Yves Zurstrassen MAMAC 2006

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Der kretische Traum des Malers Yves Zurstrassen

Es ist ihm nicht leicht gefallen, sich von den bedeu-

Überschneidungen dieses Bildes wird dem Nahsichtigen

tungsschweren Graphismen der schwarz-weißen Bilder zu

ein Reichtum an malerischen Details sichtbar, ein

lösen und der Heiterkeit, die starke Farbkontraste auslö-

Cornucopia von Sinnenlust, als hätte sich der Enkel mit

sen, einen „Geist“, einen Esprit zu vermitteln. Er musste

dem flämischen Großmeister Rubens einlassen wollen.

sich eine starke Selbstdisziplin dort auferlegen, wo die

Es ist schwer, einen Text über Malerei dieser Art

Verlockungen der Virtuosität am größten sind. Der

von Assoziationen frei zu halten. Kulturelle Gewohnheiten

Betrachter entdeckt schnell die Strenge, zu der er sich

diktieren uns allzu häufig, konkrete Farb- und

zwingt, wenn er die Bilder nebeneinander sieht: der Maler

Formerlebnisse in den Wirklichkeiten zu empfinden, in

variiert in ihnen das Schema einer Bildkomposition.

denen wir leben. Diese Wirklichkeiten sind seit dem 20.

In der vorderen Ebene des mehrfarbigen hellen

Jahrhundert unendlich gewachsen. Heute fällt es leicht, in

Hintergrundes erscheint der labyrinthische Mäander jener

den Bildern des Yves Zurstrassen ebenso Sterne und ihre

dunklen, meist braunen Energielinie, der eine Gruppe der

Planeten in Milchstraßen wie wimmelnde Archäen in

schwarz-weißen Bilder bestimmte. Er kann das ganze Bild

Mikroorganismen, Computersimulationen physikalischer

durchwandern oder sich in abgegrenzten Farbfeldern ver-

Experimente, tosende Gewitter und Giulio Romanos

knoten. Er kann sich in den Vordergrund drängen oder zum

Gigantenschlacht im Palazzo del Te in Mantua zu sehen.

Träger von vor ihm „schwebenden“, „geschnittenen“

Zuweilen verdächtigen wir sogar den Maler, Bilder der

Farbfeldern werden, die sich ihrerseits überlagern, stoßen,

Wirklichkeit absichtlich in Abstraktionen zu verschleiern,

schieben oder wie Eisschollen auseinander brechen (060807,

und öffnen uns nicht dem nahe liegenden Gedanken, dass

2006, 250 x 330 cm - S. 34). Oder dort setzen sich rote, gelbe

er überhaupt nicht aus der Welt der Bilder, sondern aus

und pinkfarbige Punkte wie ein Konfettiregen über die

der ganz anderen der Töne schöpft.

geprägten Formen, die unter ihrem Druck als Farbkörper in Bewegung geraten (060804, 2006, 190 x 400 cm - S. 35).

Visuelle Musik

Zurstrassen steigert die vibrierende Dynamik, die diese

„Perhaps Art is just taking out what you don t like

Bilder bestimmt, auf einer großen quadratischen

and putting in what you do. There is no such thing

Leinwand zu einem überaus komplexen Farbereignis,

as Abstraction. It is extraction, gravitation toward a

einem Konflikt von Wetterfronten sozusagen, in dem von

certain direction. It is nearer to music, not the music

links her die komprimierte Energie einer „Wolke“, gefüllt

of the ears, but the music of the eyes.“

mit konvulsivischen Farbflüssen und kleinteiligen

(Arthur Dove, 1929)

geschnittenen Elementen, diagonal gegen ein helleres, entspanntes, gedehntes, blau-gelb-weiß bestimmtes

Die Vorstellung des Violon d Ingres steht für die Liebe

Segment, einen klaren Himmel drängt. In den vielfältigen

der Maler zur Musik. Aber die Vorstellung einer Synästhesie,

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