crescendo 2/2010, Ausgabe März/April/Mai 2010

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Appónyi-Quartett

Frank Martin

LEBHAFTE RUPPIGKEIT

IN BESTFORM

„Wenn Gott durch Musik mit den Menschen sprechen wollte, würde er dies mit den Werken Haydns tun; wenn er jedoch selbst Musik hören wollte, würde er die Werke Boccherinis wählen“, mutmaßte ein französischer Komponist vor zweihundert Jahren. In der Tat sind Boccherinis fast einhundert (!) Streichquartette von wohltuender stilistischer Verlässlichkeit abseits jeder irdischen Launen, was das Appónyi-Quartett, das sich aus den Stimmführern des Freiburger Barockorchester zusammensetzt, glücklicherweise nicht davon abhielt, die Werke mit einer lebhaften Ruppigkeit zu musizieren. Wunderschön heitere Menuett-Themen wechseln sich mit fantasievollen Kadenzen. Eine CD, um den Komponisten völlig neu zu entdecken. Da macht es auch nichts, dass die Aufnahmen bereits aus dem Jahr 1993 (laut dem Cover der CD) beziehungsweise 1995 (laut dem Beiheft) stammen. Was sind – für Gott – schon die paar Jahre? Martin Morgenstern

Das muss man Daniel Reuss erstmal nachmachen: Man hört nur die einleitenden Klänge von Frank Martins „Golgotha“-Oratorium und ist sofort mitten drin im Geschehen, glaubt sich am Golgotha-Hügel stehend, aufblickend zu den blut-triefenden Kreuzen und dem düsteren Himmel. Und dann erinnert man sich angesichts der „Père!“-Rufe („Vater!“) an den Beginn von Bachs „Johannespassion“. Diese Aufführung ist dermaßen packend und erschütternd, dass man es mitunter kaum ertragen kann. Besonders wirkungsvoll: Der Solo-Bass, der wie ein Evangelist fungiert, klingt wie aus einer anderen Welt. Der Estnische Philharmonische Kammerchor, den Reuss seit 2008 leitet, sein Chor „Cappella Amsterdam“ und das Estonian National Symphony Orchestra musizieren in Bestform; vom Chor und den vorzüglichen Solisten versteht man jedes Wort. Benjamin-Gunnar Cohrs Frank Martin: „Golgotha“, Daniel Reuss (harmonia mundi)

Boccherini: „Streichquartette“, Appónyi-Quartett (ARSMusici)

Claude Debussy

Klenke Quartett

RAFFINIERTE KLANGTEPPICHE

NICHT GANZ AUSGEREIZT

Zwei Männer lieben die gleiche Frau. Der Ehemann bringt den Nebenbuhler um, die Frau stirbt an Verzweiflung. Das Drama des französischen Symbolisten Maeterlinck scheint simpel gestrickt, ist es aber nicht – wie auch nicht Debussys geheimnisvolle Musik. Die Figuren agieren nicht wie Menschen aus Fleisch und Blut, sondern wie Träumer in einer zauberhaft verschleierten Welt, in der es keine Erfüllung irdischen Glücks gibt. Jahrelang stand das komplizierte Stück nicht auf dem Spielplan der Zürcher Oper. Sven-Eric Bechtolfs Neuinszenierung spielt in schneebedeckten Schreckensgrotten, die Darsteller kommunizieren mit Puppen, die ihnen nachgebildet sind und in Rollstühlen sitzen – Schein und Sein werden eins. Dirigent Franz Welser-Möst webt – nicht immer – raffinierte Klangteppiche, Michael Volle als Golaud etwas puccinihaft, Isabel Rey ist eine liebliche Mélisande und Rodney Gilfrys Pelléas ist sympathisch. Teresa Pieschacón Raphael Debussy: „Pelléas et Melisande“, Welser-Möst (TDK)

Michael Maniaci

MOZART – MÄNNLICH Die Sorge in der Baptisten-Familie Maniaci war groß, als ihr Sohn Michael nicht in den Stimmbruch kam. Der Schreck von einst bedeutet das Glück von heute; Maniaci wurde einer der ganz seltenen männlichen Soprane; im Gegensatz zu den Countertenören musste er sich nicht die hohe Stimmlage antrainieren, sie ist ihm „natürlich“ gegeben und prädestiniert ihn für die „Hosen“-Rollen in Mozart-Opern, die ursprünglich für weibliche Soprane vorgesehen waren. „Hier kann ich als Mann den Rollen das geben, was eine Frau stimmlich nur gut oder schlecht nachahmen kann: das Männliche“, sagt er. Mit seiner einzigartig androgynen und hellen Stimme sucht Maniaci dramatische Tiefen auszuloten, ob als Idamante im „Idomeneo“, Sesto in „La Clemenza di Tito“ oder Cecilio in „Lucio Sillo“. Das gelang in dieser Einspielung nicht immer. Teresa Pieschacón Raphael „Arias for male Soprano“, Mozart, Maniaci (Telarc)

Mehr Tschaikowsky auf der crescendo premium-CD, Track 8.

Mehr Boccherini auf der crescendo premium-CD, Track 2.

rezension 28 | www.crescendo.de 02 2010

Tschaikowskys Kammermusik ist hierzulande wenig bekannt. Seine drei Streichquartette sowie das kunstvolle, Reminiszenzen durchtränkte Streichsextett hat das Weimarer Klenke Quartett in gefühlsbetonten Interpretationen vorgelegt. Weich, warm und homogen ist der Klang des Damenquartetts, klar in der Linienführung, für manch einen womöglich zu wenig rebellisch im Umgang mit Tschaikowskys zum Schwelgerischen neigenden Durchführungen, doch stets klug austariert in Balance und Intonation. Die langsamen Sätze bekommen so ein schönes Cantabile, intim und versonnen, fast introvertiert. Die Gratwanderung zwischen kontrolliertem Spiel und bewegtem Loslassenkönnen in den schnellen Sätzen gerät vielleicht zu beherrscht. So treibt etwa das Rondo im Finale des 2. Quartetts nicht zu letzter Virtuosität, gerät die Übersteigerung der Fuge „nur“ technisch überzeugend. Uwe Schneider Tschaikowsky: „Streichquartette“, Klenke Quartett (BERLIN Classics)

Yutaka Sado

TSCHAIKOWSKYS 5. ENTZAUBERT Das Booklet lässt schon ahnen, was den Hörer erwartet: Die Nicht-Einlösung des Versprechens, Yutaka Sado gäbe Tschaikowskys Fünfter „die ursprüngliche Formästhetik und die tief empfundene Natürlichkeit zurück“. Im Gegenteil entkernt er Tschaikowskys emotionalen Kosmos so gründlich, dass ungeachtet des „präzise und geerdeten“ (tatsächlich vorzüglichen!) Spiels des DSO Berlin, der „dunkel schimmernden Wiedergabe“ und der „ausgewogenen Balance von Dramatik und Feinheit“ (so das Booklet) nurmehr ein bleiches Gerippe bleibt. Ziseliert, leicht und verkünstelt, bar jeder innerer Konflikte, immer nur schön und wohlklingend, bleibt die ungeheure Dramatik des Werkes auf der Strecke. Der „Slawische Marsch“ ist purer Lärm. Man sehnt sich hinterher zurück zu Mravinsky, Markevich, Svetlanov – ja sogar Günter Wand. Benjamin-Gunnar Cohrs Tschaikowsky: „Sinfonie Nr. 5“, Deutsches SymphonieOrchester Berlin, Yutaka Sado (Challenge Classics)


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