crescendo 4/2014, Premium Ausgabe Juni - Juli - August 2014

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p e r s o n a l i e n

g e s t o r b e n

Gerar d Mor tie r Wer sollte die Salzburger Festspiele leiten, nachdem Gott gestorben war? Ein Nachfolger für Herbert von Karajan, das schien: unmöglich. Ein radikaler Wandel musste her. Schluss mit Goldpapier und Marzipan im Schokomantel. „No risk, no fun“ mögen sich die damals noch mutigen Austro-Apparatschiks gedacht haben und verpflichteten das Enfant terrible aus der Brüsseler Oper La Monnaie. Gerard Mortier hatte dort mit dem Dirigenten Sylvain Cambreling das Regietheater neu erfunden und mit Herbert in der Jesuitenschule erzogen wurde, war Wernicke einen der größten Bühnenbildner ein Mensch, der das Dialektische lebte. Er zu einem der größten Regisseure gemacht. konnte Kohle in kunstvollen Provokationen Unvergesslich die Orpheus-Inszenierung ebenso schön verbrennen, wie er sie zuvor mit bellenden Hunden und U-Bahn-Crash. bei den Schönen und Reichen eintreiben Ich bin Mortier zum ersten Mal in Brüs- konnte. Besonders gern erinnere ich mich sel begegnet, ein Abendessen mit Journalis- an eine der letzten Salzburger Inszenierunten, die er wie kein anderer um den Finger zu gen. 2001 holte Mortier Hans Neuenfels für wickeln verstand, indem er sie zu Gleichge- die Fledermaus in die Felsenreitschule. Eine sinnten im Geist machte, zu Vertrauten – zu Aufführung voller Anspielungen auf die Diskussionspartnern. Mich begeisterte die Opern-Society, eine abgrundtiefe Watschen Formvollendung dieses Mannes. Ein Revo- für die Intrigen-Gesellschaft, ein vorprolutionär im Maßanzug. Wahrscheinlich grammiertes Buhkonzert! Nach 10 Jahren war die Hochkultiviertheit Mortiers’ ent- verwandelte sich die Salzburger Hochstimwaffnendste Waffe. Der Bäckerssohn, der mung zur Froststarre. Der Abschied war ein

heimlicher „Parteitag der neuen Oper“, wie Mortier das damals nannte. Er ging zur Ruhr-Triennale, nach Paris und später nach Madrid. Auch da haben wir uns regelmäßig getroffen. Mit funkelnden Augen kultivierte er das Ruhrgebiet, doch schon in Paris begann er zu resignieren, über die Gewerkschaften und die Schwerfälligkeit eines Operntankers. In Madrid schließlich geriet er erneut in den Intrigen-Dschungel. Dazu kam die verfluchte Krankheit. Die Endlichkeit wurde zum Teil seines Lebens. Heute hat Salzburg begriffen, wen es verloren hat: einen Musikmanager, der nicht nur die radikale Neupositionierung der Festspiele schaffte, sondern die Vergegenwärtigung der Oper als existenziellen Bestandteil unserer Alltags- und Debattenkultur. Nun ist auch der moderne Operngott tot. Die Ära des Regietheaters zu Ende. Die Festspiele haben es in den letzten Jahren versäumt, Mortiers Erbe anzutreten. Derzeit findet die stilvolle Revolution wohl im Opernhimmel statt. Hoffentlich bald auch wieder in Salzburg. Axel Brüggemann

Im Mai 1995 war ich eines Morgens mit einem Schlag hellwach. Aus dem Radio­ wecker klang ein spanisches Gitarrensolo von einer lässigen Eleganz und feurigen Leidenschaft, wie sie im Frühstücksradio selten ist. Bryan Adams sang „Have you ever really loved a woman?“ und Paco de Lucía, der ihn begleitete, war in der Popmusik gelandet, ohne auch nur einen Funken seiner Spielfreude zu löschen. Knapp 20 Sekunden blieben ihm für dieses Solo, 20 Sekunden, die er in perfekter Vollkommenheit nutzte. Misst man Zeit in Quantität, ist Paco de Lucía mit 66 Jahren in diesem Februar viel zu früh gestorben, misst man sie in Qualität, hat er stets aus dem Vollen geschöpft. Ob Flamenco, Jazz, Klassik, Popmusik oder Crossover, er hat das Flamencospiel wie das Gitarrenspiel neu erfunden, ohne je die Wurzeln zu kappen. Als er 1991 mit dem Concierto de Aranjuez von Joaquín Rodrigo (1901-1999) das wohl beliebteste spanische Konzertstück aufführte und live mitschneiden ließ, war das eine Sternstunde der Interpreta-

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tion. Da wagte sich jemand an ein klassisches Referenzstück, das jeder kennt, mit einer Eigenständigkeit, die zugleich verblüfft und überzeugt. Paco de Lucía spielte im Beisein des Komponisten auf seine vom Flamenco geprägte Weise voll rhythmischer und improvisierter Akzente. Er kam dem Werk damit so nahe, das Joaquín Rodrigo am Ende nur blieb, ihn zu umarmen, so berührt war er von dessen Version. Das war bezeichnend einmalig wie schon zuvor seine Gitarrenadaptionen aus Bizets Car-

men in der Verfilmung von Carlos Saura. Ob in Friday Night in San Francisco oder auf Envivo, seiner letzten CD, Paco de Lucía war immer jemand, der seine ganze Energie live einzusetzen wusste. Die atemlose Spannung, die Chance des Augenblicks, der Umgang mit Verspielern, für die er oft umso rasantere Lösungen fand, das hieß für ihn, die Seele der Musik erfassen. Kein Wunder, dass er nicht nur mit eigenen Ensembles virtuos über alle Grenzen hinweg musizierte, sondern auch mit Größen wie der Sitar-Legende Ravi Shankar, dem Pianisten Chick Corea, und er spielte sogar mit den Gitarristen Al Di Meola, John McLaughlin und Carlos Santana zusammen. Er war ein Botschafter des Flamenco, ein Botschafter der Gitarre. Der Welt hat er mit seiner Musik „der Seele Saitenspiel“ hinterlassen. Sein Name bleibt unvergesslich damit verbunden. Wenn es darum ging, sich selbst zu beschreiben, war er bescheiden: „Ich heiße Francisco Sánchez Gómez, alias Paco de Lucía, und bin Stefan Sell Gitarrist.“

www.crescendo.de

Juni – Augus t 2014

Fotos: Cornel Putan; PR

Paco de Lucía


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