Red Bulletin 0209

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Heroes

riccardo cassin hat als Bergsteiger, als Expeditionsleiter und als Entwickler moderner Kletterausrüstung Alpingeschichte geschrieben. Diesen Jänner ist er hundert Jahre alt geworden. Text: Peter Popham

Geburtsdatum/-ort 2. Januar 1909, San Vito al Tagliamento, Friaul Wohnort Lecco am Comer See, Lombardei Erlernter Beruf Schmied Bekannt für Erstbesteigungen in Italien (alle vor dem Zweiten Weltkrieg) und Expeditionen (USA, Pakistan, Peru) sowie die Entwicklung von richtungweisendem Kletterzubehör Web www.cassin.it

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Zu einer Zeit, als Klettern wegen der schlichten Ausrüstung noch deutlich gefährlicher war, setzte Cassin Zeichen mit kaum vorstellbaren Routen. Für ihn sprechen weniger Trophäen und Ehrungen als die verschnörkelten Linien, die er auf den Bergkarten zurückließ: Sie zeigen, dass Cassin als einer der Ersten begriffen hatte, wie man wirklich klettert. Mit der Besteigung der Nordflanke der Grandes Jorasses, des Walkerpfeilers, in 82 Stunden lösten er und seine Gefährten Gino Esposito und Ugo Tizzoni im August 1938 das letzte der drei „Probleme der Alpen“, neben Eiger- und Matterhorn-Nordwand. Italien hatte einen neuen Nationalhelden.

Cassin eröffnete dem Klettern viele Wände: Er kam auf über 2500 Touren, darunter mehr als hundert Erstbesteigungen. Und: Der Italiener bestimmte die Zukunft des Sports nicht nur als aktiver Kletterer, sondern auch als tüftlerischer Erfinder. Spezielle Kletterhaken, von ihm geschmiedet, waren nach dem Zweiten Weltkrieg der Beginn einer Firma für Kletterzubehör. Auch wenn Cassin als Geschäftsmann letztlich scheiterte, die Marke existiert noch. Was Cassin als Bergsteiger bis heute grämt, war sein Ausschluss von der italienischen Karakorum-Expedition, der im Juli 1954 die Erstbesteigung des K2 glückte, aus fadenscheinigen Gründen. Eine Enttäuschung, die er 1961 mit einer eigenen Expedition auf den Mt. McKinley in Alaska etwas milderte. Dabei wählte er eine neue Route zum Gipfel, die „Cassin Ridge“, die bis dahin als unkletterbar gegolten hatte. Unter den Glückwünschen war auch ein Telegramm von US-Präsident John F. Kennedy. Selbst in einem Alter, in dem sich die meisten Kletterer nur mehr via Fernglas den Bergen nähern, suchte Cassin die Herausforderung. Fünfzig Jahre nach seiner Erstbegehung der Nordostwand des Piz Badile über die nach ihm benannte Cassin-Route wiederholte er sie, mit 78. Und für die Presse, die das verpasst hatte, ein paar Tage danach noch einmal. „Ich bin stur“, bekennt Cassin. „Was ich angehe, bringe ich zu Ende. Ich bin nie von einem Berg heruntergekommen, ohne auf dem Gipfel gewesen zu sein.“ Heute ist Riccardo Cassin eine Legende. Zu seinem 100. Geburtstag enthüllte der Bürgermeister von Lecco eine Statue von ihm, vor dem Bahnhof. Schon vor den offiziellen Feierlichkeiten erwiesen große Bergsteiger Cassin ihre Reverenz, auch Reinhold Messner. Was ihn zeitlebens ausgezeichnet habe? Cassin: „Ich bin immer total ernsthaft geklettert. Deshalb wurden die Berge meine Freunde und haben mich und meine Kameraden nie verletzt.“ IFSC Kletter-Weltcup Boulder: 11./12. April 2009, Kazo, Japan Die Kletter-Stars von heute auf: redbulletin.com/climbing/de

BILD: FoNDAZIoNE CASSIN

Name Riccardo Cassin

In Italien sind die Berge immer nah, aber als Riccardo Cassin mit siebzehn vom Friaul, wo er geboren wurde, nach Lecco am Comosee übersiedelte, um sich in der hiesigen Industrie als Metallarbeiter zu verdingen, konnte er ihnen nicht mehr entkommen. Zunächst hatte Riccardo noch geboxt, jetzt ging es jeden Sonntag auf Leccos Hausberg, die Grignetta. Riccardo und seine Freunde waren bald als die Rocciatori Lecchesi, die Felskletterer von Lecco, bekannt: Keine Wand war vor ihnen sicher. „Wir hatten kein Geld, aber eine Leidenschaft fürs Klettern“, erzählte Cassin in einem Interview für climbing. com. Um das erste Seil und Karabiner zu kaufen, legten alle ihre Ersparnisse zusammen. Zu acht teilten sie sich die Ausrüstung, und das Klettern spielte sich so ab: Zwei bezwangen die Wand und warfen dann das Seil nach unten, damit die Nächsten nachkommen konnten. Auch die Anreise zu den tollen Wänden war mühsam. „Um zum Mont Blanc zu kommen und die Grandes Jorasses zu klettern, musste ich mit den Zug nach Pré-Saint-Didier, dann weiter mit dem Rad nach Courmayeur, zu Fuß zum Col du Gigante, den Gletscher hinauf zum Rifugio Leschaux. Dann erst war ich auf dem Plateau der Grandes Jorasses und konnte in die Wand. Auf diese Art war ich wenigstens gut aufgewärmt.“


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