem legalen Anschluss ans Stromnetz. Dass sich in Ehrenfeld die Vergangenheit als abgewracktes Veedel und die vermeintliche Zukunft als Luxusquartier besichtigen lassen, ohne dass das eine das andere zu vertreiben vermag, ist erstaunlich. Noch mehr erstaunt, dass diese Vielfalt des Stadtteilalltags in der öffentlichen Debatte inzwischen eher subjektiven Ehrenfeldbildern gewichen ist – einseitigen Betrachtungen in alarmistischem Ton. Die einen sehen hier Gentrifizierung! Partymeile! Designquartier! Ist für diese der Bau eines Einkaufszentrums der Untergang des Abendlandes, ist es für andere der Bau
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Bevölkerungsindikatoren Einwohner
Singlehaushalte
25- bis 34-Jährige
35- bis 44-Jährige
Migranten
1999–2009
1998–2009
1999–2009
1999–2009
1999–2009
Es gibt über 33.500 Ehrenfelder – rund 6 Prozent mehr als 1999.
Immer mehr Menschen leben in Ehrenfeld lieber allein. Die Zahl der Singlehaushalte stieg um fast ein Viertel und liegt inzwischen bei 63 Prozent aller Haushalte (Sülz: 61 Prozent, Köln: 50 Prozent).
In der studentischen Altersklasse hat Ehrenfeld neue Einwohner gewonnen – Köln nicht.
Der Zuwachs in dieser Altersklasse ist deutlich: ein Anstieg um insgesamt 2.500 Personen in den beiden Ehrenfelds.
Im Vergleich zu 1999 hat die Migrantenzahl in Ehrenfeld leicht abgenommen. Seit 2005 wächst die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund wieder.
29,4% Jung, ledig … findet Ehrenfeld
24,2%
5,9%
Die Balken zeigen, wie sich die absolute Größe der jeweiligen Bevölkerungsgruppe in drei Stadtteilen und in Köln insgesamt zwischen den Jahren 1998/99 und 2009 prozentual verändert hat. Der „Migrationshintergrund“ wurde 1999 amtlich noch nicht erhoben. Um ihn zu simulieren, werden hier als „Migranten“ Ausländer und seitdem Eingebürgerte betrachtet. In Ehrenfeld ließen sich seit 1999 rund 2.000 Ausländer einbürgern, in Neuehrenfeld rund 1.000.
8,4%
Ehrenfeld Neuehrenfeld
-7,1%
Sülz Köln Quelle: Amt für Stadtentwicklung und Statistik Köln, eigene Berechnungen
Problemstadtteil! Islamisierung! Arbeiterstrich! Das schlagwortartige Verallgemeinern widerspricht dem Mantra dieses Stadtteils, der heiligen Buntheit.
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minderbemittelt und brauchten deshalb günstige Mieten, erinnert sich auch Ingo Gräbner, Seite 37
der Moschee: Problemstadtteil! Islamisierung! Arbeiterstrich! Das schlagwortartige Verallgemeinern widerspricht dem Mantra dieses Stadtteils, der heiligen Buntheit. Dabei gibt es diesen Facettenreichtum in Ehrenfeld, und zwar heute mehr denn je. Das lässt sich sowohl statistisch belegen als auch im Straßenbild begaffen. Es klingt wie ein Wunder: Ehrenfeld hat neue Bevölkerungsschichten gewonnen, ohne alte zu verdrängen. Das heißt nicht, dass Ehrenfeld nicht doch eines Tages zum monokulturellen Stadtteil werden könnte – sei es zum Yuppiestadtteil oder, wie schon einmal, zum Arme-Leute-Veedel. Solange diese Zukunft aber nicht eingetreten ist, sind das nichts als angsteinflößende Dystopien, die pessimistischen Brüder von Utopien. Stand der Gentrifizierung laut amtlicher Statistik
Vielen fällt jemand ein, der sich hier eine Eigentumswohnung kaufen will. Selbstverständlich stechen neu eröffnete Edelcafés mit WLAN ins
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Auge. Und natürlich gibt es zu denken, wenn ein Immobilienmakler in einem Laden eröffnet, wo vorher seit Ewigkeiten Bilderrahmen handgemacht worden waren. Daraus aber in „anekdotischer Evidenz“ auf den ganzen Stadtteil zu schließen, ist naiv. Repräsentative Aussagen über die Veränderung des Stadtviertels ergeben sich nicht aus Einzelfällen, sondern aus Zeitreihen großer Zahlen. Der vorliegende Text versucht für die Jahre 1999 bis 2009 eine solche Bestandsaufnahme des Stadtteils, und zwar mithilfe von Daten der amtlichen Statistik1, Immobilienpreisen und, wenn Zahlen nicht verfügbar waren, durch Gespräche mit maßgeblichen Beteiligten, vom zuständigen Stadtplaner über den Bezirksbürgermeister und die Designquartiermacherin bis hin zu Immobilienverwaltern. An ähnlichen Versuchen, sich ein objektives Bild über die Veränderungen in Ehrenfeld zu verschaffen, herrscht kein Mangel. Es ist ein beliebtes Sujet für Soziologen. „Gentrifizierung im Pionierstadium“ diagnostizierte eine Diplomarbeit bereits im Jahr 1993 in Ehrenfeld. Eine andere fand im Veedel drei Gruppen vor: Traditionalisten, Ausländer, Alternative. Grob gesagt sind das einheimische Arbeiter, zugezogene Fremde sowie einsickernde Studenten und Künstler. Alle drei Gruppen starteten mal als minderbemittelt. Kommen die Gebildeten mit oder zu Geld, so die Gentrifizierungstheorie, treten die anderen Gruppen den Rückzug an. Verdrängung, nicht Veränderung, ist das relevante Gentrifizierungsmerkmal.
DYSTOPIE 1
Zukunft von früher: Ehrenfeld ohne Ehrenfeld Das Ehrenfeld von heute hat ein Luxusproblem. Investoren halten Kaufkraft und Attraktivität für so gewachsen, dass sich Immobilienplaner regelrecht drängeln. „Wenn ich mir auf dem Papier ansehe, wie sich Standort, Kaufkraft und Einzugsgebiet entwickelt haben“, sagt Immobilienentwickler Alexander Lammerting, „dann würde ich sagen: Ein Einkaufszentrum auf dem HeliosGelände macht Sinn.“ Lammerting ist auf dem Kölner Immobilienmarkt Konkurrent des Helios-Grundstückseigentümers Bauwens-Adenauer. Vor 30 Jahren war eine solche Kaufkraftabschöpfung reine Utopie. Damals war Ehrenfeld eine No-Go-Area für Immobilienleute. Industriebetriebe hatten ihre Produktion raus aus der Stadt verlagert, hinterließen nicht mehr als das Zahnrad im Veedelswappen. Viele Arbeiter und Handwerker verließen Ehrenfeld. Die Einwohnerzahl des Stadtteils sank von rund 40.000 im Jahr 1972 auf ein Tief von 33.000 in 1986; heute liegt sie bei 35.600. Der Leerstand fand nur zu immer niedrigeren Preisen Mieter, vor allem Ausländer zogen her. Deren Bevölkerungsanteil, 1972 noch bei 15 Prozent gelegen, verdoppelte sich binnen zehn Jahren. In Günter Weverings Büro im Amt für Stadtentwicklung gibt es kaum einen Flecken ohne Papierstapel. Der Stadtplaner war über Jahrzehnte für die Rahmenplanung des Stadtteils verantwortlich. In den 70er-Jahren war das kein dankbarer Job. „Hausbesetzer haben mich in meinem Büro überfallen, Schreibtische umgekippt, Parolen an die Bürotür gesprüht.“ Alternative gab es damals schon im Veedel, aber kaum Alternativen. „Wir waren froh, wenn
überhaupt jemand in den Stadtteil investierte“, sagt Wevering.
Wohnungen hatten noch immer kein Bad, keine Heizung und nur Außenklo.
Wenn sonst keiner investieren will, ist aus Sicht der Stadt jeder Investor König. In Ehrenfeld war das Bauunternehmer Kaiser. Mitten ins Krisengebiet klotzte er das Westcenter an der Äußeren Kanalstraße. Noch so ein 24-geschossiges Monstrum wollte er anstelle des heutigen Bürgerzentrums „Büze“ setzen. „Ich habe noch Modellfotos davon“, sagt Wevering. „Das war alles Wahnsinn.“ Ähnlich rabiat war die Vision des gewerkschaftseigenen Baukonzerns Neue Heimat: Die Businessgenossen wollten Dampfwalzen über die Bauten vom Neptunbad bis zum 4711-Gelände rollen lassen – alles plattmachen, alles neu bauen. Die Pläne zu dieser „Flächensanierung“ waren so weit gediehen, dass die Stadt 1970 bereits ein Ersatzbad errichtete – das Bickendorfbad.
Um die Privaten zu überzeugen, im Viertel Hand anzulegen, wurde die öffentliche Hand selbst aktiv. Wohnumfeld-, Baulücken-, Straßenbegrünungs- oder Verkehrsberuhigungsprogramme: Ehrenfeld war in den 80er-Jahren der Kölner Stadtteil, in dem neue Stadterneuerungsinstrumente zuerst zum Einsatz gelangten, meist zu 80 Prozent vom Land NRW bezahlt. Die KVB investierte in die U-Bahn-, die Deutsche Bahn in die S-Bahn-Trasse. Zwar gab es keine Fördermittel für Bauherren, die über die üblichen KfW-Kredite und Abschreibungsmöglichkeiten hinausgingen. Allerdings warb die Stadt mit der Sparkasse für diese Finanzierungen und machte Eigentümern Vorschläge zum Füllen von Baulücken.
Im Jahr 2010 wurde es abgewrackt. Das Neptunbad aus dem Jahr 1912 steht stattdessen immer noch. Revitalisiert. Das bundesweite Umdenken – die Kehrtwende von Abriss zu Denkmalschutz und Wiederbelebung – personifizierte in Köln eine wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Stadtkonservator, Henriette Meynen. Sie schrieb in den 70er-Jahren ihre Doktorarbeit über Ehrenfeld und stufte eine Menge Altbauten als erhaltenswert ein. Private Investoren sollten von nun an nicht mehr plattmachen, sondern sanieren. Doch kaum einer der vielen, meist kleinen Eigentümer steckte freiwillig Geld in den Erhalt einer Gegend, mit der es sichtbar abwärts ging. „Der Wohnungsbestand war in äußerst desolatem Zustand“, sagt Wevering. Viele Ehrenfelder
Heute muss man keinen Ehrenfelder Grundstücksbesitzer mehr davon überzeugen, dass er in seine Immobilie investieren soll. Seit dem Jahr 2009 ist es amtlich: Ehrenfeld kann sich aus eigener Kraft entwickeln. „Nach mehr als 15-jähriger Dauer werden die rechtlichen Instrumentarien zur Steuerung der städtebaulichen Entwicklung nicht mehr benötigt“, heißt es im Ratsbeschluss der Stadt, mit dem die Sanierungssatzung im Gebiet „Ehrenfeld-Ost“ aufgehoben wurde. Das ist das Karree links und rechts der Venloer Straße zwischen Moschee und McDonald’s. Die Sanierung von „Ehrenfeld-West“ jenseits des Gürtels inklusive „Büze“ und „ToskanaKarree“ wurde schon Jahre vorher für beendet erklärt.1 1 Die Stadt Köln veröffentlicht einen Abschlussbericht über die Resultate der Sanierung von Ehrenfeld-Ost. Bei Redaktionsschluss war er noch nicht fertig.
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Ehrenfeld Appeal: Die Berufsjugendlichen sind da
Wer die menschliche Vielfalt in all ihren Formen und Zuständen liebt, der geht aufs Venloer Straßenfest. Einmal im Sommer erblüht die Unterschicht und wird zum Flaneur. Die Billigläden haben ihre Lager auf die Straße gekehrt, die Menschen trinken es sich schön. Es ist ein Rummelplatz für Angeheiterte und Ausgezehrte. Ein Fest des einfachen, schweren Lebens. Wer glaubt, Ehrenfeld sei gentrifiziert, der wird auf dieser Menschenmesse geheilt.
Es ist ein Rummelplatz für Angeheiterte und Ausgezehrte. Ein Fest des einfachen, schweren Lebens. Wer glaubt, Ehrenfeld sei gentrifiziert, der wird auf dieser Menschenmesse geheilt.
Einen ganz anderen Eindruck erhält, wen es auf ein anderes Straßenfest verschlägt, auf „das Parallelstraßenfest“, wie Bezirksbürgermeister Josef Wirges sagt. Auf der Körnerstraße wird nicht Massenware feilgeboten, sondern Individualisiertes. Gestrickt, bedruckt, aufgehübscht – Deko. Vor ihrer Freiluftveranstaltung sorgen sich die Veranstalter online: „Wo gibt’s Strom für den Zimmerspringbrunnen?“
Der kölsche SPD-Mann Josef Wirges, seit 13 Jahren Bezirksvorsteher, hat aufmerksam registriert, dass eine neue Wählerklientel im Veedel Fuß fasst. Soziologen sagen „potenzielle Gentrifizierer“, Wirges sagt „aufgeklärtes Bürgertum“: bildungsnah, zugereist und irgendwie links. „Die haben hier studiert und sich festgesessen.“ Und sie haben, wie alle Einwanderer, ihre eigene Kultur mitgebracht. Nicht unbedingt die seine. Keiner von denen werde je Mitglied werden beim hiesigen Karnevalsverein Blau-Gold, fürchtet Wirges. Beim Körnerstraßenbummel schon mal was gekauft, Herr Bezirksbürgermeister? Der 58-jährige Raucher überlegt. Nein. „Doch! Was zu trinken!“ Die Gardine in Wirges Amtsstube hat keine Goldkante, sondern den Gilb. Hier sitzen Ehrenfeldhopper, Partymeilensammler, Bürgerinitiativen, wenn sie etwas von dem gebürtigen Ehrenfelder wollen. „Diese Leute sind kein repräsentativer Querschnitt von Ehrenfeld“, weiß der Politiker, „aber sie engagieren sich mehr als andere Bevölkerungsgruppen.“ Immer häufiger stehen sie auf der Matte. Ihre Anwesenheit in Ehrenfeld hat in der letzten Dekade nicht nur gefühlt, sondern auch statistisch messbar zugenommen (s. Grafiken). Im Jahr 1999 hatte nur jeder fünfte über 18- bis 80-Jährige in Ehrenfeld ein Hochschulstudium hinter sich – zehn Jahre später ist es jeder dritte. Die poststudentische Altersklasse der 35- bis 44-Jährigen wuchs um fast 30 Prozent – gegen den Trend in Köln insgesamt oder im vergleichbar großen Stadtteil Sülz, wo es praktisch keinen Zuwachs gab. Die Zahl der Einwohner im Studentenalter (25- bis 34-Jährige) ist in Köln gesunken, während sie in Ehrenfeld um 8 Prozent zunahm. Das schlug sich in der Haushaltsstruktur
DYSTOPIE 2
Ändern unerwünscht: Artenschutz für Menschen „Wir müssen aufpassen, dass unser Ehrenfeld erhalten bleibt“, sagen viele gern. Ob es der Idee einer lebendigen, dynamischen Stadt entspricht, zu diesem Zweck ganze Menschengruppen unter Artenschutz zu stellen, sei dahingestellt. Das Ziel, niemanden zu verdrängen, die Mischung also zu konservieren, setzten sich jedenfalls die Kommunalpolitiker, als sie in den 80er-Jahren die Sanierung des Stadtteils beschlossen. Sie verordneten Vorsichtsmaßnahmen. Zwei Instrumente richteten sich gegen die Spekulation auf steigende Grundstückspreise. Aber weder den selten angeordneten Baugeboten noch dem städtischen Vorkaufsrecht ist es zu verdanken, dass die Ehrenfeldsanierung keine Vertriebenentrecks produziert hat. Das Verdienst gebührt dem Neubau.
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Auf noch strengere Auflagen, wie sie eine sogenannte Erhaltungssatzung zum Schutz der Zusammensetzung der Bevölkerung, kurz: „Milieuschutzsatzung“, mit sich gebracht hätte, verzichtete die Stadt. Vermieter hätten sonst jede Umbaumaßnahme auf ihr Verdrängungspotenzial, das heißt auf die resultierende Mieterhöhung, prüfen lassen müssen – ein bürokratischer Tort, den sich Köln nur einmal in den 80er-Jahren im KHDUmfeld in Mülheim antat. Stadtplaner sind mittlerweile bescheidener und akzeptieren, dass sich Bevölkerungsströme nicht steuern lassen. Zwar darf die Stadt bei öffentlich gefördertem Wohnraum über die Miethöhe und Mieterauswahl mitbestimmen. Viele Bauherren und Vermieter verzichten aber lieber auf die Fördermittel, als sich derlei Mitsprache einzuhandeln. Der Anteil der Sozialwohnungen
lag 2009 in Ehrenfeld bei 7,2 Prozent, knapp unter Kölner Durchschnitt, aber zehnmal höher als in Sülz. Der Umgang mit dieser Stellschraube zeigt, welche Blüten der Milieuschutzgedanke auch treiben kann. Sozialwohnungen sollen nach dem Willen der Politik keineswegs nur Bedürftigen vorbehalten sein. Wer einst wohnscheinberechtigt war, inzwischen aber einkommensstark geworden ist, bekommt keinen Räumungsbescheid. Bis zum Jahr 2006 zahlten Mieter in Sozialwohnungen, die so viel verdienten, dass sie gar keinen Anspruch auf den günstigen Wohnraum mehr hatten, immerhin eine sogenannte Fehlbelegungsabgabe. Die Landesregierung schaffte die Abgabe ab. Das Argument: Sie schade der Durchmischung der Quartiere. Sie vertreibe – die Besserverdienenden.
Wohlstandsindikatoren Arbeitslose
Beschäftigte
Einkommen
Akademiker
Grünwähler
1999–2009
1999–2009
1998–2009
1998–2009
1999–2009
Die Arbeitslosenquote ist in Ehrenfeld stärker gesunken als in Köln insgesamt. Mit 11,7 Prozent lag sie 2009 aber noch über dem Kölner Durchschnitt (10,3) – und über der von Sülz (5,5).
Der Anteil der Ehrenfelder sozialversicherungspflichtig Beschäftigten unter den 18- bis 64-Jährigen hat besonders zugelegt und mit 49,2 Prozent den Kölner Durchschnitt (48,4) überholt.
Um 350 Euro ist das monatliche Ehrenfelder Durchschnittseinkommen der 18- bis 80-Jährigen seit 1998 gestiegen. Der Rückstand zum Durchschnittskölner, der 2.100 Euro nach Hause trägt, verringerte sich auf 120 Euro.
Von allen 18- bis 80-jährigen Ehrenfeldern haben 32 Prozent einen Hochschulabschluss – eine Steigerung um 52 Prozent in zehn Jahren. Der Akademikeranteil in Neuehrenfeld und Sülz ist aber insgesamt höher.
Die Popularität der Grünen bei Kommunalwahlen ist zeitgeistkonform in ganz Köln gestiegen – besonders aber in Ehrenfeld. Hier hat sich die Stimmenzahl für grüne Lokalpolitiker fast verdoppelt.
99,2%
52,4% Ehrenfeld materiell & ideell Die Indikatoren für Ehrenfelder Arbeitsmarkt, Bildungsstand und Wahlverhalten signalisieren bürgerlichen Progress. Bildungs- und Bürgertrend färben auch auf den Nachwuchs ab: Der Anteil der Gymnasiasten an einem Ehrenfelder Schuljahrgang ist zwischen 2005 und 2009 um 28 Prozent gestiegen (in Köln um 13 Prozent). Absolut betrachtet ist die Teenbrain-Kluft zu Vierteln wie Sülz allerdings nach wie vor vorhanden: Dort machen zwei Drittel aller Schüler Abitur, in Ehrenfeld ein Drittel.
7,7%
21,5%
Ehrenfeld Neuehrenfeld
-30,8%
Sülz Köln Quelle: Amt für Stadtentwicklung und Statistik Köln, eigene Berechnungen
nieder: Die Zahl der Singlehaushalte vermehrte sich in Ehrenfeld und auch in Neuehrenfeld mehr als doppelt so stark wie im Kölner Durchschnitt. Auch die Zunahme des Grün-Wählens fiel in Ehrenfeld im Vergleich mit Köln oder Sülz euphorischer aus. Ob sich in dem Zeitraum verstärkt auch Homosexuelle in Ehrenfeld niedergelassen haben, die manch Soziologe für weitere geeignete Gentrifizierungsindikatoren hält, ist unbekannt: Geschlechtliche Neigungen werden bei Zuzug nicht erfragt. Eingetragene Lebenspartnerschaften gibt’s erst seit zu wenigen Jahren, und schwule Infrastruktur befindet sich vor allem in der Innenstadt. Ob Ehrenfeld nun schwul geworden ist oder nicht: Die potenziellen Gentrifizierer sind unter uns. Keine Utopie: Gentrifizierung ohne Verdrängung
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wenig Interesse, sich zu armieren Ehrenfeld ist „sauber“, erfährt Prasanna Oommen vom Kriminalhauptkommissar auf Seite 68.
Das Erstaunliche: Das Wachstum der bildungsbürgerlichen Bevölkerungsgruppe in Ehrenfeld ging nicht auffällig auf Kosten anderer. Die Menge der Migranten hat in Ehrenfeld seit 1999 zwar leicht abgenommen (um 7 Prozent), in Neuehrenfeld aber stark zugelegt (um 33 Prozent). Noch immer hat rund jeder dritte Ehrenfelder einen Migrationshintergrund. Obwohl Einkommen und Beschäftigung in Ehrenfeld seit 1999 überdurchschnittlich zugenommen haben, rangiert das Durchschnittseinkommen vom 18- bis zum 80-Jährigen mit 1.980 Euro unter dem Kölner Durchschnitt (2.100 Euro). Bei der Hartz-IV-Abhängigkeit der Einwohner verbesserte sich Ehrenfeld zwar, unter den 86 Kölner Stadtteilen aber von Rang 63 nur auf Rang 49 und Neuehrenfeld von Rang 40 auf Rang 39. Ehrenfeld – eine Boomtown? Township wohl eher, befindet IT-Unternehmer Jochen H., wenn er darüber spricht, warum er hier nicht mehr zur Bank oder Post geht, sondern nur noch Innenstadtfilialen aufsucht und als Einwohnermeldeamt Rodenkirchen bevor-
zugt. „Das liegt nicht an den Angestellten, es liegt an der etwas merkwürdigen Klientel“, sagt H. „So stur.“ Immer stehe einer in der Schlange und halte den Verkehr auf mit Fragen wie: „Ist denn das Geld vom Amt noch nicht da?“ Oder ein Iraner beantrage einen Waffenschein. Mit Strubbelhaar und Röhrenjeans sieht er aus wie ein Punk. Als Chef bemäkelt er, kaum ein Wirtshaus in Ehrenfeld sei firmenessentauglich, stattdessen würden Kölschkneipen auf Szene geschminkt. „Die Leute finden das super, ich nicht.“ Ehrenfeld – ein Stadtteil der Besitzenden? Ehrenfelds Polizeichef, Polizeioberrat Volker Lange, schmunzelt. Sein Wohlstandsindikator sind Wohnungstüren, die Visitenkarte der Besitzstandswahrer. „Kaum technische Prävention“, detektiert der Leiter der Polizeiinspektion Köln-West. Mit anderen Worten: „Man kommt leicht rein.“ Jede dritte Haustür im Veedel springe auf, so schätzt er, wenn man nur dagegendrücke. „Ich sehe weiterhin wenig Interesse der Bewohner, sich zu armieren.“2 Ist in Ehrenfeld der Wohlstand ausgebrochen? Bei der Frage bekommt Bezirksbürgermeister Wirges einen Lachanfall. Läuft gleich ins Nebenzimmer, um sie seiner Sekretärin zu stellen. Als Witz. Sich wieder einkriegend, kommt er wieder: „Das ist eher unwahrscheinlich.“ Falls massenhaft Menschen wegen Luxussanierungen und Umwandlungen in Eigentumswohnungen auf die Straße gesetzt würden – der Mieterverein Köln müsste es mitbekommen. 17 Juristen des Vereins warten geradezu auf Beschwerden. Doch die mehreren Tausend Ehrenfelder Mitglieder beklagen sich nicht mehr als die anderer Veedel. „Ein großer, starker Wandel der Bevölkerungsstruktur ist in Ehrenfeld nicht feststellbar“, sagt Geschäftsführer Jürgen Becher. Er erinnert sich an einige Fälle aus den 90er-Jahren, als
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stadtteiltypische Dreifenster-Häuser von Mehrfamilienhäusern zu Stadtvillen umgebaut wurden – aber an keinen einzigen aktuellen Fall. Ehrenfeld sei keineswegs die gesuchteste Kölner Wohnlage, sondern Lindenthal, Sülz, Klettenberg – Stadtteile, um die sich offenbar kein Gentrifizierungssoziologe sorgt. Der Mieterverein widerspricht dem Eindruck, in Ehrenfeld galoppiere die Preisentwicklung: „Mieterhöhungen spielen keine große Rolle“, sagt Becher. „Die Mieten sind immer noch bezahlbar.“
Was ist geschehen? Haben die Kleinstwohnungen in den handtuchbreiten Altbauten an Größe gewonnen? Gelten pathologiehafte Kachelfassaden hastig hochgezogener Nachkriegsquader jetzt als schön?
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Kunden hasten Welche Kunden nach welchen Waren hasten, zeigt die Grafik auf Seite 78.
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Wie kann das sein: Da ziehen scharenweise Wohlsituierte ins Veedel – und treiben weder Mieten in die Höhe noch verbarrikadieren sie sich? Für das Phänomen gibt es eine einfache Erklärung: Für die neuen Einwohner wurde neuer Wohnraum geschaffen. „Die Veränderung fand nicht im Wohnungsbestand, sondern durch Zubau statt“, sagt Stadtplaner Wevering. Dadurch gerieten die Mieten in den Altbauten trotz Bevölkerungszuwachs nicht so stark unter Druck. Wevering klappt den Rahmenplan von 1988 auf, sein Zeigefinger wandert von Karree zu Karree: Wo ehemals die Sester-Brauerei stand (Piusstraße), die Kwatta-Fabrik (Roßstraße), Messing Müller (Am Kölner Brett), die Mauser- und die VDM-Werke (Marienstraße) – dort und auf vielen anderen Industriebrachen stehen heute Wohnhäuser und werden weitere folgen. Hunderte Baulücken wurden mit unscheinbaren Häusern geschlossen, „die gar nicht als Neubauten auffallen“, sagt Wevering. Verdrängt haben diese Wohnprojekte, wenn überhaupt jemanden, dann höchstens die Reste innerstädtischer Industrie. Das Muster ist bis heute intakt. Derzeit entsteht ein weiterer Wohnpark am Rand von Ehrenfeld (Oskar-Jäger-Straße). Weichen musste lediglich eine leer stehende Autowerkstatt. „Sympathisanten kriegt man nicht, wenn man mit einer Umsiedlung beginnt“, beschreibt Vertriebsleiter Herbert Koep vom Bauträger aus Neuss den Charme von Brachen. „Und wir brauchen im Umfeld Sympathisanten.“ Schließlich komme die Mehrheit von Eigentumswohnungskäufern erfahrungsgemäß aus dem Umkreis von fünf Kilometern. Oliver Krings spielt mit beim Stadtteilmonopoly. Der Bonner Investor hat Häuser in Nippes, Südstadt, Ehrenfeld. „In Ehrenfeld leider nur eins.“ Das Viertel sei durch den Zuzug junger Leute extrem aufgewertet, sagt Krings. Trotzdem erzielt er keine so hohen Mieterlöse wie in der Südstadt, sondern muss Abschläge von 10 bis 20 Prozent hinnehmen. Das liegt nicht an seinen Mietern in Ehrenfeld – sondern an der Bausubstanz. Die ist schlicht schlechter. „Wenn ich die
Maximalmiete verlange, habe ich viel Fluktuation und Leerstand“, sagt der Immobilienmann. Ist nicht seine Strategie. „Das ist ja auch Arbeit.“ Das sehen andere anders. Makler surfen prima auf dem Ehrenfeldhype. 1998 klang die Marktschreierei noch moderat. Der Immobilienführer „Plötz“ beschrieb den Stadtteil damals noch recht ausgewogen mit einer „teilweise schlechten Bausubstanz“ und „teilweise noch gründerzeitlichen Fassaden“: Schließlich besteht Ehrenfeld nicht nur aus dem hergerichteten Neptunbad und Neuehrenfeld nicht nur aus der Eichendorffstraße. Wundersamerweise weiß die „Plötz“-Ausgabe des Jahres 2010 potenziellen Investoren nunmehr von „schönen Gründerzeitbauten“ und „ansehnlicher alter Bausubstanz“ im „In-Viertel“ und „Aufsteigerviertel“ zu berichten. Was ist geschehen? Haben die Kleinstwohnungen in den handtuchbreiten Altbauten an Größe gewonnen? Gelten pathologiehafte Kachelfassaden hastig hochgezogener Nachkriegsquader jetzt als schön? Und stammen die modernen, pärchenoptimierten Wohnblocks aus den Jahren 1900? Auch wenn es noch so schön wäre: Ehrenfeld ist kein „Gründerzeitviertel“. Und auch kein Familiensmåland. „Das besondere Wohngefühl“, das Evonik Wohnen in neuen Wohnblöcken an der Alpener Straße verspricht, dürfte zu einem ganz und gar besonderen werden, wenn die zugezogenen Kleinfamilien beim Spielen nebenan auf dem Alpener Platz den Spritzenautomat für Junkies entdecken. Nicht jede Irritation ließe sich so leicht beseitigen. In der Sozialstruktur und im Immobilienangebot dominiert der Bestand, nicht dessen Veränderung. Diese fällt nämlich anteilsmäßig immer vergleichsweise klein aus. So ist zwar durch den Neubau eher großer Wohnungen seit dem Jahr 1985 die Wohnfläche je Ehrenfelder von 25 auf 34 Quadratmeter gestiegen. Dennoch ist die durchschnittliche Wohnung aktuell nur 58,5 Quadratmeter groß (Neuehrenfeld: 65,7; Köln: 71,6). In solche Wohnungen zieht man nicht, um zu bleiben. Ehrenfelder Familiengründer orientieren sich darum traditionell stadtauswärts, zum Beispiel nach Bickendorf. Gerade große und billige Altbauwohnungen, das Nonplusultra für ein unter Aufwertungsverdacht stehendes Viertel, sind in Ehrenfeld rar. Sanierungsschätze „mit Ausbaupotenzial“, wie es im Immobilienjargon heißt, sind somit kaum zu heben. Auch eine andere Ehrenfelder Standortschwäche klingt wie eine Gentrifizierungsbremse: Von Ehrenfeld sind nur 4 Prozent der Fläche eingestuft als Erholungsfläche. In Sülz sind es 41 Prozent (Köln: 10 Prozent). Die enge, für manche klaustrophobische Bebauung lässt wenig Platz für Parkplätze und für Parks. Es ist schwer vorstellbar, dass ambitionierte Immobilienkäufer in ihrem Umfeld auf beides verzichten möchten. Pulp Fiction: Kaufkraft Ehrenfeld
Laut Kölner Einzelhandelskonzept ist die Venloer Straße ein Knochen. Steht erst das Shoppingparadies auf dem Helios-Gelände, so das Konzept, dann werden zwischen zwei Einkaufszentren Kunden hasten, Geld bei den Kleinkrämern am Wegesrand lassend. Dass so viel Fleisch am Knochen sei, bezweifeln manche ansässigen Geschäftsleute, selbst an diesem nagend. Orly Licht beispielsweise hat partout etwas gegen das Einkaufszentrum auf dem Helios-Gelände. Sie
Immobilienindikatoren Schreit Ehrenfeld: Geld? Preise für Miet- und Eigentumswohnungen und für Gewerbeobjekte werden von der amtlichen Statistik nicht erfasst. Der Kölner Mietspiegel weist Preisspannen nicht nach Stadtviertel, sondern nach „einfacher, mittlerer und sehr guter“ Wohnlage aus. Onlineportale, Makler und Immobilienfinanzierer zeichnen kein verlässliches Bild, da sie unterschiedliche Datenquellen und Bewertungsmethoden nutzen. Die Aussagekraft allgemeiner Mietpreise ist ohnehin beschränkt. Es gibt kein einheitliches Mietniveau in einem Stadtviertel, noch nicht einmal in einer Straße. Selbst in ein und demselben Haus weichen die Mietpreise voneinander ab: Bestandsmieten liegen deutlich unter den Neuvermittlungsmieten, weil Mieterhöhungen meist auf den Zeitpunkt der Neuvermietung verschoben werden. Für die Grafik wurden, um dennoch Immobilienpreise im Zeitverlauf vergleichen zu können, Angaben aus dem „Plötz Immobilienführer Köln“ der Jahre 1997/98 und 2010 verwendet.
Bautätigkeit
Wohnungsmiete
Eigentumspreis
Büromiete
1999–2009
1996–2009
1996–2009
1996–2009
Geschäftsmiete Venloer Str. 2009
7,9 Prozent der Wohnungen in Ehrenfeld wurden seit 1999 fertiggestellt. Die Bestandserneuerungsquote war damit höher als in Köln insgesamt.
Zumindest laut „Plötz Immobilienführer Köln“ hat sich die durchschnittliche Miete in Ehrenfeld kaum verändert (7,5 bis 9 Euro kalt). Die Redaktion gibt dem Veedel „3 Punkte“ – einen mehr als 1996, aber einen weniger als Sülz.
Gestiegen sind die Eigentumswohnungspreise. Ein Quadratmeter Ehrenfeld kostete 2009 im Schnitt 1.850 Euro. Sülz verlangte Käufern 2.300 Euro je Quadratmeter ab.
Die Büropreise sind relativ stabil geblieben. Sie lagen 2009 in allen drei Stadtvierteln bei um die 11 Euro je Quadratmeter.
Die Mieten für Einzelhändler auf der Venloer Straße sind höher als 1996 und auf dem Niveau der Dürener und Neusser Straße.
32,5%
8,0%
7,9% -1,2%
2,8% Ehrenfeld Neuehrenfeld Sülz Köln Quellen: Plötz, Amt für Stadtentwicklung und Statistik Köln, eigene Berechnungen
vertritt schließlich selbst eins. Ihre genaue Funktionsbezeichnung ist kompliziert. Sie ist Angestellte einer Consultingfirma, handelt im Auftrag eines Immobilienfonds, beaufsichtigt eine Hausverwaltung. Kurz: Sie spricht fürs Barthonia-Forum und hat in diesem das Sagen. „Wir brauchen nicht noch mehr Geschäfte in Ehrenfeld“, sagt sie. „Wir sind froh, wenn wir die Geschäfte voll bekommen.“ Das Barthonia-Forum ist das eine Ende des Knochens. Ein dickes Ende. Zu dem Komplex gehört nicht nur das Kaufland, sondern auch das 4711-Areal sowie Häuser an der Venloer Straße, inklusive Wohnungen, Büros und Einzelhandelsflächen. „Vom Chiropraktiker bis zur Darmspülung“ könne man bei ihr alles haben, lacht Licht. „Die Leute müssen nicht raus auf die Venloer Straße, die Leute finden hier alles“, preist sie das 70.000-Quadratmeter-Gewerbe-Ufo, das 1995 in Ehrenfeld gelandet ist. Slogan des Barthonia-Forums: „Die Stadt in der Stadt“. Die Nachfrage nach Gewerbeflächen sei nicht so, wie sie sich das vorstelle, sagt Licht. Sie beklagt Leerstand auf der Venloer Straße. Die Mieten dort seien gesunken, auch die Qualität. „Wir haben doch alle nicht mehr Geld im Portemonnaie“, erklärt sie sich das. „Es ist nicht mehr das zu erzielen, was vor sechs Jahren zu erzielen war.“ Mit solchen Argumenten begründet die BarthoniaVerwalterin, warum Ehrenfeld kein weiteres Einkaufszentrum brauche. Die wohlfeilen Argumente scheinen aber nicht immer Gültigkeit zu haben, wenn eigene Gewerbemieter vorstellig werden. „Uns wurde der Stadtteil Ehrenfeld wie ein neues Manhattan beschrieben“, erinnert sich Seher Ergenekon vom „Café Schwesterherz“ an ihr Gespräch mit der Barthonia-
Verwaltung „Domizil“. Die Vision wurde bemüht, um sie über die rund 500 Euro hinwegzutrösten, die sie pro Monat mehr für den Laden zahlt als ihr Vorgänger. Auch andere Gewerbemieter von Domizil auf der Venloer Straße sahen sich Mitte 2010 mit höheren Mietforderungen konfrontiert.
„Die Leute müssen nicht raus auf die Venloer Straße, die Leute finden hier alles“, preist sie das 70.000-QuadratmeterGewerbe-Ufo, das 1995 in Ehrenfeld gelandet ist. Der Eigentümer des Barthonia-Forums ist ein luxemburgisch-zypriotisch-israelischer Immobilienfonds namens Terra-Heimbau Köln S.a.r.l. & Co. KG. Dieser erzielt in Ehrenfeld nach dem Erwerb vom früheren Besitzer Barth jährliche Mieteinnahmen von rund 10 Millionen Euro. Die künftigen Interessen stehen unverblümt im Geschäftsbericht: „Das Ziel des Managements ist es, den freien Cash Flow aus der Immobilie durch Steigerung der Mieteinnahmen und Reduzierung der operativen Kosten zu maximieren.“ Steigende Ladenmieten zu erwirtschaften – das hielten sowohl Bistrobetreiber Nicolas Maruelle als auch Blumenhändler Claus Moskopp für illusorisch. Beide haben ihre Geschäfte im Jahr 2010 aufgegeben. „Der
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Charme von Ehrenfeld sind viele Studenten und es ist alternativ“, sagt Maruelle, ehemaliger Betreiber des Bistros „Les Saveurs de Provence“. „Aber das heißt auch: Es sind nicht so reiche Leute“, sagt der 35-jährige Bretone. Florist Moskopp wird deutlicher: „Ehrenfeld ist dafür bekannt, dass die Leute nichts ausgeben wollen.“ Als nach Auslaufen seines Mietvertrags das neue Mietangebot um rund 1.000 Euro höher lag, rund ein Drittel mehr als in den Jahren zuvor, räumten der 55-jährige
Ehrenfeld ist kein Pflaster für Schwarzmaler und Weißwäscher. Das Grau fasst hier jeden an. Selbst den zum Buhmann erkorenen Immobilienunternehmer und IHKPräsident Paul Bauwens-Adenauer. Zu den Ermöglichern dieses Protestabends gegen ihn – zählt er unfreiwilligerweise selbst. und seine beiden Angestellten das Feld. Er fährt jetzt lieber als Blumenkurier. „Ich bin froh, dass ich da raus bin.“ Ein Vermittler von Türkei-Immobilien zog ein. Das Barthonia-Forum steht schon lange in der Kritik. „Die Bebauung hat sich nicht eingefügt, die Fluktuation ist hoch, und das, was angeboten wird, hat keine neuen finanzkräftigen Kundenströme angezogen“, sagt Bezirksbürgermeister Josef Wirges. Letzteres lässt sich besichtigen. Werktags hocken auf dem Vorplatz
arme Kerls in Taubennischen. Sie nutzen den Komplex vor allem als Oettinger-Quell, des besten billigen Biers, und als kostenfreien Abtritt (hinter den Kassen). Manch Ortskundiger spricht von „Hartz-IV-Plaza“. Wirges sagt: „Wir müssen darauf achten, dass unser Herzstück Helios-Gelände sich nicht so entwickelt wie das Barthonia-Forum.“ „Immer nur die Kritik, dass das Barthonia-Forum so tragisch schlecht sei!“ Terra-Heimbau-Vertreterin Licht will es nicht mehr hören. Muss sie zum Glück auch immer seltener. Seit es die Pläne fürs Helios-Gelände gibt, ist sie aus der Schusslinie. Widerstand gegen das neue Einkaufszentrum wird so organisiert, als gehe es grundsätzlich gegen Mammon, Mall und Mordor. Vertreter der Bürgerinitiative malen bei ihrem Treff im Februar regelrecht den Teufel an die Wand, und verbünden sich mit dem Beelzebub. Für die „Bürgerinitiative Helios“ ist das Barthonia-Forum kein Adressat für organisierte Veedelskritik, sondern ein Gleichgesinnter. Das Management des Barthonia-Forums sei geneigt, den Aufruf gegen Bauwens-Adenauer zu unterschreiben, verkündet stolz ein Aktivist. „Wir können uns die Mitstreiter nicht aussuchen“, sagt er später am Stand der „AG Einzelhandel“. Sicher, das Barthonia-Forum wolle sich seiner Ansicht nach bloß die Konkurrenz vom Leibe halten. Keine Bedenken deswegen? „Ich nehme jede Unterstützung, ist doch klar“, sagt der Mann, von Beruf Buchhändler. Ehrenfeld ist kein Pflaster für Schwarzmaler und Weißwäscher. Das Grau fasst hier jeden an. Selbst den zum Buhmann erkorenen Immobilienunternehmer und IHK-Präsident Paul Bauwens-Adenauer. Zu den Ermöglichern dieses Protestabends gegen ihn – zählt er unfreiwilligerweise selbst. Ihm gehört die Fabrikhalle, in die seine Gegner von der Bürgerinitiative Helios für ihre Veranstaltung geladen haben. Wie das möglich ist? Willkommen im Designquartier Ehrenfeld (DQE).
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er Autor bedankt sich bei Herbert Asselborn vom Amt für StadtentD wicklung und Statistik Köln für die stadtteilbezogene Sonderauswertung des städtischen Datenbestands. Obwohl die Daten zur Kriminalitätsentwicklung für Ehrenfeld – wie für alle anderen Stadtteile auch – vorliegen, werden sie von der Kölner Polizei nicht veröffentlicht. Kein Stadtteil solle in der Presse stigmatisiert am Pranger stehen, so die Begründung.
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Werbung von Stadtteilkreativen 2001 und 2010 Zunahme/Abnahme der Zahl der Anzeigen von Bioläden und Designgeschäften verschiedener Stadtteile in den StadtrevueBeilagen „öko in köln“ 12/2001 und „immergrün“ 11/2010
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Gewinner: 1. Innenstadt+Friesenviertel +5 2. Belgisches Viertel+Quartier Latäng +3 3. Zollstock +3 4. Lindenthal+Braunsfeld +2 5. Nippes +2
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Verlierer: 6. Ehrenfeld+Neuehrenfeld -4 7. Südstadt -4 8. Nordstadt -4 9. Sülz+Klettenberg -9
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DYSTOPIE 3
Ehrenfeld als Designquartier DQE ist ein Projekt, das die Immobilienwirtschaft so gut findet, dass sie es seit 2009 unterstützt. Aurelis Real Estate GmbH & Co. KG, Deutsche Immobilien AG, GAG Immobilien AG – sie alle bezeichnet DQE-Initiatorin Sabine Voggenreiter vor Geldgebern der öffentlichen Hand als private Projektpartner und Sponsoren. Keine zufällige Auswahl. Alle sind auf dem Immobilienmarkt in Ehrenfeld aktiv, am Güterbahnhof, in der Alten Wagenfabrik, am Grünen Weg. Ebenso wie die Bauwens Real Estate Group. Auf deren Gelände ist DQE in Ehrenfeld Monat für Monat mietfrei zu Gast, im Tausch gegen Spendenquittungen. Die sind fürs Bauwens-Unternehmen steuerlich absetzbar, vermindern also Steuerzahlungen. „Wir finden allgemein gut, was Frau Voggenreiter macht“, erklärt eine mit dem Heliosprojekt betraute Mitarbeiterin bei Bauwens die einstige Entscheidung fürs Sponsoring. Sie habe sich allerdings nicht vorgestellt, „dass es so endet.“ Sie habe sich über die Veranstaltung der Bürgerinitiative im Februar in der DQE-Halle gewundert. Nach Aussage von Voggenreiter kann es für ihren Vermieter nicht überraschend sein, dass DQE – wie andere auch – für dessen Grundstück ein vermeintlich besseres Konzept in petto hat als eine Shoppingmall. „Er kennt es, findet es eigentlich auch gut“, sagt Voggenreiter. Ihr Vorschlag lautet, dass „das Helios-Gelände ein kulturelles Zentrum werden könnte, nicht unbedingt ein kommerzielles.“ Anders als jene, die die Rolle des Eigentümers auf die des Namensgebers für einen „Bauwens-Adenauer-Park“ reduziert sehen wollen und diese Idee per Aufkleber in Kneipentoiletten verbreiten, wird Voggenreiter ernsthaft aktiv. „Das Grundkonzept, dass man den Gebäudebestand vom HeliosGelände auch kulturell nutzen kann, habe ich schon in Richtung Politik verbreitet.“ Die Designquartiermacherin sitzt in einem kleinen Container. Der steht in der Mitte der leeren Fabrikhalle. Ein Büro für ihre Mitarbeiter. Womit befassen die sich gerade? „Wir untersuchen, ob Ehrenfeld ein CO2-freier Stadtteil werden könnte“, sagt sie. „Ich sage bewusst CO2-frei, nicht CO2-neutral.“ Im Container ist’s kuschlig, in der Halle kalt. Keine Heizung, keine Dämmung. Manchmal liegen Welten zwischen Vision und Wirklichkeit. Voggenreiter, seit 22 Jahren Veranstalterin der Kölner Designwoche „Passagen“, hat viele Visionen. Sah sie vor
drei Jahren auf den Stadtteil Ehrenfeld, sah sie eine „mehrdimensionale Bühne für junge kreative DesignerInnen“, „von einem Hauch Kristiania1 und Abenteuer umweht“, das „kreative Einwanderungsland Ehrenfeld“. Ihre Idee: „Alle innovativ Kreativen“ sollten „ermuntert werden, sich hier niederzulassen“, zum Beispiel als „Designer in Residence“, um eine „kritische Masse“ zu erreichen und die „Sogwirkung weiter zu verstärken“. Mit dieser Projektbeschreibung gelang es Voggenreiter, beim Land NRW 774.200 Euro locker zu machen, bei der Stadt Köln 96.780 Euro und noch einmal so viel bei Sponsoren. Insgesamt knapp 1 Million Euro, verteilt über drei Jahre.2 Das „Designquartier Ehrenfeld“ – annonciert als ein Zuwanderungsprojekt. Architekten, Texter, Grafiker, Werber, Musiker: Kreative Dienstleistungsberufler gelten bei einigen Wirtschaftsförderern als die Alchimisten unserer Zeit. Als die, die in der Lage sind, Bruttosozialprodukt aus dem Nichts zu schaffen. Die für Aufwertung sorgen, für ökonomisches Aufwärts. „Kreative sind ein Potenzial für Ehrenfeld“, glaubt auch Bezirksbürgermeister Josef Wirges. Für diese Klientel stehen DQE statistisch betrachtet pro Jahr rund 500 Euro pro Ehrenfelder sozialversicherungsrechtlich anerkannten Künstler, Texter, Musikant oder Clown zur Verfügung. Im Gespräch beruft sich Voggenreiter häufig auf „unsere Szene, unsere Community, unseren Pool“. Nichtsdestotrotz hält sie sich nicht für eine Branchenlobbyistin der künstlersozialkassenversicherten Freiberufler, sondern will für alle im Veedel sprechen, zum Beispiel als Bürgervertreterin im Rahmenplanungsbeirat des Gewerbeund Brachflächengebiets Braunsfeld-Müngersdorf-Ehrenfeld. „Was mich besonders interessiert: Wie man ein Viertel von unten, also bottom-up, so entwickeln kann, dass sich alle darin wohlfühlen.“ Das ist eigentlich der Job der Kommunalpolitik. Ob Heliosbebauung, Verkehrswegeplanung, Fördermittelvergabe: „Wer sich am lautesten artikuliert, der wird am ehesten auch wahrgenommen“, sagt Bezirksbürgermeister Wirges. Er achte darauf, „dass nicht die Leute rausfallen, die nicht so einen Promotionmanager haben.“ Um seinen Worten Taten folgen zu lassen, hat der gewählte Stadtteilrepräsentant 50 Cent pro Ehrenfelder zur Verfügung. „Ein Witz“, sagt er. Diese sogenannten Verfügungsmittel sind das einzige Geld, über das die Stadtbezirksver-
sammlung allein entscheiden darf. 52.700 Euro pro Jahr für den ganzen Stadtbezirk. Schulfeste, Kulturvereine, Integrationsprojekte – auf viel Hilfe darf kein gemeinnütziger oder ehrenamtlicher Antragsteller hoffen, wenn er von Sparmaßnahmen des städtischen Etats getroffen wurde. In der DQE-Halle wird derweil überlegt, wie man aus Küchenabfällen Kompost macht, wie man in Verkehrsinseln Tomaten und Wein anbaut oder wie die regionale Küche schmeckt, sagen wir „Honighalbgefrorenes“. „Urbane Agrikultur“ steht auf dem DQE-Programm 2011. „Damit kann man den Stadtteil nach vorne bringen“, glaubt Voggenreiter. Ihr Bild vom Stadtteil ist ebenso visionär wie harmonisch. In den Beschreibungen klingt Ehrenfeld nach einem unbestellten Land. Jeder ein Pionier. Niemand tritt jemandem auf die Füße. Nutzungskonkurrenz für den Nutzpflanzenanbau – ob durch Wohnungsprojekte oder Hundelaufwege – erwartet sie keine. Die vielen türkischen Gemüsehändler würden durch kreative Stadtbauern nicht verdrängt, sondern selbst zu welchen. „Die wissen doch, was hier am besten wächst, weil die ja da schon viel mehr Erfahrung haben als andere“, sagt Voggenreiter. Auch klamme Mieter müssten sich nicht vor dem Zuzug kreativer Bohemiens fürchten – denn die seien selbst arm. „Die Leute, die Ehrenfeld an Kreativen anzieht, können auch nicht mehr Miete bezahlen als die Alteingesessenen“, sagt sie. „Es ist ja nicht so, als strebten hier reiche Künstler her.“ Es ist fraglich, ob das noch so sein wird, wenn Ehrenfeld nicht mehr nur das Etikett „Designquartier“ aufgenäht wird, sondern noch dazu das Label „CO2-frei“ trägt, wie sie es sich erträumt. Dabei ist sie ganz und gar nicht blauäugig. Ob sie wisse, dass eine ökologische Runderneuerung Millioneninvestitionen in Gebäude, Verkehr, Energieeffizienz erfordere – Millionenkosten, die finanziert werden müssten, durch Mieterhöhungen, Preisaufschläge, Einschränkungen? „Ja, genau“, sagt Voggenreiter. Und? Sie verweist auf ihre Leute. Die fahren jetzt schon alle Fahrrad. emeint ist der „Freistaat Christiania“, ein seit den 70er-Jahren von vielerlei G Alternativen besetztes ehemaliges Militärbarackengelände in Kopenhagen, in dem eigene Regeln gelten, zum Beispiel bezüglich des Rauchens. Die Anwohner verschafften sich ihre Freiheitsräume gegen den Willen staatlicher Institutionen, nicht mit deren Hilfe. 2 Wen es interessiert, mit welchen Worten sich begründen lässt, dass man Hunderttausende Euro Fördergeld bekommen sollte, lese die „Projektbeschreibung“ des Designquartiers Ehrenfeld unter: ratsinformation.stadtkoeln.de/vo0050.asp?__kvonr=15695&voselect=2826. Bloß kein Neid: Aus demselben EU-cofinanzierten NRW-Fördermittelnapf (createNRW) griffen sich musikaffine Popkreative im 4711-Haus („Sound of Cologne“, c/o pop) ebenfalls einen Geldbatzen. 1
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… und was wir dort fanden Fotos: Jule Steffen und Matthias Schmidt
Wenn wir ein Bild sehen, bedeutet es genau das, was wir für richtig halten – nicht mehr und nicht weniger. Wir fragen nicht, ob ihr etwas anderes sehen wollt. Wir fragen nicht, wer der Stärkere ist. Wir sind so schnell, dass wir den Boden kaum berühren, schwindelig und atemlos. Wir haben schon vor einer ganzen Weile herausgefunden, dass im menschlichen Gehirn die unbewussten Prozesse den bewussten vorausgehen. Für einen Augenblick sehen wir auf der Reise durch die Scheibe unseres Gefährtes: Himmel, Nebel, Wälder, das Innere und Äußere noch der geheimsten Verliese, den Ozean. Wir sehen uns voller Überraschung um. Wir werden alle Oberflächen erschüttern, alle Handhabungen schwanken lassen und in Unruhe versetzen. Wir werfen die Taxonomie nicht über Bord – wir zwingen sie dazu, die Kategorien neu zu schreiben. Wir sind die ganze Zeit nur hier geblieben. Es ist alles wie zuvor. Nichts ist wie zuvor.
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Mission: Mischen!
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Wie die Polizei in Köln versucht, Stadtplanern und Investoren soziale Mischungen schmackhaft zu machen. ehrenfelder über die unfreiwillige Schützenhilfe der NRW-Polizei1 für AntiGentrifizierer. Interviews/Text: Prasanna Oommen Fotos: Stefan Flach, Olaf Hirschberg
KHK Knut Samsel
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… Kalk und Ihrefeld Im Volksmund galt Ehrenfeld als ein Ort auf der Achse des Bösen in Köln. Vgl. auch ehrenfelder #1, Seite 3
Der Wandel innerstädtischer Quartiere findet seit geraumer Zeit bundesweite Beachtung. Die beteiligten Akteure – ob in Hamburg, Berlin oder auch Köln – könnten unterschiedlicher nicht sein und doch verbindet sie alle eins: Die Angst vor dem Verlust ihrer liebgewonnenen Viertel, Veedel oder Kieze an schicke Langweiler: Gentrifizierung! Dass auch die Polizei diesem Treiben Einhalt gebieten kann, hatten wir nicht erwartet.
Ehrenfeld, ein gefährlicher Melting-Pot?
„Alles Schlechte dieser Welt kommt aus Nippes, Kalk und Ihrefeld“, dieses alte Klischee, das dem Stadtteil Ehrenfeld anhaftet, muss man schon seit geraumer Zeit infrage stellen. Sind es am Ende nur gefühlte Schlechtigkeiten oder mündlich überlieferte Mythen, mit denen Ehrenfeld zu kämpfen hat? Oder ist es tatsächlich so vermüllt, wenig deutschsprachig und durchzogen von organisierter Kriminalität, wie immer gemunkelt wird? Und sollte das im Zuge des Gentrifizierungsprozesses gar still und leise unter den Teppich gekehrt werden, um potenzielle „bildungsnahe Zugezogene“ nicht zu verschrecken? Ein Gespräch mit dem Kriminalkommissariat 53 (KK 53) in der Wache Ehrenfeld soll Licht ins Dunkel bringen und dazu beitragen, die eventuell vorhandenen mafiösen Strippen, die vermeintlich hinter Ehrenfelds Kulissen gezogen werden, offenzulegen. Der freundliche Dienststellenleiter, Kriminalhauptkommissar (KHK) Herr Schmitz, kontert Fragen nach der „bulgarischen Zigeuner-Mafia“, „Schutzgelderpressungen“, dem „Arbeiterstrich in der Hansemannstraße“ oder auch dem „rechten Aufmarsch gegen die Moschee“ sanft, aber durchaus bestimmt mit dem nicht enden wollenden Credo, Ehrenfeld sei so „sauber“ wie selten zuvor – kriminalstatistisch gesehen. Auch die Frage nach der Einsicht in Statistiken über die Zuordnung von Straftaten in den jeweiligen Kölner Stadtteilen bleibt unbeantwortet: Nein, die Polizei lege diese nicht offen, denn brandmarken oder „abstempeln“ wolle man die Menschen in den Kölner Veedeln nun wirklich nicht. Ob nun Jugendbanden wie die „Weinsberg Brotherhood“ oder die „OGs“ aus Ossendorf über feste Strukturen verfügen oder nicht, darüber mag man sich streiten, doch für den Bezirk Ehrenfeld steht laut den Herren2 vom KK 53 fest: Hier könne man im Bereich der Jugendkriminalität höchstens von „Phasenkriminalität“ sprechen, die sich episodenhaft darstelle und mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter meist ein jähes Ende fände. Schwerpunkte in Ehrenfeld seien Betrugsdelikte, Eigentumsdelikte und häusliche Gewalt. Rückschlüsse auf Bevölkerungsstrukturen ließen sich jedoch nicht ziehen.
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Ein erstes Fazit: Ohne nennenswerte Einblicke in interne Polizeistatistiken bleibt es beim Stochern im gefühlt anrüchigen Nebel, der nicht weiter spannend oder gar relevant für die Stadtteilentwicklung Ehrenfelds erscheint. Was nun? Neues Dezernat – neues Glück.
Wer, wenn nicht die Stadtplaner und Investoren, müsste genau dasselbe Interesse an Ehrenfelds Untiefen haben? Lohnt sich Ehrenfeld als Investment oder nicht? Werden die wacker ver-
„Wir versuchen zum Beispiel Sozialwohnungen mit Eigentum oder Jung und Alt zu mischen. Ziel sollte sein, dass die Gegend immer eine soziale Kontrolle hat.“
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Angst-Räume Thilo Großer weist nach, dass subjektive Empfindungen keine aussagekräftigen Parameter für die tatsächliche Faktenlage bilden. Seite 52
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Helios-Einkaufszentrum Bernd Willberg enlarvt utopisch anmutende Heilsversprechen moderner Einkaufszentren. Seite 10
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folgten Immobilienprojekte und zugezogenen bildungsnahen Bürger sonst am Ende den nicht weichenden kriminellen Subjekten und Drogenmilieus zum Fraß vorgeworfen? Glücklicherweise gibt es seit dem 11.10.2007 einen Kooperationsvertrag zwischen dem Oberbürgermeister der Stadt Köln und dem Kölner Polizeipräsidenten zur Verbesserung der Sicherheit in Köln: Das KK 61 – ein neu geschaffenes Dezernat für städtebauliche Kriminalprävention – bietet dem interessierten Bürger hoffentlich mehr Transparenz und Lobby im Kampf gegen das gefühlte „Schlechte dieser Welt“. KHK Knut Samsel, auf dessen Tisch alle relevanten Bau- und Sanierungsvorhaben der Städte Köln und Leverkusen landen, damit er Empfehlungen für notwendige Sicherheitskonzepte ausspricht, kann bisher kein einziges Vorhaben aus Ehrenfeld zitieren. Ein erster Indikator für den ausschließlich gefühlten und nicht realen Angst-Raum? Samsel vermutet, dass bisher wahrscheinlich keine Empfehlungen benötigt wurden. Ehrenfeld scheint also tatsächlich kein „heißes Pflaster“ zu sein. Bis jetzt. Ob das geplante Helios-Einkaufszentrum sich zu einem Angst-Raum hinsichtlich krimineller und verkehrstechnischer Bedrohungen entwickelt, wird auch an der Bereitschaft der Planer liegen, die von Knut Samsel entwickelte Checkliste3 für die Planung innerstädtischer Quartiere und Einkaufszentren mit zu berücksichtigen – vorausgesetzt die Mithilfe der Polizei bei diesem Vorhaben wird angefordert. Langsam aber sicher wird der sperrige Begriff „städtebauliche Kriminalprävention“ spannend
für potenzielle Anti-Gentrifizierer. Denn: Die Kölner Polizei erscheint im städtebaulichen Kontext erfreulich „unkorrumpierbar“. Ihr Auftrag im Rahmen des Kooperationsvertrags steckt klare Grenzen hinsichtlich vielfältiger Investoren- und Anwohnerinteressen im Verschacherungswettbewerb aufstrebender Stadtviertel. „Die Polizei will weitergeben, wo, warum und wie Kriminalität entsteht und in welcher Häufigkeit – und diese Erfahrung in den Planungsprozess einfließen lassen. Wir wollen nicht in die Gestaltung eingreifen“, stellt Knut Samsel klar. Der KHK betont, man wolle nur die Entstehung von Angst-Räumen verhindern, und das auf der Basis langjähriger Erfahrung mit eben jenen. Dabei unterscheidet der Beamte deutlich zwischen gefühlten und tatsächlichen AngstRäumen. „Wenn man durch die Stadt geht, kommt man immer mal in Bereiche, in denen man sich nicht wohlfühlt – ein langer Schlauch, Graffiti, vermüllte Orte, zu hoch gewachsene Büsche. Das sind subjektiv empfundene AngstRäume“, beschreibt Samsel. „Meistens passiert gerade dort nichts.“ Der Anspruch seiner Dienststelle sei, im städtebaulichen Planungsprozess sehr früh, „nämlich lange bevor Investoren mit am Tisch sitzen“, eingebunden zu werden. Sogenannte Scoping-Termine, die anlässlich der Grundlagensammlung aller beteiligten Behörden und Akteure veranstaltet werden, seien enorm wichtig, um Problemstellungen etwaiger Bauprojekte rechtzeitig zu erfassen und den Investoren und Planern mit an die Hand zu geben. Grundlagensammlung und Empfehlungen? Nach einer rechtsverbindlichen Bandbreite an Eingreifmöglichkeiten klingt das nicht. Tatsächlich räumt der Hauptkommissar ein, eine rechtliche Handhabe existiere nicht, aber er beschreibt uns (leider off the record) einen Fall aus jüngster Vergangenheit, in der sich die Polizei bis zu ihrem Präsidenten hinauf auf politischer Ebene engagiert hat, um ein Bauvorhaben im innerstädtischen Bereich zu stoppen. Die Umplanung eines massiven Angst-Raums schien zunächst an einem uneinsichtigen Planer zu scheitern, doch die Polizei setzte alle ihr zur Verfügung stehenden Hebel in Bewegung und erwirkte trotz mangelnder Rechtsgrundlage einen Planungsstopp. „Wenn wir sagen, dass wir im Falle eines negativen Vorfalls in diesem von uns vorhergesehenen Angst-Raum an die Öffentlichkeit gehen, zeigt das natürlich Wirkung“, bestätigt Samsel den glücklichen Ausgang dieses Tauziehens. Die abgegebene Empfehlung durch das KK 61 sei in den Bauunterlagen jederzeit einsehbar und zurückverfolgbar und könne daher von widerspenstigen Bauherren nicht so einfach ignoriert werden. Samsel ist realistisch hinsichtlich der Grenzen polizeilicher Einflussnahme innerhalb eines Bauvorhabens. Und dennoch: Seine Antwort klingt fast idealistisch und könnte bei man-
chem Gentrifizierungsgegner sicher inneres Jubilieren auslösen: „Es obliegt uns nicht zu sagen, da kommt das oder das hin. Wir versuchen immer darauf hinzuwirken, zu mischen. Wir versuchen, Monokulturen zu verhindern.“ Noch deutlicher wird Samsel, als er seine Ideal-Mischung definiert: „Wir versuchen zum Beispiel Sozialwohnungen mit Eigentum oder Jung und Alt zu mischen. Ziel sollte sein, dass die Gegend immer eine soziale Kontrolle hat, dass Leben in dem Bereich ist, dass die Leute, die Bewohner sich mit dem Bereich identifizieren, dass sie dort gerne sind. Dass sie sagen, das ist meine Heimat, da bin ich gerne, da lebe ich gerne – dann wird auch dafür Sorge getragen, dass dieser Bereich ordentlich bleibt.“ Es drängt sich die Frage nach Gebieten wie dem Kölner Hahnwald geradezu auf.4 Zögerlich räumt Knuth Samsel ein, dass der Hahnwald aus städtebaulicher Sicht eindeutig kein Vorzeigebereich sei, da ja trotz des privaten Sicherheitsdienstes immer noch zu viel passiert. Rund um die Einkaufszentrumspläne auf dem Helios-Gelände in Ehrenfeld scheint man also einen unbeabsichtigten Verbündeten in Sachen Anti-Gentrifizierung gefunden zu haben. Denn Samsel erklärt, dass gerade Einkaufszentren, die nachts unbelebt seien, besonders auf seine Gefahrenquellen geprüft werden. Es sei wünschenswert, dass untereinander eine soziale Kontrolle eingehalten werde, sodass keine Bereiche zu irgendeiner Tages- oder Nachtzeit tot seien. Besteht also Hoffnung für ein Ehrenfeld, das zwar angeblich nicht auffallend kriminell, aber gefühlt auf dem besten Wege ist, ein Viertel der Monokultur-Anhänger und Einkauszentren zu werden? Laut Kooperationsvertrag und den damit verbundenen kriminologischen Grundsätzen5 wird es verkappten „MonokulturUtopisten“ jedenfalls nicht einfach gemacht. Denn Verdrängungseffekte werden von Samsels Leuten auch als Kontrollverlust eingeschätzt: „Wenn wir zum Beispiel Obdachlose haben – die sind irgendwo auf der Straße, genauso wie Drogenabhängige. Selbst wenn der Platz irgendwann „sauber“ ist, irgendwo sind diese Leute. Lasst sie da, sie stören keinen und wir haben es unter Kontrolle“, appelliert der Kommissar, der am Schluss mit einer klaren Utopievorstellung, die das Herz jedes Gentrifizierungsgegners höher schlagen lassen müsste, überrascht: „Innerstädtische Quartiere sollten so funktionieren, dass die Bevölkerung dort gerne ist dort gerne lebt, sich sicher fühlt und sich mit diesem Stadtteil identifiziert. In dem Moment wohnt dort eine sozial ausgewogene Bevölkerung. Man versteht sich in diesem Bereich, man kennt sich. Wenn diese starke Gesellschaft auch die Randgruppen integrieren könnte, wäre meine Utopie erreicht. Ich erwarte nicht, dass diese Randgruppen nicht straffällig werden, aber Integration wäre eine denkbare Utopie.“
1E ine Vorreiterrolle in der städtebaulichen Kriminalprävention NRWs, die bereits seit mehr als zehn Jahren stattfindet, nehmen laut Hauptkommissar Samsel Düsseldorf, Bonn und Essen ein. Die Beteiligung der Polizei am Städtebau auf Bundesebene ist noch älter: 1993 gab es einen Präventionserlass des Innenministeriums. Dieser Erlass führte 1994 zu einem Erlass des Ministeriums für Stadtentwicklung, in dem die Beteiligung der Polizei in städtebaulichen Maßnahmen empfohlen wurde. 2 Außerdem anwesend bei diesem Interview: KHK Wolfgang Wendelmann. 3W enn Samsel der Stadt eine Stellungnahme zukommen lässt, bittet er immer darum, diese den Investoren weiterzugeben, damit sie sich an seine Empfehlungen halten. Die darin enthaltene Checkliste dient dazu, das Bauvorhaben auf diese Punkte hin zu prüfen. 4 Der Hahnwald liegt im Süden der Stadt und gilt als „Luxusvillen-Viertel“ Kölns. Im Gegensatz zu der älteren und gewachsenen Luxus-Bebauungsstruktur Marienburgs, trägt der Hahnwald den Stempel eines „Neureichen-Viertels“. 5 t inyurl.com/6b8c4j5 (PDF-Download)
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Die vollkommene Leere 1
Die Abschaffung der Sprache „WAS SAGEN“, liest man dieser Tage an den Häuserwänden in Ehrenfeld. Aber was warum und vor allem wie sagen? Mann, was willst du denn? – und was hat das mit (hanebüchen!) Utopien zu tun? Text: Matthias Knopp
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Nun hat man hier seit geraumer Zeit das diffuse Gefühl, Undinge drängen gegenwärtig von allen Seiten in unsere Umwelt. Sie sickern nicht nur aus dem stets über kurz oder lang berstenden Asphalt, sie zersetzen unsere Wahrnehmung und vernisten uns die Rezeptoren. Fuck. Nicht Werbung, nicht Umweltgifte, weder Politik noch Ozon, auch keine schwarze Materie, nicht Utopien, weder Mücken noch eingerissene Nägel, kein Medium und keineswegs Lärm, keine schwarzen Gedanken und keine Strahlung, nicht kleine blutende Schnitte vom Rasieren, kein Jota Telepathie, nicht Depression, nicht Meinungen, auch keine schlechten Vorträge oder Galle. Weder noch. Andere Dinge, UNdinge. Sie verdrängen dabei die Dinge. Nun sag schon – sag doch endlich was! Wovon schreibst du da? Ja, nun, also, die Wörter eben. Da ist nicht alles so, wie du dir denkst; und wie ich mir utopisiere. Zeichen und Bedeutung sind lange schon zu weit auseinandergedriftet. Es gibt gar keine Lösung außer … /komm mach! Gut. Allez! Wie gesagt, etwas sagen solle man. Bitte? Warum z. B. gerade jetzt? Genau! Jetzt endlich? Jetzt ehrlich? Endlich jetzt (mal)? Mal so richtig? Wieder? Überhaupt endlich mal was sagen? Wer weiß? Komm, los geht’s! Okay: Was sagen! „Wassagen/Jassagen/Rassagen/Fassagen/ Massagen/Nassagen/Tassagen/Hassagen/Zassagen/ Quassagen/Vassagen/Bassagen/Kassagen/Dassagen/ Xassagen“. Klingen schön, nicht? – und, zackbumm: ist die Bedeutung im Lokus. Hier hörst du gerade mein bedeutungsrückläufiges Wörterbuch. So viel geredet und nichts gesagt. Oder vielmehr immer weniger gesagt. Da gab es mal – was denn? – einen Schweizer, kluger Mann. Mit vielen Worten. Tollen Sör2 hatte der, drunter kamen die gescheiten Wörter herausgetrude … / – zum Punkt! Komm jetzt bloß nicht mit dem Mann, der alle Dinge neu benennt – denn die konnten ihn nicht mehr verstehen. Und deshalb sagte er dann irgendwann gar nichts mehr. Grundsätzlich hat überhaupt niemand eine Ahnung, wie der Mensch eigentlich zur Sprache kam (der schwarze Monolith, plötzlich morgens inmitten der Affen? Die Gene? Die Typen von Interstella?) – wusste übrigens auch der Schweizer nicht. Und weißt du was? Schön vor die Wand gefahren hat der Homo sapiens die Sprache. Jetzt schon?! Warum, sag? So massig vor die Wand, dass sich mittlerweile viele wünschten/ich wünsch mir gar nichts mehr, hab mir das Wünschen abgewöhnt. Hör zu! Es gibt etwas, das etwas bezeichnet, dass aber selbst nicht gleichzeitig ist wie das Bezeichnete. Die Beziehung – ach Gott, ‚Beziehung‘ jetzt, gleich kommst du noch mit Erich Fromm! – zwischen dem BezeichneNDEM und dem BezeichneTEM ist laut dem Schweizer das Zeichen. Zum Beispiel die Zeichnung eines Stinkefingers auf dreckigem Au-
tolack? Ja. Den Finger erkennst du an sich schon ganz gut. Einfach nur durch Anschauen. Wenn du aber über diesen in Staub eingeschriebenen Finger sprichst – wenn du mir z. B. in zwei Wochen von dem gestern erblickten Finger erzählen wolltest, so bezeichnest du ihn. Und tun die Buchstaben auch. Die Zeichnung ähnelt dem echten Finger, aber dein artikuliertes Wort hört sich nicht nach dem Geräusch an, dass solch ein Finger produz …/der macht ja sowieso keine Geräusche; höchstens die Reaktion des Autobesitzers, dessen Faust in mein Gesicht fliegt – wruommm! Dafür ist dein „wruomm“ lautmalerisch, onomatopoetisch – schönes Wort – dass sind aber die wenigsten Wörter. Ernst Jandl konnte das gut, „schtzngrmm“, „t-t-t-t“. Die Lautung oder Schreibung deines Stinkef …/können wir uns nicht bitte auf ein lieblicheres Beispiel einigen bitte? Vielleicht so etwas wie ein Herz im verdreckten Autolack? Ein Peace-Zeichen oder so was wie „Wasch mich!“ (und bitte keinen Penis)? Gut, also Herz. Sozusagen ein Doppelherz, einmal Ding, einmal Zeichen. Dieses Wort, ‚Herz‘, geschrieben oder ausgesprochen – ist völlig willkürlich deiner Vorstellung von einem Herzen zugeordnet. Vielleicht denkst du an das Herz eines Säugetiers, vielleicht an das eines Dachses, ich an eins aus Lebkuchen vom Rummel, mit gefühlsduseliger Zuckergussaufschrift. Das Wort Herz und seine ungefähre Bedeutung ist aber per Konvention in der Gesellschaft – ha, dabei muss ich jetzt an Utopie denken! – verankert. Alle in dieser Lebenden haben ein ungefähr ähnliches Bild im Kopf, sobald sie dieses Wort hören oder lesen. Im Schriftbild oder in der Lautung aber ist nichts, was tatsächlich auf ein Herz hinweist. Dir kommt’s nur so vor mittlerweile. Und allen anderen auch in dieser Gesellschaft. Oder klingt etwa dein artikuliertes Herz irgendwie nach ‚dedumm‘, ‚dedumm‘? Nada. Wenn du jetzt aber dein Herz in Stinkefinger umbenennst (und umgekehrt), passiert dir dasselbe, wie dem oben nicht erwähntem Mann. „Mir wird der Stinkefinger so schwer.“ „Mann, hab ich Stinkefingerrasen!“ „Es zerreißt mir den Stinkefinger.“ „Sie hat meinen Stinkefinger im Sturm erobert.“ „Allerdings ging dem Herz-zeigen eine Nötigung von Seiten des anderen Fahrers voraus.“ Na dann viel Spaß in unserer sozialen Mitte. Mir schwant leider überhaupt nicht, worauf du hinaus willst, wo bleibt denn deine vollkommene Leere bitte? Was mich hier anficht, ist die Ausweglosigkeit der Lösung des Problems. Es gibt eigentlich nur eine einzige Lösung. Und zweitens, dass dabei ständig ein ganz anderes Problem dazwischenfunkt: Von dem, was ich hier sage, versteht man doch bereits maximal die Hälfte! Es ist dasselbe wie im öffentlichen Schwimmbad. Du schwimmst selber in dem Wasser, in das du gerade heimlich pinkelst – mit (und mitten in der) Sprache versuchst du über Sprache zu sprechen. ‚Versuche ich‘. Ne geht schon. Das kann ja nur scheitern, nein,
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anders, – kann jetzt nur hier bereits gescheitert sein. Komm, Schlussfolgerung Mann! Wünschte ich mir in dieser Mangelsituation hier eine Sprache, die wirklich eindeutig ist; die mich und die anderen weder betrügt, noch hinters Licht führt, so komme ich doch letztlich in meiner Utopie einer ausschließlich verständlichen Sprache zu dem Punkt, dass Sprache nicht sein kann und darf. Die Sprache muss gänzlich abgeschafft werden. Die Tiere bei Dietmar Dath – die schließlich die Arten abschafften –, die machten es besser. Und nahmen uns die Hände weg. Durch Gift im Trinkwasser („Meidet die offenen Trinkquellen!“). Und ich, ich male mir aus, uns die Wörter wegzunehmen. Alle. Mit welchem Gift auch immer. Warum willst du das tun? Ganz einfach, weil nur die vollkommene Leere, also die vollkommene Leere an Wörtern, an Sprache, uns endlich wieder befähigen wird, verständlich zu sein. Im Sprechen und Schreiben, im Hören und Lesen. Aber ich denke doch in Wörtern, wie soll ich ohne …/ komm, Bilder hast du doch schon im Kopf, nicht? Und Gefühle im Herzen?! Dorthin müssen wir zurück, dahin soll es führen. So, wie sich der uralte Astronaut zurückentwickelt zum Sternenkind, ja, so stelle ich mir das vor. Am Ende können wir nur noch zeigen: ‚da!‘ und ‚da!‘; ganz ohne Worte. Ich stelle mir vor, dass die Worte ganz quälend langsam aussterben, zuerst die unklarsten, die, die am meisten verschleiern, die, die am meisten nur Hülse sind, schon selbst ganz leer; die ohne Inhalt. Dann die weniger scheinheiligen, später die ganz ehrlichen (auch die sollen sterben). Allesamt. Verstehst du? In dieser vollkommenen (sprachlichen) Leere gibt es kein Fastfood, Convenience Food aus gleichlautenden Stores oder Lovefood oder Lowfood oder sogar Slowfood, weder Kreative noch Kreativetagen, keine Workshops, business conventions, career lounges, jour fixes oder breaks, nicht nur, dass es keine Kreativwirtschaft, keine Dynamik und kein Strukturwandel oder Standorte, keine Hot Spots, nichts Hochseriöses, nichts Frisches, nichts Freches, nichts, was multi- oder interdisziplinär oder konvergent oder kulturübergreifend genannt werden könnte, nichts Hyperpraktisches, keine Miniformate, auch keine warme Luft, keinerlei urbane Ordnung, nichts Figürliches, nicht online, nicht live oder off, keine Meetings oder Lounging, kein Grenzenüberschreiten, keine Utopien – auch keine urbanen, keine Dystopien, Räume oder Unorte oder Dimensionen, meinethalben keine fragile Ästhetik oder Gestaltungslehre, keine kreative Auszeit, weder output oder input noch soft skills, keine Verknüpfungen oder Anknüpfungspunkte, keine Analysen, keine Wechsel, keine Umsetzungen und keine Ressourcen, weder Potenziale noch Prozesse, keinen Elan, keine Appetizer oder Give-aways, da wird nichts up- oder downgecycelt, nichts outgesourced, überhaupt keine soziale Mischung, Kernkompetenzen oder human ressources, ob
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Thinktanks oder Brainpools – weder noch, keinerlei Atmo, kein einziges Netzwerk, nicht einmal Netzwerken oder Networken, keine Nachhaltigkeit und auch keine Analysen, keine long range, keine Shows und kein Gardening oder Branding, ganz zu schweigen von Konsumgütermessen oder Geräuschinszenierungen, weder Cluster noch Parcours noch Quartiere, auch keine Showrooms etwa, keinerlei Performances, keine Plattformen, nicht ein einziges Kollektiv, kein Come-together, auch kein Get-together, kein Herzen, kein Making-friends, keine Spur von Mix- oder Exhibitions, keine Partizipation und keine kick offs, null Youngsters oder Rookies, keine Frischlinge oder Newcomer, keine Kultureinheiten, weder indoor noch outdoor, ebenso keine Magnete, keinen Fokus, weder Ästhetik noch Flair, keine Avantgarde, Urbanistik, Happenings, Strömungen oder Trends, überhaupt gar keine Inspirationsquellen, keine visuellen Oasen, keine Off-Locations oder Live-Paintings, da ist nichts unplugged oder erlebbar, auch nicht virtuell, nichts ist modular, kreativ, abstrakt, interaktiv, wechselseitig, neu, junggeblieben oder gar interessiert oder social, es gibt da kein Design, Spezialitäten, Editionen und Unikate, weder Projekte noch kreative Auseinandersetzung, keinen nachhaltigen Konsum, keine Events, keine Locations oder Szenen, weder Design mit Bewusstsein noch entsprechenden Lifestyle, noch ist etwas all in oder cool, es gibt nicht einmal Streetstyle, eine Fashion-Szene oder Vintage-Shops, nicht einmal Kunst, kein Arty Farty oder Sub- oder Massenkulturen, keine Gallery und keine Designobjekte, kein Produktdesign, nichts Urbanes, nichts Utopisches, nichts Mediales, keine Mags und kein Love, keine Gentrifizierung oder Yuppisierung oder Diversity, nichts Visuell-akustisches, nichts Prozesshaftes, nichts Kommunikatives, nichts Reelles, da ist auch kein Mekka des Designs oder Urban Art, kein Verlag Owner und keine Verortung, kein Support, kein Crossover, kein fröhlicher Mix, kein Kollektiv oder shared space, keine Harmonie, keine Spur von Groß- und Kleinschreibung, keine einzige Window-Farm, kein Guerilla Gardening, kein Heimatboden, keine Saisongeschäfte, keinerlei Einfluss oder Konzepte, weder Vorreiter noch Erprobung, keine Shootingstars und erst recht keine neuen Produktwelten.
1D er Titel bezieht sich auf eine 1971 erstmals erschienene Publikation Stanisław Lems, die eine Sammlung von Rezensionen zu diversen Romanen enthält. Beim Lesen dieser vergnüglichen Rezensionen entsteht im Leser eine Lust aufs jeweilige Ursprungswerk (tatsächlich existieren tut jedoch keines davon). 2S chnurrbart, Moustache, Barttracht, Schnauzbart, Schnäuzer, Schnorres, Schnörres, Schnurres, Schenkelbürste, Sör, Schnauzer, Schnauz, Schnorrati –
ach Himmel! 3 Vgl. Mark Z. Danielewski (2002): House of Leaves, S. 185.
Stellt euch das mal vor. In euren Träumen.3
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Veedeltektonik Über die Auswirkungen der Kontinentaldrift auf Ehrenfeld Text: Klaus-Ulrich Pech, Foto: Stefan Flach
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Basar ist auch ein Ort, an dem man alles bekommt. Anders als die Arkaden aber ist er beliebt. Seite 14
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Sicher, es hatte einige Jahre gedauert, doch schließlich war Köln, dank Plattentektonik und Kontinentaldrift, am Äquator angekommen. Köln befand sich inmitten der Tropen. Und nichts mehr funktionierte. Die KVB stellten ihren Betrieb wegen ständiger Überhitzung der Oberleitung endgültig ein. In den Büros, deren Klimaanlagen alle heißgelaufen waren, wurde kaum noch gearbeitet. Ohnehin hatten wegen überforderter Kühler alle PCs und Laptops und Blackberrys und iPads ihren Geist bzw. den ihrer Benutzer aufgegeben. Kein Handy fand mehr Anschluss, kein iPhone Wi-Fi – wie sollte der Kölner jetzt Geschäftstermine vereinbaren, Umsatztabellen verschicken, Mails checken oder gar lesen? Die Förderbänder bei Ford hingen durch, so dass kaum noch ein Auto die Werkshallen verließ, und dann war es für den heimischen Markt ohnehin völlig unbrauchbar und für den Export … der Export, wie anstrengend, ach, dazu war es einfach zu heiß und schwül und sonnig und überhaupt. Der 1. FC … nun, der hatte auf dem Weg gen Süden einige Jahre in der ersten Liga Marokkos mithalten können, doch bevor er endgültig in dessen zweite (und unterste) Liga hätte absteigen müssen, war zu seinem Glück Köln bereits auf dem Weg durch die Sahara, und da keiner der Profis zu bewegen war, auf Sand zu spielen, hatte Overath den Verein auflösen müssen. Den Rosenmontagszug ließ man, um der Tageshitze und der sengenden Sonne zu entgehen, schon um 3 Uhr 33 beginnen, aber es kamen nur noch einige hundert Zuschauer, und so gab es bald keine Sponsoren mehr – das Dreigestirn übrigens hatte man bereits in Tanger recht gewinnbringend an eine Schwulenbar verkaufen können. Anfangs, auf den ersten Etappen des Wegs gen Süden, war noch ganz Kölle euphorisch und sah sich schon auf dem Weg zur führenden Weltmetropole. Welch Jubel herrschte beispielsweise, als man, stolzer Träger des Titels „nördlichste Stadt Italiens“, Rom und den Vatikan passierte. Zu diesem Zeit- und Ortspunkt waren eigentlich die ersten Zerfallserscheinungen schon deutlich zu erkennen, aber sie wurden nicht wahrgenommen – so z. B., dass sich der Oberbürgermeister immer öfter in Begleitung vermutlich minderjähriger Blondinen zeigte, dass Kardinal Meisner nun auch öffentlich den Anspruch erhob, eigentlich sei er der rechtmäßige Papst, dass das Stadtbauamt zugab, die letzte Hoffnung, die Nord-Süd-U-Bahn doch noch fertigzustellen, läge nun bei der Mafia, die sei in Sachen Korruption deutlich professioneller.
Und dann der Äquator, dann die Tropen … Auflösung, Niedergang, Depression allüberall. Köln wurde zerlegt, zerrüttet, zersetzt. Es verschwitzte und verschwamm. Die Kölner versanken in Dumpfheit, von Mattigkeit überwältigt, übermüdet, unfähig, inkompetent. Die Kölner, kraftlos, schwach, ideenlos, waren nicht mehr in der Lage …, sie waren nicht mehr …, ach, diese verfluchten Tropen! Kurz: Das ökonomische, das kulturelle, das gesellschaftliche und sogar das einst so bezaubernd katholisch-religiöse Leben waren zum Erliegen gekommen. Ganz Köln lag am Boden. Ganz Köln? Nein, einen Stadtteil gab es, dessen Bewohner sich mit jedem Breitengrad, den die Stadt südlicher wanderte, immer besser auf die sich wandelnden Lebens- und Arbeitsbedingungen einstellen konnten. Hier verstand man es, sich unentwegt zu integrieren und zu assimilieren und zu adaptieren (geübt ist geübt). Nur in diesem Stadtteil war man kompetent genug, die Gunst der Stunden zu nutzen, nur hier, nur in – Ehrenfeld! Wo sich in Köln Mattheit, Weichheit, Schwäche, Hilflosigkeit, Empfindlichkeit, Erschlaffung, Ohnmacht und Willensschwäche als typisch kölsche Eigenschaften entpuppten, da zeigten sich in Ehrenfeld Gewieftheit, Talente, Potenz, Stärke, Zähigkeit, Einfallsreichtum. Kopftuch zu tragen oder einen Ganzkörperschleier galt bald schon allgemein als praktisch – und die über den Stadtteil verteilten Modemanufakturen präsentierten immer originellere Burka-Variationen (ein zeitweiliger Renner z. B.: Burkas in Leopardenfell-Optik, mit zwei Seitenschlitzen bis auf Hüfthöhe). Eine ausgiebige Siesta – allgemein als überlebensnotwendig akzeptiert. Prokrastinieren – angesichts des Klimas ein überall anerkanntes Lebensmuster. In Ehrenfeld bündelten sich nun sämtliche zentralen Konzepte und Kompetenzen der Neuzeit. Hier gab es Fachleute, die wussten, wie man eine Kamelkarawane zusammenstellt und für eine 90-tägige Reise ausstattet, hier wusste man, nach wie vielen Tassen Tee mit den Einheimischen man auf das Geschäftliche zu sprechen kommen durfte. Hocheffiziente Speziallüfter mit Feinsandfilter und Antischimmelspray für Laptops, entwickelt von umgeschulten ehemaligen Sonnenstudiobetreibern, zusammengelötet von jungen Frauen
in der Gießereihalle der Schiffspropellerfabrik Ostermann, fanden weltweit reißenden Absatz. Die Medien- und Kreativszene begeisterte mit immer neuen Ideen, Anwendungen, Events. Viel Geld wurde in Ehrenfeld auch mit einer speziellen Google-Meldeamt-App verdient, mit deren Hilfe die Behörden und alle Interessierten ihren jeweils echtzeitaktuellen Migrationshintergrund auf fünf Meter genau ablesen konnten. In Ehrenfeld standen nicht nur die angenehme Kühle spendenden Kirchen, hier stand auch die größte Moschee, was Ehrenfeld überall unterwegs schon großen Respekt eingetragen hatte. Es wurde viel gebaut, so dass die Jungs von der Türsteher- und Muskelaufbaupräparatefraktion unentwegt zu tun hatten: Flachdächer wurden zu begrünten Dachterrassen, Innenhöfe zu kleinen Oasen mit plätschernden Brunnen und schattenspendenden Bäumen, Sonnensegel wurden über alle Ehrenfelder Straßen gespannt, deren noch auf die kölsche Knauserigkeit zurückgehende Schmalheit erstmals von Vorteil war. Den 1. FC hatte man also unterwegs verloren, was aber keinen Fußballfan störte, da inzwischen der TuS Ehrenfeld und Tür Genclevi Spor Birligi die Äquatorliga dominierten. Die Mobiltelefone funktionierten nicht mehr? Kein Facebook, kein Twitter? Kein Problem, denn wozu hatte man denn den großen Basar auf der ehemaligen Kreuzung Venloer Straße/ Gürtel? Und wozu trafen sich alle Ehrenfelder nach Sonnenuntergang unterhalb des großartigen Alfred-Wegener-Denkmals1? Forscher aus aller Welt kamen nach Ehrenfeld; über Ehrenfeld wurde in Cambridge promoviert und in Harvard habilitiert. Beliebte Themen waren z. B: „Der Ehrenfelder und seine breitengradfreie Wahrnehmungsdisposition“ oder „Köln und Ehrenfeld – der Unterschied zwischen statischen und dynamischen Begriffs-, Denk- und Handlungsrastern“ oder „Vom Vorteil eines dichten transkontinentalen Erfahrungsgewebes“ oder „Artenvielfalt als Evolutionsvorteil in komplexen Systemen“. Ehrenfeld hatte die einmalige Chance beim Schopfe gepackt, in Utopia zu sein.
1A lfred Wegener, deutscher Meteorologe und Geowissenschaftler. * 1. November 1880 in Berlin, † November 1930 in Grönland. Seine Theorie der Kontinentalverschiebung ist zur wesentlichen Grundlage des heutigen Modells der Plattentektonik geworden. Er war Pionier der Polarforschung.
Interstella 50825 Text/Idee: Nicole Ankelmann, Fotos: Stefan Ditner Satellitenkonzeption: Matthias Knopp
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Der Wind pfeift dir eiskalt und schmerzhaft laut um die Ohren. Dein abgewetzter Blaumann bläht sich unter einer Böe auf und lässt dich wie ein betrunkenes Michelinmännchen wankend dagegenhalten. Dein inzwischen spärliches Haar hält dem Widerstand auch nur noch bedingt stand. Nachdem du deinen Werkzeugkoffer zugeklappt hast, ziehst du den Reißverschluss deiner Jacke noch ein Stück höher und lässt dabei deinen Blick gedankenverloren vom Dach aus in Richtung Norden über Ehrenfeld streifen. Du fragst dich, wie immer häufiger in letzter Zeit, was du daheim gerade tun würdest, wärst du nicht vor mehr als 20 Jahren hiesiger Zeitrechnung an diesen seltsamen Ort geschickt worden. Längst würdest du deinen wohlverdienten Ruhestand genießen. Stattdessen hast du mit deinem Auftrag auf der Erde zwar rund 80 Lebensjahre wettgemacht, kontrollierst dafür aber tagein, tagaus sämtliche Satellitenschüsseln des Veedels und erstattest akribisch und vorschriftsmäßig Bericht. Informationstechniker – das klingt nach einem wirklich ehrwürdigen Beruf, für den man hier drei Jahre in die Lehre geht. Du weißt es besser, denn was man dort erzählt bekommt, ist nur ein verschwin-
dend geringer Bruchteil dessen, was man dir im Laufe vieler Jahre eurer Zeitrechnung zu diesem Thema beigebracht hat. Du hast das technische Know how, keine Frage. Der zwischenmenschliche Aspekt wurde bei eurer Schulung allerdings nicht berücksichtigt, was dich zu einem einsamen, komischen Kauz verkommen ließ. Keine Freunde, nicht einmal lose Bekannte. Und Verwandtschaft ja ohnehin nicht. Nicht hier. Es ist also wenig verwunderlich, dass du von deinen Nachbarn und Kollegen als ,eigentümlich‘ beschrieben würdest, stellte man ihnen Fragen nach deiner Person und deinem Wesen. Aber was wissen die schon? Nichtsnutzige Dummköpfe, ignorant oder naiv. Am Ende bleibt sich das gleich. Und wer sollte auch fragen? Du lächelst milde, während du an all die Menschen denkst, die bis heute glauben, Parabolantennen seien eingeführt worden, um den Empfang hunderter TV-Sender aus der ganzen Welt in Wohnzimmern rund um den Globus via Satellit zu ermöglichen. Dabei ist das doch nicht mehr als eine kleine, praktische Randerscheinung, die es euch überhaupt erst ermöglichte, die Welt hier erfolgreich zu infiltrieren und zu kontrollieren. Bis jetzt zumindest.
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Es piept. In deinem Ohr. Es ist nicht der Wind. Der implantierte Kommunikationschip KXU-745 meldet einen eingehenden Anruf, den du mit einem kurzen, für Außenstehende unmerklichen Nicken annimmst. Du kennst das schon, denn die tägliche Konferenzschaltung mit den Kollegen aus New York, London, Paris, Oslo, Tokio, Auckland und Sydney ist längst zur Routine geworden. Spätestens seit die Situation in Japan außer Kontrolle geriet und man ganz oben – Lichtjahre entfernt und doch ziemlich nah – an euren Fähigkeiten als unfehlbare Special Task Force zweifelt, ist die tägliche Absprache mit dem auf dem gesamten Erdball eingesetzten Team unumgänglich. Private Schwätzchen finden kaum noch statt, denn die Zeit läuft euch davon. Die Erde und ihre Bewohner sind schon lange dabei, sich selbst zu vernichten, doch scheint dies gerade in der letzten Zeit mit nicht nur sprichwörtlicher Lichtgeschwindigkeit voran zu gehen. Wird euer Aufenthalt hier bald nicht mehr vonnöten sein? Ist eure Mission bereits gescheitert? Wie lange die Apokalypse noch auf sich warten lässt, vermagst du nicht zu sagen – nicht in Zeiten wie diesen. Während du versuchst, dem Durcheinander in deinem Ohr zu folgen und dich via Telepathie daran zu beteiligen, schweift dein Blick erneut ab, bleibt am Colonius hängen. „Es wäre doch eigentlich schade drum“, ist das Letzte, was du denkst, als der interstellarische Notalarmempfänger an deinem Werkzeuggürtel beginnt, unaufhaltsam zu vibrieren.
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Absturz mit Zeitmaschine Musik: Sister Rosetta Tharpe1, Story: Aski Ayran Elber, Illustration: Nane Weber
Als Kind wollte ich Briefträger werden, aber nicht auf den Wegen des Dichters etwa, sondern tatsächlich ein richtiger Briefträger.2
Nâzım Hikmet
1 Kopfhörer
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Die Maschine steht vor mir, mein Kragen strahlt wie der Fortschritt, doch aus den Kopfhörern kommen die 1960er. Didn’t it rain von Sister Rosetta Tharpe. Mein Freund, der Kapuzentyp, hat mir diese Musik gegeben. Sein Bruder warf dem Kapuzentyp einmal vor, er flüchte sich musikalisch in die Vergangenheit. Er aber entgegnete, es gebe eine Rückwärtsromantik, die nicht die Sehnsucht nach der Vergangenheit sei, sondern die Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die noch an die Zukunft glaubte, und damit sei es letztlich eine Sehnsucht nach der Zukunft.
In die Freiheit? Seit fünf Jahren arbeite ich bei der Neptun Starship Gesellschaft. Früher befand sich im Hauptgebäude eine städtische Badeanstalt. Janis ist übrigens nicht mein richtiger Name, ich verrate hier Betriebsgeheimnisse. Wenn jemand frei sein will zu …, dann gib ihm den Exzess, den Sozialrausch, die Menschenfresserei. Wenn jemand frei sein will von …, dann gib ihm das Exil, die Askese, die soziale Magersucht. Beides läuft auf dasselbe hinaus: auf die Erleichterung, die sich aus der Einseitigkeit speist. Wenn jemand acht Formen der Versagensangst hat, dann gib ihm etwas, was sie allesamt auf nur noch eine reduziert. Etwa auf die Angst, am Automaten zu verlieren. Er hat dann diese Hoffnung: beim nächsten Mal alles Verlorene wiederzugewinnen. Darum geht es letztlich bei jeder persönlichen Utopie, oder?, darum, an einem einzigen Ort das Gefühl von Lust, Freiheit, Souveränität wiederzugewinnen, das verloren geht an jedem anderen.
2 Clash of Tabelle und Maschine Ohne ihre Tabellen geht sie nicht aus dem Haus. Sie wird sonst nervös, fängt an zu zittern. Die Freundin ist ein Tabellenmensch. Fremde Zivilisation. Ich bin ein Maschinenmensch und das ist was völlig anderes. Meine letzte Zeitmaschine in die Freiheit hat mich in eine Klinik gebracht. Wie viel hatten Sie intus, Janis?, fragte der Doktor, der meine Schulter abtastete. Eine Menge. Aber Alkohol ist nicht das Problem, das ich habe. – Schau, der Fluss, der Rhein, er hat eine Menge Ärger kommen und gehen gesehen. Alles in Ordnung?, ich sehe die Freundin ihre Tabellen überfliegen. Der Blick ist mir vertraut. Ich weiß, wie es ist, von Hilfsmitteln besessen zu sein. Das nächste Mal wird meine Maschine in die Freiheit nicht im Regen abstürzen.
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4 Entwicklungen am Gürtel Hinterm Gürtel hat es Unruhen gegeben. Steine flogen in unsre Richtung. Eigentlich lebt niemand dort drüben, dort ist Leben unmöglich. Dort gibt es bloß Hitze, noch mehr Sand als Hitze und kaum Steine. Steine sind geflogen. Hey, die werfen ihre eignen Häuser weg. Weil die keine Gefühle haben. Weil die Gefühle wie
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Hitze, noch mehr Sand Klaus-Ulrich Pech führt diese Entwicklung auf die Kontinentaldrift zurück. Seite 80
wir nicht kennen. Die kennen ja nichts. Als die Wüste. Die wollen sich nicht entwickeln. Die glauben an den Mond. Welche vernünftige Person. Glaubt an den Mond. Die Person auf meiner Seite des Gürtels glaubt an die Sterne. Ihr Körper ist glatt. Zu glatt für Schmerz. Sie ist nackt. Ich stelle schärfer, bekomme Lust, sie zu schlagen. Die Augen abgedeckt liegt sie auf dem Laken und lässt jeden Quadratmillimeter, jede Zelle ihrer Haut von den Drohnen und Arbeiterinnen betasten, beklopfen, bestäuben. Wenn ich den Zorn hochkochen lassen will, dann beobachte ich die Person auf meiner Seite. Eigentlich sollte ich ihr dankbar sein, dieser Bergsteigerin und Pionierin. Weil sie es für mich erforscht, das Extrem des Angenehmen: Wie weit kann man in der Befriedigung der eignen Bedürfnisse gehen, mit immer subtileren Mitteln, bis es nicht mehr auszuhalten ist, bis die äußerste Grenze des Wohltuenden erreicht ist und Wellness zum Horror wird? Gibt es diesen Punkt? Wie weit ist es? Wie hoch? Nun, sie wird es für mich herausfinden.
5 Neolinguistik (Stand: Mai 2016) Bedeutungen von cool. Die eignen Häuser wegwerfen. Nichts haben. Und es wegwerfen. Den Inhalt aus den Schubladen werfen. Die Schubladen wegwerfen. Frei von Urteilen sein. Forscher sein, nicht Moralist. Die Zeit des Öls verlassen, bevor das Öl dich verlässt. Die Zeit des Goldes verlassen, bevor das Gold dich verlässt. Frei von Mimik sein. Keine Miene verziehen, wenn er dir droht.
Bedeutungen von cool. Die Bedeutung oder NichtBedeutung von cool und anderen Anglizismen hinterfragt auch die linguistische Analyse auf Seite 72.
Keine, wenn er dich schlägt. Keine, wenn du gehst. Tatsache sein. Nicht klagen noch hadern noch feilschen. Nicht gekauft sein. Nicht vergolten sein. Unbezahlt sein. Einen schlechten Job haben und dir einen schlechteren suchen. Klar sein. Und nicht unfreundlich. Den Hass an der richtigen Stelle haben. Nicht die Spieler hassen. Das Spiel hassen. Nicht ohne Begrüßung kommen. Nicht ohne Verabschiedung gehen. Ohne Urteil gehen. Als Tatsache gehen. Cool sein bedeutet Tatsache sein.
6 Die Fliegerei
Als Kind wollte ich Briefträger werden. Doch ist es in meiner Türkei ein schwieriger Beruf, Briefträger zu sein. In den Telegrammen überbringt der Briefträger in diesem schönen Land vielerlei Schmerz.2
Mein Herz hängt an der Fliegerei. Angst sei der Preis, den wir für unsere Beweglichkeit zahlen, heißt es, Pflanzen und Steine kennen keine Angst. Wie Charles Lindbergh hab auch ich einst als Postflieger angefangen. Heute überfliege ich die Zeit auf der Suche nach dem Großartigen, nach Romanzen, nach seelischen oder wissenschaftlichen Durchbrüchen. Damit mache ich meine Angst weg. Die Angst, dass ich mich nicht rechne für Kunden und Freunde, die Geld oder Gefühle für mich ausgeben, und sie den Anbieter wechseln. Diese Angst ist der
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> Twitteratin Twitteratur: Literarische Texte bis 140 Zeichen, die über das Microblogging-System Twitter gepostet werden.
Preis, den ich für unsere Vergleichbarkeit zahle. Monopolisten (und die wirklich Coolen unter uns) kennen diese Angst nicht. Sobald ich in der Luft bin: keine Spur von Angst, bin wie im Fieber, in meiner Tasche nur Schreiben mit frohen Botschaften …, in meiner Tasche das Paradies2. Herz: darf nicht aufhören. Schulter: schmerzt noch. Das Abstürzen ist somit der Preis, den ich dafür zahle, dass es Vergleichsgrößen wie Preise gibt (und ich nicht cool bin). Alkohol ist nicht das Problem, das ich habe, Doktor, ich bin nicht das, was man stoffgebunden nennt. Mein Problem ist das Großartige, die Romantik, die Überfliegerei (und dass es nicht aufhören darf).
7 Honor, Field & Collegen Gestern war die Tabellenfreundin erstaunlich. Im Abschlussgespräch des einwöchigen Einstellungstests stand sie vor dem Pult von Honor, Field & Collegen und beantwortete auf Herz und Nieren letzte Fragen. Ihre Finger waren dabei am obersten Knopf ihres linierten Hemdes. Plötzlich knöpfte sie das Hemd auf und zog es aus. Dann den Rock, die Strümpfe, den Slip, die Halskette, alles bis auf die Schuhe. Die Entscheider waren zu überrascht von der Nacktheit im Raum, um etwas zu tun. Sie stand zehn Sekunden vor dem Pult, bevor sie den Kopf schüttelte, grüßte und ging. In diesen zehn Sekunden, sagt sie mir, sei sie klar gewesen. Und im Gang ließ sie die Tabellen in eine Müllbox rutschen. Draußen war Frühling. Die Stadt.
8 Zwei Utopien, ein Treffpunkt Zieleingabe: die ideale Stadt. Eine Ansammlung vollkommen beweglicher und zugleich vollkommen scharfsinniger Menschen, von
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denen jeder (und so auch ich) unter den unzähligen selbst entwickelten Optionen stets vollkommen entscheidungssicher die eindeutig beste Wahl trifft, eine Wahl ohne Rückstände, ohne Schuld. Zieleingabe: das ideale Land. Ein Gemeinwesen vollkommen treuer Menschen, von denen jeder (und so auch ich) in den sicheren Regeln der ihm angemessenen Position stets eindeutig seine Pflicht für die Allgemeinheit erfüllt, eine Pflichterfüllung ohne Hadern, ohne Zorn. – Bin nicht mal in die Nähe dieser Zukünfte gelangt und frage mich, warum die Gesellschaft mich nicht einfach rauswirft. Ich trage die Schuld. An den Abstürzen, den Schäden an Zivilisten, an verbrannten Ressourcen, verbrannter Zeit. Ich trage den Zorn. Auf die Art, wie ich mit Leuten bin und Leute mit mir, auf meine und ihre Gewohnheiten (die Herde Kühe oder Sterne, die in jedem grast), auf mein Des Brot ich ess, des Lied ich sing und auf das Friss oder stirb aller Vorgesetzen. – Treffpunkt: die Wüste, der Garten Allahs, aus dem er alles Überflüssige entfernt hat, um dort in Frieden wandeln zu können. Ich treffe mich nun regelmäßig mit andern Abgestürzten. Jeder erzählt die Geschichte seiner Flugmaschinen. Kommentare sind nicht erlaubt, sie sind auch überflüssig: Jeder hier hat als Lindbergh, Armstrong, Tereschkowa oder Jinghai angefangen. Und jeder hier war am Ende so weit, dass er unten an Deck der Titanic die Kapelle hat spielen hören. Die schlechte Botschaft dieser Treffen: Du bist nichts Besonderes. Die gute: Du bist nicht allein.
9 Rätselhafte Botschaft Nachdem Yoshimi Peterson, Twitteratin aus dem Quartier E, lange an geselligere Zeiten geglaubt hatte, merkte sie, dass nicht einmal die Sachen, die sie selbst schrieb und tat, einander leiden konnten. In heftiger Hackordnung stritten ihre Sachen, welche unter ihnen die Gelungenste sei – die Judging und Ranking-Maschine hörte nicht auf zu judgen und zu ranken. Peterson ward der ausgespuck-
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Domizil Wie die Immobilienverwaltung Domizil ihre Kontrolle zu mehren versucht. Seite 48
ten Urteile müde. Es folgte eine große Unfähigkeit oder Unwilligkeit, noch irgendwas zu schreiben oder zu tun. Mit Bartleby-Syndrom zog sie sich zurück, tat nichts außer Musik hören, vertrieb den Blues mit Rock’n’Roll, und den Rock’n’Roll mit Blues, und mit beidem: die Zeit. Rund zehn Jahre wurden vertrieben. Nun kam folgende rätselhafte Botschaft von ihr (1:15 AM Jun 13th 2021): Damit sie seine Bücher lasen? Damit er ein feiner Kerl war? Damit? Nâzım Hikmet brachte den Mitgefangenen Lesen und Schreiben bei.
10 Ein altes Handwerk lernen Von den Abgestürzten lernen, heißt, ein altes Handwerk lernen. Das Handwerk des Sich-Wegfabrizierens ist über Generationen und Kulturen hinweg überliefert. Basistechnologie: Statt das Naheliegende zu tun, tue etwas anderes. Wenn du Angst hast, verhalte dich zornig. Wenn du zornig bist, verhalte dich traurig. Wenn du traurig bist, verhalte dich euphorisch. Wenn du euphorisch bist, verhalte dich bescheiden. Wenn du Hilfe brauchst, verhalte dich, als bräuchtest du keine. Ich verrate hier Innungsgeheimnisse. Verwechsle Zeiten, Orte und Personen, tue nichts aus naheliegenden Motiven, nimm dir ein Beispiel: Er stürzt sich in die Verbesserung seines Service, weil ihm der Servicegedanke unheimlich ist. Sie stürzt von Affäre zu Affäre, um dem Vater seine Untreue heimzuzahlen. Er zwängt sein Leben in das Gegenbild, weil er in geheimem Wettbewerb steht mit dem Bruder. Charles Lindbergh flog von Familie zu Familie (Ehefrauen und Kinder, die von der Existenz der jeweils anderen nichts wussten). Sie fliegt auf verheiratete Männer (es geht ums Abjagen, nicht um die Männer). Leben ist langweilig, schrieb Max Frisch, ich mache Erfahrungen nur noch, wenn ich schreibe. Ich überfliege die Freiheit für eine künftige Freiheit und mache Erfahrungen nur noch, wo ich noch keine mache. Sei ernsthaft verwirrt, sitze im Cockpit und drehe den blinden Passagieren
deiner Motive den Rücken zu. Von den Abgestürzten lernen, heißt, das alte Handwerk lernen und weitergeben, wie man das Leben ersetzt durch ein Bild von einem Leben.
11 Regen Der Tanz Lindy Hop trägt seinen Namen angeblich in Anlehnung an eine Schlagzeile zu Lindberghs Atlantiküberquerung vom Mai 1927. Mein Apartment liegt ganz oben. Es regnet in Strömen, drüben leuchtet der neue Turm des Kauf- und Tanzcenters. Die Domizil, die das halbe Viertel kontrolliert, hat einen Knick in den Gürtel gemacht, damit der Turm auf unserer Seite steht. Bier ist auf dem Balkon, ich lege Musik auf. Der Kumpel knöpft sich den Vorgesetzten vor und zerlegt ihn bis zum Charakterschwein, der Rest der Band tut mit. Ich halte mir die Ohren zu. Was ist los?, kannst du die Wahrheit nicht vertragen?, bist du nicht mehr auf unserer Seite? Es regnet Justiz und Zollstöcke. Alles ist gerichtet. Alles ist vermessen. Jeder Schritt: unwahr. Des Freund du bist, des Tanz du tanzt. Keine Post. Über uns tobt der Atlantik.
12 Pause vor der Neptunbank Ich hatte eine geheime Tabelle, in die ich eintrug, wie viel ich ihm in Gefühlen zurückzahlen muss, wenn er mich zum Essen einlädt / zu mir ins Bett kommt / ein Lob verteilt. Mein Job war es, die Gefühle zu entwickeln, mit denen ich ihn dafür bezahlen kann. -Hattest du diese Gefühle dann wirklich? -Ich weiß es nicht, ich weiß nicht zu unterscheiden zwischen Fühlen, Bezahlen und Bestechen. Ist es so?, sind wir korrupt? -Bis auf den tiefsten Grund unseres Herzens, wo wir nach Öl suchen. -Ist da unten nichts Gutes? -Hast du die Tabelle noch? -Ja, aber sie lichtet sich. -Das ist gut.
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13 Münzen und Briefmarken
15 Romantik und Aufklärung
For displaying heroic courage and skill as a navigator, at the risk of his life, by his nonstop flight in his airplane, the ‚Spirit of St. Louis’. – Doktor, Sie fragten, warum meine Ehre mir wichtiger war als alles andere. Ich habe den Antrieb zerlegt und diese Antwort gefunden: Geldwert vergeht, Goldwert besteht. Mit der Fliegerei wollte ich alle Zweifel beseitigen. Meine Gegner: am Boden. Mein Gesicht: auf Münzen und Briefmarken. Eigentlich hab ich da oben immer nach etwas gesucht, das mir sagt, ich sei schön und würde es bleiben. Janis Joplin ist mal zum hässlichsten Jungen des Campus gewählt worden. Vielleicht nur ein Mythos. Wie auch immer, Doktor, ich habe bei Neptun Starship gekündigt. Nun werde ich damit leben müssen, weder eindeutig gut noch eindeutig schlecht zu sein. Kann sein, ich fliege wieder die Post aus und trinke Ayran dabei2, die Musik hörend, die der Kapuzentyp aus dem Netz fischt.
Die Spirit of St. Louis II. Sie ist repariert und frisch lackiert. Ich weiß, wenn ich einsteige, riskiere ich mein Leben. Romanzenfieber, Forscherdurst. Mit der Handkante fahre ich über ihre Außenhaut. Bin mit ihr an großartigen Orten gewesen. Bin mit denen, die auf mich abfuhren, so freizügig gewesen wie Luft, wie Feuer, wie eine Zeit, die es noch nicht gibt. Bis ich mit der Schulter am alten Holzkarren der Gegenwart hängen blieb, aus allen Wolken fiel und meinte, nun vor Scham sterben zu müssen. Doch waren die Orte nicht auch großartig? Schwer, die Finger von der Zeitmaschine zu lassen. Hinter meinem Rücken glaube und schraube ich. Quartalsflieger, Pegelflieger? Einige der andern Abgestürzten sind jetzt schon längere Zeit trocken. Ich weiß, auch die sind keine Übermenschen und das hier ist keine Widerstandsgruppe. -Gibt es ein Recht auf Nüchternheit?, frage ich nachher den Kapuzentyp. Er überlegt. -Man könnte es ableiten aus dem Recht auf Unversehrtheit. -Kein Kredit mehr für Romantiker, sag ich, im Vergleich zur Aufklärung war die Romantik eindeutig eine Subprime-Epoche. -Klingt nach der Sehnsucht, den Leuten nun jede Sehnsucht, jede Leidenschaft auszutreiben. – Oh, Flying Fool, wieder übers Ziel hinausgeschossen und das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Regnet es oder ist es allein meine Schuld, dass ich nicht trocken werde?
14 Neolinguistik II (Stand: Januar 2021) Zieleingabe: unbestimmte Region, nüchtern. Bedeutungen von nüchtern. Dazwischen sein. Sich den Verführungskünsten der Eindeutigkeit verweigern. Den Regen nicht trinken. Hymnen und Flaggen nicht trinken. Mann oder Frau nicht trinken. Ewige Liebe nicht trinken. Ewige Verdammnis nicht trinken. Ewigkeit nicht trinken. Sich Gesprächen anvertrauen, um sie anzuerkennen: die Tatsache der Antastbarkeit, der Freude, der tiefen Unsicherheit voreinander, der Sterblichkeit. Nüchtern sein bedeutet sterblich zu sein.
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16 Sister Rosetta Tharpe Didn’t it rain, children – ihr Gang zur Bühne, ein Slide die Bahngleise entlang, die Gitarre trägt sie wie einen Schal, wie eine Motorsäge, sie sägt die Wetterkartentricks auf, die Frau ist Tatsache: I know it rain, You know it rain, O how it rain! Ich weiß, aber ich habe keine
Beweise, zwischen den Stäben dieses Regens scheint die Wahl frei, und wenn er uns sticht, dann bluten wir nicht. Es ist ein Song, ein Gang, der mich erinnert an das Klamme in der täglichen Kleidung, das Beklommene, Versperrte in Gesprächen, und die Sehnsucht, es zu überwinden, irgendwann, und ich weiß, I know it rain, You know it rain, O how it rain!
17 Komm näher Someday … Ich, allein mit Kopfhörer im Cockpit meiner Maschine, unvergleichliche Manöver fliegend, ein Bild von einer Freiheitskämpferin. -Hör auf. Gib, wenn es sein muss, hundertmal am Tag deine Alleinherrschaft auf. -Dann werde ich sterben vor Scham. -Und hundertmal am nächsten Tag, lerne es, taste dich vorwärts. -Du hast leicht reden, du bist intakt. -Ist es das, was du glaubst? Komm näher, hier, sieh dir meine Finger an, nimm beide Hände, fühlst du die Drähte, die Späne darunter?, war mal ein Knochen, und das hier, fühlst du das? -O verdammt, wo bist du gewesen? -Glaub mir und glaub es dir selbst: Es gibt keinen Weg, die Zeit zu überfliegen. You shall. Overcome. Today. -Das ist schwer, ich wär mich so gern los. -Ich weiß. 1 2
Oder ich bin in der Wüste, unter den Sternen. Ein Mädchen hat Fieber, ist krank. Um Mitternacht pocht es an die Tür: „Die Post!“ 2
Siehe auf Youtube: Sister Rosetta Tharpe, Didn’t it rain Siehe/Auszug aus: Nâzım Hikmet, Briefträger / Postacı (Mai 1954), in: Eine Reise ohne Rückkehr / Dönüsü Olmayan Yolculuk. Gedichte und Poeme, Frankfurt 1989
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Land unter hinter der Moschee Text: Jessica Hoppe, Fotos: Lars Welding
Wenn Platzwart Rudi in den Himmel über Ehrenfeld guckt, hat er immer einen Hintergedanken: Bitte kein Regen! Denn alles, was über leichtes Nieseln hinausgeht, bedeutet nichts Gutes für die drei Sportplätze der PrälatWolker-Anlage gleich hinter der Moschee. Für einen von ihnen bringt Regen sogar regelmäßig das Aus. Auf ihm, dem mittleren der drei Aschenplätze, spielt der FC Eintracht Köln. Wenn er spielt. Denn seit die Drainagen unter dem Aschenbelag nicht mehr intakt sind, steigt das Wasser schon bei mäßigen Regenmengen von der südlichen Seite langsam über den Platz – manchmal bis zur Mittellinie und darüber hinaus. „Dann geht hier gar nichts mehr“, weiß Rudi aus leidvoller Erfahrung. Sieben Meisterschaftsspiele hat er allein 2010 absagen müssen – von ungezählten Trainingsausfällen gar nicht zu reden. „Letztes Jahr hätten wir hier manches Mal Bötchen fahren können.“
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Ein staubtrockener Aschenplatz bei sengender Sonne läuft beim FC Eintracht unter „ideale Platzverhältnisse“ – dann wird wenigstens angepfiffen. Regen bedeutet für die Jungs vom FC Eintracht viel zu oft den Abmarsch zurück nach Hause. „Nicht gut für die Stimmung und die Moral“, sagt Rudi. Wenn er einen Wunsch frei hätte, wäre das, ganz klar, ein Kunstrasenplatz. Angesichts leerer Stadtkassen allerdings bleibt das wohl reine Utopie. Viel zu teuer, zumal gleich für drei Plätze. Denn auch wenn die benachbarten Plätze von Galondefkos Hellas und Ditib Sportclub Köln nicht ganz so schlecht dran sind: „Es wäre schon besser, wenn hier alle Vereine ähnlich gute Bedingungen hätten.“ Vielleicht täte es fürs Erste auch eine Instandsetzung der verstopften Wasserabläufe. Bleibt also auch weiterhin die Hoffnung auf das Kölner Sportamt. Ansonsten hilft vielleicht der Klimawandel.
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Vorne hui, dahinter nass Wie die schicke neue Moschee von innen aussehen kรถnnte. Seite 98
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> Kicken und Kucken: Die Eintracht Köln kann man in der Prälat-Wolker-Anlage spielen sehen.
Der Trainer Wenn der Platz wegen Überschwemmung mal wieder nicht mitspielt, weicht der Trainer mit den Jungs manchmal in eine Fußballhalle aus. Doch das kostet Zeit und ist teuer – bleibt also eine Notlösung. Dass bei der Stadt kein Geld vorhanden ist, hat Trainer Yilmaz (42) schon tausendmal gehört. Akzeptieren will er es nicht. „Es ist wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen hierherkommen können zum Kicken.“
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Die Spieler (von oben links nach unten rechts) Talha (10), Berdan (11), Taner (9) und Emre (11) von Eintracht Köln sind stolz auf ihre Trikots, müssten aber eigentlich regelmäßig in Gummistiefeln auflaufen. Doch selbst wenn sie wollten – auf dem überfluteten Platz spielen gibt es nicht. Zu gefährlich. Also bleiben sie tapfer und halten die Fahne hoch: „Wir sind die Besten!“
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Schöner Beten in Ehrenfeld
Die Moschee kommt. Besser gesagt, sie ist schon fast da. Man braucht jetzt nicht mehr viel Fantasie, um sich den fertigen Bau vorzustellen. Nach wie vor unklar ist allerdings, wie die Moschee in ihrem Inneren gestaltet und eingerichtet werden soll. ehrenfelder hat sich schon mal Gedanken gemacht. Text/Idee: Jessica Hoppe, Prasanna Oommen, Mareile Busse Illustrationen: Stefan Flach, Mareile Busse
> „Die“ Moschee gibt es genau so wenig wie „die“ Kirche. Wie viele Moscheen in Europa vor ihr, ist auch die neue Kölner Moschee das Ergebnis einer Abwägung architektonischer Möglichkeiten, baurechtlicher Bestimmungen und vielstimmiger Interessen und Wünsche von Gläubigen, Bürgern und Entscheidern. Ob der Sakralbau am Ende modern genug, traditionell genug, zu modern oder zu traditionell ausfallen wird, bleibt auch in Zukunft in erster Linie eine Frage des Blickwinkels, aus dem sie gestellt wird. Der Architekt jedenfalls nennt sein Bauwerk eine „kölsche Moschee“ – und hat diese als modernen, schnörkellosen Bau in klassisch-osmanischen Grundformen entworfen. Außen hui, und innen? Der schwierige Spagat zwischen Tradition und Moderne, Orient und Okzident, plüschig und pur muss auch da gelingen, wo es um Innendekoration und Möbeldesign geht. Noch sind sich Bauherr und Architekt nicht einig geworden, und der interessierte Kölner fragt sich: Was wird sich über die obligatorischen Elemente wie Gebetsnische, Kanzel und Gebetsteppich hinaus im Inneren befinden – und wie wird das alles gestaltet sein? ehrenfelder möchte zur Entscheidungsfindung beitragen – und erlaubt sich, dabei auch das Utopische zu denken: die Moschee im Stil dreier Design-Epochen, die die westliche Kultur und den Zeitgeist geprägt haben.
Moschee-Mini-Glossar Mihrab Gebetsnische, die in Richtung Mekka weist Mimbar Kanzel für die Predigt des Freitagsgebets Kursi Vorlesepult zur Ablage des Korans Dikka Empore, Platz des Muezzins Gebetsteppich auf ihm wird der Gebetsraum ohne Schuhe betreten Reinigungsbrunnen im Innenhof, zur Waschung vor dem Gebet Minarett dient ursprünglich dem Muezzin für den Gebetsruf
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Pop Art:
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Pop Art steht für popular art, engl. popular = beliebt, volkstümlich. Sie entstand Mitte der 1950er-Jahre und wurde in den Folgejahren zu einer vorherrschenden Kunstform in Nordamerika und Europa. Geprägt hat den Begriff der englische Kritiker Lawrence Alloway. Die Motive der Pop Art entstammten der Alltagskultur, den Konsumgütern, den Medien und der Werbung. Triviale Dinge wurden durch Isolierung, Wiederholung und poppige Farbgestaltung, vorwiegend in den Primärfarben, zum Kultobjekt erhoben, wie zum Beispiel Campbell-Dosensuppen. Künstler der Pop Art arbeiteten häufig mit Siebdruck und Fotomontage. Laut zahlreicher Kunsthistoriker und -kritiker von Richard Hamilton in Großbritannien begründet, feierte die Pop Art in den USA der 1960er-Jahre schließlich ihren Höhepunkt. Zu den wichtigsten Künstlern dieser Kunstrichtung zählten neben Andy Warhol und Richard Hamilton auch Roy Lichtenstein, Jasper Johns und Robert Rauschenberg.
De Stijl:
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De Stijl war eine niederländische Künstlervereinigung von Malern, Architekten und Designern, die 1917 in Leyden von Theo van Doesburg und Piet Mondrian ins Leben gerufen wurde. De Stijl wollte Architektur, Malerei, Bildhauerei, Design, Typografie und Dichtung elementar verändern. Sie verpflichtete sich zu strenger Gegenstandslosigkeit und radikaler Reduktion von Farbe und Form auf die drei Primärfarben Rot, Gelb und Blau sowie den Nichtfarben Schwarz, Grau und Weiß. Die abstrakten Elemente sollten in geometrischer horizontaler und vertikaler Ordnung stehen. Diese Ordnung diente der Veranschaulichung universaler Lebensprinzipien. De Stijl wandte sich gegen jede traditionelle Stilanbindung, gegen Individualität, natürliche Formen und Schnörkel. Ihr Ziel war es, die für sie überholten Kunststile zu überwinden und eine neue, reine Kunst mit formellem Ästhetik-Anspruch zu erschaffen.
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Dekonstruktivismus:
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International bekannt wurde der Dekonstruktivismus 1988 durch die Ausstellung „Deconstructivist Architecture“ im Museum of Modern Art in New York. Es handelte sich um eine Strömung in der Architektur seit Beginn der 1980er-Jahre, die eine Auflösung des architektonischen Körpers und „eine wie in sich zusammenstürzend wirkende Neuordnung der Bestandteile“ verfolgte. Die Architektur zeichnete sich durch einen freien, spielerisch leichten Umgang mit architektonischen Elementen und Gliederungsstrukturen aus. Bisherige Kategorien wie Regelmäßigkeit, Reihung oder Symmetrie waren ihr weitestgehend fremd. Der Dekonstuktivismus durchbrach die feste Ordnung und verwandelte architektonische Elemente wie Dächer, Treppen oder Fenster in autonome Formen, die wie Skulpturen anmuteten. Beispiele für dekonstruktivistische Architektur sind das Vitra Design Museum in Weil am Rhein von Frank O. Gehry oder das Jüdische Museum in Berlin von Daniel Libeskind.
Moschee zum Selbstgestalten Geht noch besser? Dann ausschneiden, gestalten, fotografieren oder einscannen und an info@ehrenfelder.org senden. Die spannendsten EntwĂźrfe werden auf unserer Homepage ausgestellt.
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Yesterday’s future
„Voids are the empty spaces between filaments, the largest-scale structures in the universe. But this does not apply to Breitbandkater. His definition of void is filled up with smooth cords, shuffling grooves and soulful deepness. Taking you on a journey into the large-scale structure of the universe called house.“1 Text/Interviews: Matthias Knopp, Fotos: Tanja Steffen
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Breitbandkater aka Oliver Koch findet Dystopien spannender als Utopien. Dabei hat er Sozialarbeiter gelernt. Er lebt seit zwölf Jahren – anfangs zufällig, später absichtlich – in Ehrenfeld. Er mag in Ehrenfeld unter anderem die kurzen Wege zwischen den Orten. Wohnhaft ist B. mittlerweile im Herzen Ehrenfelds, zuvor führte ihn sein Weg aus den Randgebieten hinein ins gesetzte, noble Ehrenfeld, später in jenes, in dem er sich nun wohlfühlt: ein nicht ganz so schickes, aber auch nicht sooo heruntergekommenes Ehrenfeld. Musikalisch ist B. zwischen Deep House, Chicago und Detroit Techno einzuordnen, seine aktuelle Veröffentlichung ist auf dem Köln-Mülheimer Label Technology Gap erschienen. 2002/03 veröffentlichte B. passenderweise den Track „Yesterday’s Future“. Abgerissen in Ehrenfeld gehört laut B. unbedingt das Kaufhaus „Kaufland“; genau dort soll dann der Park hin, den er sich so dringend wünscht. Tagsüber arbeitet B. in einer Tagespflegeeinrichtung für demente Menschen. Dort taucht er mit den angeblich Technologiefernen in die Weiten unserer digitalen Welt.
ehrenfelder: Dich würden vor allem Dystopien interessieren, sagtest du bei unserem allerersten Gespräch. Was interessiert dich daran besonders?
Breitbandkater: Wohin sich unsere Gesellschaft im Schlechten entwickeln kann. Also wie sie sich entwickelt, wenn all die – grundsätzlich ja zur Erschaffung von Gutem gedachten – technischen Möglichkeiten plötzlich Negatives hervorbringen; also das Heilsversprechen gar nicht einlösen. So diese ganz klassische Vorstellung: Man will ein Allheilmittel finden und erschafft versehentlich den Supervirus, der prompt die gesamte Menschheit auslöscht. Dystopien finde ich vor allem spannend, weil sie Bezug zur Gegenwart haben und oftmals viel weitreichender sind, als irgendwelche lustigen Raumschiff-Visionen im Science-Fiction. ehrenfelder: Die neue Moschee sieht doch ganz schön nach Raumschiff aus, war die je Utopie für dich?
Breitbandkater: Ich dachte eigentlich immer nur, wenn so etwas funktionieren kann, dann hier in Ehrenfeld. ehrenfelder: Hat deine Musik utopische Elemente bzw. ist deine Musik selbst stellenweise utopisch?
Breitbandkater: Ich hab mal, ist schon ein paar Jahre her, den Begriff ‚Yesterday’s Future‘ sehr „Ehrenfeld, das ist doch Aussage gemocht – also die Zukunft der Vergangenheit. Ich denke, wenn genug mittlerweile, da braucht meine Musik utopische Elemente oder so etwas hat, dann eher in es kein extra Label. Selbst wenn dem Sinn, wie es in den 80/90erdu in Berlin bist, Hamburg oder Jahren Zukunftsthemen in der Musik gab. Weil ich auf ziemlich sonst wo, der Name Ehrenfeld ist viele moderne Effekte und Prodoch überall bekannt. Der steht duktionstechniken verzichte und versuche, trotz Software wie Abdoch auch schon für sich als Marke, leton usw., das Ganze zu reduzieoder? Ob das nun gut ist oder nicht, ren. Okay, damals die hatten halt Drum-Computer und den ganweiß ich nicht.“ zen Kram; weil’s billig war, nicht weil’s das Beste war. Und haben aber damit dann versucht, etwas zu erschaffen – eine Zukunft zu schaffen; und genau das ist ja die Zukunft 1 Text zur Release von Modularfield: [MDF06] – der Vergangenheit – von heute aus gesehen. Genau das finde ich momenBreitbandkater – The Void tan spannend in der Musik. Die jetzige Zukunft der Musik finde ich dagemodularfield.net/ (MP3) gen undefinierbarer. Ich würde aber nicht behaupten, dass ich Speerspitze für die Erforschung neuer Musik bin. modularfield.net/#/ technology-gap/ (Vinyl)
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Speerspitze Der Kampf um die Häuser. Seite 40
ehrenfelder: Angenommen, es gäbe eine Compilation namens „Ehrenfeld is Utopia“, und du müsstest für diese Platte einen Track aus deinem Repertoire auswählen – welcher wäre das?
Breitbandkater: Wohl am ehesten die B-Seite von der Platte „I wonder why“. Die habe ich mal zusammen mit Mehmet Kuçin gemacht; die ist sehr klassisch instrumentiert, in etwa so, wie in den 80ern die Techno-
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> Leere Worte zum Füllen der vollkommenen Leere sammelt Matthias Knopp auf Seite 72.
und House-Sachen entstanden sind. Darauf ist ein Track mit Vocals, der noch am ehesten diesen ‚Vergangenheits-Zukunftsaspekt‘ von der Sound-Ästhetik her hat; analoge Klänge usw., also eben so, wie man in den 80ern Musik gemacht hat. Aber eigentlich würde ich dafür lieber was ganz Neues machen, das wäre dann eine ganz andere Art von Sound. ehrenfelder: Eine deiner aktuellen Veröffentlichungen heißt „The Void“, mit Blick auf unsere Utopie-Thematik in ef #2 finden wir das ja sehr passend. Wie kamst Du zu dem Titel?
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Breitbandkater: Ich fand den Ausdruck klanglich und von seiner Bedeutung her erst mal interessant. Ich mag diese Vorstellung von der Leere, die gefüllt wird mit irgendetwas. Man hat da was, wo man seine Vorstellung reinprojigreifbar facebook.com/breitbandkater zieren kann. Das ist aber alles nicht greifbar. Ich bin mir noch nicht mal sicher, ob das überhaupt zu dem „In Krisen ist man viel passt. Darauf kreativer. Wenn ich glücklich Track gekommen bin ich über den Musiker bin, kommt musikalisch bei Sun Ra, der meinte mir tagelang nichts rum. In ja immer, er käme einer Krisensituation dagegen vom Mars.
passieren die spannenden Sachen, da entstehen die richtig guten Tracks; gerade auch in Phasen des Umbruchs.“
ehrenfelder: Was ist für dich heute in der Musik Realität geworden, was früher noch total utopisch war?
Breitbandkater: Als ich zu Beginn der 90er anfing, Musik zu machen, da hatte ich ganz simpel einen Amiga mit 4-SpurtrackerSoftware. Das gab’s damals einfach dafür. Du konntest zuhause am Rechner was machen und brauchtest nicht viel – das war allerdings: scheiße. Wenn man aber richtig Musik machen wollte, musste man einen Synthesizer kaufen, einen Drum-Computer kaufen, Sampler, Effektgeräte kaufen …, man musste sich wirklich
eine komplette Studioausrüstung zusammenkaufen. Diese Studioausrüstung war teuer teuer teuer; selbst die billigsten Geräte waren teuer. Und gleichzeitig hab ich damals gern Startrek im TV gesehen, und da gab’s halt das Holodeck. Und da war ich völlig fasziniert damals. Ich dachte aber nicht, „oh geil, wenn ich so ein Holodeck hätte, würde ich mir die und die Szenarien nachbauen …“, nein! Ich würde mir ne 303er, eine 909er und die ganzen Equipment-Sachen ins Holodeck setzen lassen und damit Musik machen – und genau das ist wahr geworden! Heutzutage gibt es alle Plugins zum Downloaden, alles am Rechner, du kannst es einfach reinsetzen; du kannst dir sozusagen dein Studio zusammenstellen wie du willst und musst dafür eben nicht 100.000 Euro ausgeben. Mit Ableton und den ganzen downloadbaren Plugins, die richtig gut sind, kannst du Musik machen, die dich früher Unsummen gekostet hätte. Unsummen, nur um allein das Equipment zu haben. Heutzutage hat man den Rechner ja ohnehin. Was das Musikmachen angeht, ist das für mich wahrgewordene Utopie. ehrenfelder: Beeinflusst dich Ehrenfeld in deinem Musikmachen?
Breitbandkater: Sicher, Ehrenfeld prägt mich; es ist ja auch das Viertel, in dem ich am liebsten wohne. Wenn man Ehrenfeld ausschneiden würde und irgendwohin verpflanzen täte, wäre es trotzdem eine coole Stadt, von dem her, was es hier an Möglichkeiten gibt. Ich mag die Mischung der verschiedenen Leute und Läden, das Runtergekommene, das Modernisierte, all die verschiedenen Sachen die es hier gibt, die alten Fabrikhallen, die kurzen Wege. Und gleichzeitig ist es nicht so perfekt; was wiederum so eine Parallelität ist zur Musik, denn ich mag in der Musik das Nicht-so-Perfekte gern, und dieses „Es kann was Schönes haben, aber auch was Hässliches“, oder zugleich etwas Rohes und etwas Fertiges, also diese Mischung. Und das ist es meiner Meinung nach, was Ehrenfeld so spannend hält. Zumindest im Moment noch. Wer weiß, wie Ehrenfeld in 20 Jahren aussieht.
„Die ‚Insel Ehrenfeld‘ könnte man einfach irgendwo anders hinsetzen in Deutschland, und das würde bestimmt funktionieren. Schon allein dadurch, dass so viele Leute extra nach Ehrenfeld kommen, z. B. um hier auszugehen, um zu tanzen usw. Ich finde, dass Ehrenfeld ein bisschen unabhängiger funktioniert als der Rest Kölns; Ehrenfeld braucht den Rest von Köln gar nicht so dringend.“
ehrenfelder: Das wäre interessant: Sag doch mal, wie sieht dein gedachtes Ehrenfeld im Jahr 2030 aus?
Breitbandkater: Genauso wie die Südstadt. Renoviert. Restauriert. Teurer geworden. Diverse Sachen sind weg, viele von den Hallen wird’s nicht mehr geben. Dafür wird es mehr Einkaufs- und Wohnmöglichkeiten geben. Die verbleibenden Straßen mit schönen Altbauten werden renoviert sein. Die Altbauten, die man in den 50er-Jahren verhunzt hat, werden unter Umständen neu gemacht und viele werden hier wohnen, na, kennt man ja, Altbauwohnung restauriert, doppeltes Einkommen, einer davon ist Doktor – solche Leute. So könnte sich das entwickeln, schätze ich. Der jetzige Zustand wird bestimmt nicht ewig anhalten. ehrenfelder: Würdest du denn irgendwo ‚das neue Ehrenfeld‘ lokalisieren? Gibt es da vielleicht schon irgendwo erste Anzeichen?
Breitbandkater: Na klar, Mülheim. Das ist doch eine relativ logische Entwicklung, – vor allem, wenn man sich ansieht, was mit der Südstadt passiert ist. Als die ‚fertig‘ war, war Ehrenfeld gerade am Anfang, mittlerweile entstehen in Mülheim ein paar Sachen, gleichzeitig hat man dort auch noch ein gewisses Durcheinander, – wer weiß, in 50 Jahren ist vielleicht wieder die Südstadt runtergekommen, und dann kann da wieder was passieren. Aber in der Regel passiert nicht dort, wo alles schnieke und sauber ist, was Neues, sondern vielmehr dort, wo sich der Dreck in die Zwischenräume setzen kann. ehrenfelder: Welche Utopie wünschst du Ehrenfeld?
Breitbandkater: Dass es zu einem Ehrenfeld wird, in dem es höchstens ein Fünftel der Autos gibt. Dort, wo jetzt die Autos ihren Platz haben, müsste man dann überall Bäume pflanzen, mehr Grün reinbringen, aus der Venloer Straße eine Fußgängerzone machen. Was in Köln und Ehrenfeld fehlt, sind schöne Plätze. Es gibt zwar welche (die aber alle nicht so toll sind), aber es könnte viel mehr geben, wenn man den Autos den Raum nehmen würde. Einfach stattdessen Grün pflanzen würde so dass die Leute hier ein Leben führen könnten, so wie man es im Süden führt. Wo man auf Plätzen lebt, wo man schlichtweg in der Öffentlichkeit lebt.
Ich kenne das aus Basel oder Zürich, da hat man viel mehr Plätze. Die Leute holen sich irgendwo was zu essen und setzen sich einfach draußen irgendwo hin – die verschiedensten Leute sitzen da zusammen. Dieses öffentliche ‚DraußenLeben‘, das habe ich in Köln schon immer vermisst. Klar, es findet in den Parks ein Stück weit statt, und momentan auch z. B. am Brüsseler Platz, aber solche öffentlichen Plätze gibt es viel zu selten. Dabei hätte ich davon so gerne welche. Leider kommt mir diese Idee selber ziemlich utopisch vor. ehrenfelder: Was findest du phantastisch an Ehrenfeld?
Breitbandkater: Die kurzen Wege! Dass alles so unglaublich schnell erreichbar ist. Ehrenfeld ist doch eigentlich eine Kleinstadt; aber eine mit einem Angebot, das es in typischen Kleinstädten nicht gibt. Das finde ich phantastisch. ehrenfelder: Hattest du so etwas wie einen Kindheitstraum, oder sogar eine ‚Kindheitsutopie‘?
Breitbandkater: Als ich angefangen habe, Musik zu machen, so mit 18, 19 Jahren. Da habe ich im TV einen Bericht über einen Musiker gesehen, der in einer kleinen Dachgeschosswohnung lebte; nicht groß, der hatte nicht viel, der hat auch nicht wirklich viel Geld verdient. Obwohl der immer irgendwas gearbeitet hat, seine Musik gemacht hat usw. Der war etwa 30, 40 Jahre alt, keine Ahnung – einer, der es nicht wirklich zu etwas gebracht hatte, aber trotzdem einen glücklichen und zufriedenen Eindruck machte. Das war immer auch so ein bisschen meine Utopie bzw. mein Ziel. Ich habe eine kleine Wohnung, damit bin ich zufrieden. Ich muss mir keine Sorgen um irgendwas machen, kann meine Musik machen. Muss mir vor allem keinen Stress machen von wegen ‚ich bin zu berühmt geworden‘ oder sonst was. Genauso wie der Jazzmusiker, der in seiner Dachgeschosswohnung irgendwo in der Stadt wohnt, Sachen macht und dabei ein glückliches kleines Leben führt. Das war so für mich die Utopie damals. ehrenfelder: Wie stellst du dir dein Leben im Jahr 2030 vor?
Breitbandkater: In zwanzig Jahren? Vermutlich bin ich dann noch hier. Eigentlich gar nicht so viel anders als jetzt. Eigentlich soll ruhig alles so bleiben, das ist okay so. ehrenfelder: Wir danken dir für das Gespräch.
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mehr Einkaufs- und Wohnmöglichkeiten Des Menschens endliche Errettung. Seite 10
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Ehrenfeld? Zum Selberbasteln! ! In Ehrenfeld wird viel gebastelt. Und ab sofort nicht mehr nur in der Körnerstraße. Jetzt downloaden und mitklöppeln: Das Schnittmuster von Nane Weber für Ehrenfeld
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Süüüss! Liebreiz ist nicht alles, meint Adrian Kasnitz. Seite 46
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> Ehrenfeld als Schnittmuster: Nähe dir dein eigenes Ehrenfeld mit unserem Schnittmuster zum Download auf der Seite www.ehrenfelder.org
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Die Redaktion [2]
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[1]
Prasanna Oommen PR-Journalistin, Autorin, Sprecherin. Lebt in Köln-Mülheim, arbeitet in Ehrenfeld. Schreibt und denkt für ehrenfelder. www.oommenhoppe.de
[1]
Matthias Knopp Angewandter Sprachwissenschaftler. Lebt und arbeitet in Ehrenfeld. Denkt und schreibt für ehrenfelder und die Linguistik. www.designorama.de
[2]
Mareile Busse Diplom-Designerin. Lebt und arbeitet in Ehrenfeld. Gestaltet und denkt für ehrenfelder. www.mareilebusse.de
[3]
Jessica Hoppe Texterin. Lebt in Köln-Mülheim, arbeitet in Ehrenfeld. Schreibt und denkt für ehrenfelder. www.oommenhoppe.de
[4]
Stefan Flach Diplom–Designer. Lebt in Köln-Sylts, arbeitet in Ehrenfeld. Gestaltet und denkt für ehrenfelder. www.filter-design.de
[5]
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[4]
Autoren, Fotografen und Illustratoren Nicole Ankelmann
Adrian Kasnitz
arbeitet als Musikredakteurin und stellvertretende Chefredakteurin eines Musik-Magazins in Ehrenfeld. Außerdem betreibt sie ehren*worte, eine Ein-FrauAgentur für PR-Texte und Redaktion. www.ehrenworte.de
lebt als Schriftsteller und Herausgeber in Köln. Er veröffentlichte bislang vier Gedichtbände. Seine Texte wurden u. a. mit dem Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln und einem Arbeitsstipendium der Kunststiftung NRW (2010) ausgezeichnet.
Jörg Dicke
Andreas Möltgen
wurde ausgebildet und sozialisiert in Köln, Wiesbaden und Frankfurt und lebt in Ehrenfeld. Er arbeitet heute als freiberuflicher Fotograf.
lebt und arbeitet in Köln. Seit 1998 setzt er seine Sicht der Dinge als freier Fotograf in Bilder um. www.andreas-moeltgen.de
Stefan Ditner
Klaus-Ulrich Pech
ist freischaffender Kameramann und Fotograf seit 2000. Lebt und arbeitet unter anderem in Köln. www.1st-unit.com, www.stefanditner.de
ist Literatur- und Kulturwissenschaftler an der Universität zu Köln. Ein Arbeitsschwerpunkt: Urbanisation in literarischen Bildern und Diskursen.
Alina Edelstein
Jule Steffen und Matthias Schmidt
ist Diplom-Designerin und lebt und arbeitet in Köln. Von minimalistisch, puristisch bis hin zum verspielten Design bietet sie individuell maßgeschneiderte CI-Konzepte an. www.alinaedelstein.de
sind kikkerbillen. kikkerbillen findet Konzepte und Gestaltung für alle Interfaces, bietet Illustration, Corporate Design, Webdesign, Katalog- und Buchgestaltung und Fotografie. www.kikkerbillen.de
Aski Ayran Elber wohnt seit ihrer Studienzeit in Ehrenfeld. Sie arbeitet als Fachlektorin für Wirtschaftstexte und als Autorin von Lyrik, Prosa, Essays, Songs.
Helmut Frangenberg berichtet als Redakteur beim Kölner Stadt-Anzeiger über Kommunalpolitik und Stadtentwicklung. Der gebürtige Kölner und Wahl-Neuehrenfelder schreibt Kölnkrimis und Biografien über Kölner Originale.
Tanja Steffen ist Grafik-Designerin und arbeitet in Ehrenfeld. Ein weiterer Schwerpunkt: Fotos, die immer öfter von ihr selbst fotografiert werden. www.steffen-kommunikation.de
Nane Weber arbeitet als Kommunikationsdesignerin in Ehrenfeld und macht unter anderem Texte zu Bildern, Bettwäsche zu Tieren, Kitsch salonfähig, EditorialDesign und Illustrationen. www.blickheben.de
Ingo Gräbner ist Lehrer, Bildhauer, Fotograf und entwickelt kommunikative Konzepte. Er war Initiator des Atelier Sömmering und des Tata West/Ost (Kunstfestival in Ehrenfeld und Köln).
Thilo Großer ist freier Wirtschaftsjournalist und schreibt für überregionale Zeitungen ebenso gerne wie für lokale Blätter. Er lebt und arbeitet in Ehrenfeld.
Olaf Hirschberg ist Fotograf und Filmemacher. Er lebt und arbeitet in Köln-Mülheim. www.olafhirschberg.de
Dorothea Hohengarten ist ausgebildete Journalistin (SWR) und hat zuletzt das Kölner Blog „Meine Südstadt“ mit aufgebaut. 2011 hat sie gemeinsam mit anderen Südstädtern die Initiative „NeuLand“ gegründet.
Lars Welding hat in Köln studiert und arbeitet seit 2008 als freier Fotograf im In- und Ausland mit den Schwerpunkten People, Portrait, Editorial, Reportage. www.larswelding.de
Bernd Wilberg ist geboren in Porz – jetzt Köln. Er arbeitet als Journalist und ist Politikredakteur des Monatsmagazins StadtRevue, wo er unter anderem für die Ressorts Stadtplanung und Stadtentwicklung zuständig ist.
Katharina Wolff hat in Köln Stadtgeographie studiert, lebt in der Kölner Südstadt und arbeitet seit 10 Jahren als freie Autorin und Dokumentarfilmerin. 2004 gewann sie den Kölner Medienpreis und 2008 den Axel-Springer-Preis in der Kategorie Fernsehen.
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IMPRESSUM Ein Wort zum Anfang (Schluss): Unser diesjähriges Impressum setzt sich anders zusammen als beim Pilotprojekt ef #1: Wir haben nun eine feste Struktur mit Chefredaktion und Artdirektion, die sich für jede Ausgabe engagierte Mitstreiter sucht. In ef #2 drucken wir Artikel, Fotos und Illustrationen ab, deren Urheber Profis in ihrem jeweiligen Genre sind – deren Qualitätskriterien unseren entsprechen. Das heißt jedoch nicht, dass das Abgedruckte immer unsere Meinung widerspiegelt. Natürlich haben wir geprüft und redigiert, aber am Ende haben wir uns im Sinne freier Autorschaft vor allem formale Änderungen erlaubt. Unser Statement ist die Auswahl unserer Mitstreiter, denn wir haben sie sorgfältig gesucht und tatsächlich gefunden: Menschen, die ihren Standpunkt konsequent vertreten und die Streitbarkeit nicht scheuen. Menschen die wissen, was sie tun. Wir fühlen uns geehrt, dass sie alle zugesagt haben, für uns zu schreiben, zu fotografieren und zu illustrieren, DENN: Sie haben es – genauso wie wir – kostenlos getan, obwohl sie von ihrem Tun leben. Ohne sie alle gäbe es ef #2 nicht. Danke. CHEFREDAKTION Jessica Hoppe (JH), Matthias Knopp (MK), Prasanna Oommen-Hirschberg (PO) KREATIVDIREKTION Mareile Busse, Stefan Flach Gastautoren Nicole Ankelmann, Werner Blamberg (†), Aski Ayran Elber, Helmut Frangenberg, Ingo Gräbner, Thilo Großer, Dorothea Hohengarten, Adrian Kasnitz, Klaus-Ulrich Pech, Bernd Wilberg, Katharina Wolff FOTOS Jörg Dicke, Stefan Ditner, Stefan Flach, Olaf Hirschberg, Matthias Knopp, Andreas Möltgen, Matthias Schmidt, Jule Steffen, Tanja Steffen ILLUSTRATIONEN /Grafik Mareile Busse, Alina Edelstein, Stefan Flach, Dennis Kluth (Praktikant), Nane Weber LEKTORAT Aski Ayran Elber, Jessica Hoppe, Matthias Knopp, Christiane Martin, Prasanna Oommen, Daniel Quade, Vera Richter, Nane Weber HERAUSGEBER ehrenfelder DANKE! An alle Interviewpartner, die sich Zeit für uns und unsere Autoren genommen haben. An alle, die uns im Entstehungsprozess mit ihren Ideen, ihrer Zeit und ihren Orten bereichert haben, im Besonderen: Belviego, Thilo Großer, Constanze von Kitzing, Majon Kostrzynski, Andreas Lemke, Christina Pellmann (Praktikantin), Denis Pfabe (Praktikant), Sabrina Tibourtine, Nane Weber, Oliver Zliq Weber, Designquartier Ehrenfeld (DQE) VERANTWORTLICH FÜR DEN INHALT ehrenfelder, Vogelsanger Straße 193, 50825 Köln, info@ehrenfelder.org Nachdruck, Aufnahme in Online-Dienste, Internet und Vervielfältigung dürfen nur nach schriftlicher Zustimmung der Herausgeber erfolgen. Alle Rechte vorbehalten. www.ehrenfelder.org
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Erst wer in der Realität angekommen ist, weiß, wie schön es in der Utopie war.
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