Cargo - Zeitschrift für Ethnologie - Medizin und Ethnologie (Nummer 29)

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dass die Plazenta nicht in allen Kulturen den gleichen Stellenwert besitzt (Odent 1983: 63).5 In unserer Gesellschaft stößt sie eher auf Desinteresse und wird als Abfallprodukt gesehen, das nach der Geburt entsorgt werden muss. Odent erklärt das Bewusstsein für die Plazenta aus der gesellschaftlich vorherrschenden Gebärposition heraus. „Wenn eine Frau in der Hocke gebiert, wird die Plazenta spontan angeschaut, untersucht, benannt.“ Demnach „[...] existiert die Plazenta im Bewusstsein der Menschen [...]“ (Kuntner 1985: 63). Dies ist bei der vertikalen Geburtsposition – der Geburt in Rückenlage – nicht der Fall. Die Plazenta wird vom Arzt entsorgt und tritt nicht ins Blickfeld der Frau. „Wir können noch hinzufügen, daß in einer Gesellschaft, in der man zu Hocken weiß, auch das Neugeborene ´existiert` (Kuntner 1985: 63).“ Odent wagt mit dieser These eine Aussage darüber, wie wir unsere Kinder auf dieser Welt willkommen heißen, wie wir sie vom ersten Atemzug an betrachten. Folglich steckt in seiner Stellungnahme schon eine übertragene Deutung – die dichte Beschreibung – des Umgangs mit der Plazenta und damit die Wechselbeziehung zwischen Verhaltensweisen und Vorstellungen, zwischen Ansichten und Praktiken von Geburt.

Die Geburt – Ein Aspekt der Lebensweise?

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Die Geburt markiert den Eintritt des Menschen in diese Welt und ist Zeichen des Fortbestands, der Erneuerung des Lebens. Wäre die Geburt ein natürlich festgeschriebener, unveränderlicher Vorgang, so wären weder Beschreibungen, noch Vergleiche, noch Interpretationen dieses Ereignisses nötig. Da die Geburt jedoch auch eine kulturelle Dimension besitzt, gibt es – abhängig vom sozialen Kontext – verschiedene Vorstellungen und Vorgehensweisen. Ist es möglich, anhand der Art und Weise des Gebärens auch Aussagen über die jeweilige Gesellschaft zu treffen? Ist sie, mit Odent gesprochen, „ein Aspekt der Lebensweise“ (Kuntner 1985: 63)? Die Geburt ist ein Brennpunkt der Gesellschaft, in ihr spiegelt sich der Geist der Zeit mit seinen Vorstellungen vom Menschen und vom Leben. Es ist also nicht gottgegeben, dass wir unsere Kinder in sterilen Kliniken unter CTG-Überwachung [Wehen- und Herztonüberwachung] und PDA-Betäubung [Rückenmarksanästhesie] entbinden lassen. Mein Interesse an diesem vermeintlichen Frauenthema war geweckt. Ich versuchte, Einblicke in die Welt der Geburt außerhalb des Krankenhauses – außerhalb der vorherrschenden Sichtweise – zu gewinnen und mich mit den Gedankenkonzepten und Verhaltensweisen dieses „Geburtssystems“ vertraut zu machen. Doch ich musste mich erst von einigen ungeprüften Gewissheiten verabschieden, um dessen gesamte Tragweite zu verstehen. Bei uns ist Geburt weder Frauensache noch Privatvergnügen, sondern ein hoch brisantes, gesellschaftlich und politisch relevantes Ereignis. Mit dieser Meta-Ebene, die sich hinter der sozialen Realität verbirgt, wollte ich mich beschäftigen. Die Geburt ist außerdem eine kollektive Praktik: Sie verbindet Menschen überall auf der Welt, da jeder geboren wird – es gibt nun mal keinen anderen Weg ins Leben. Dennoch ist die Vielfalt der Praktiken und Bedeutungen in allen Gesellschaften und Kulturen sehr groß. Auch in meiner nächsten Umgebung, in der Klinikgeburt und der außerklinischen Geburtshilfe, traf ich auf die eben genannte Vielgestaltigkeit. Neben der teilnehmenden Beobachtung stützen sich meine Ausführungen auch auf Expertinneninterviews mit Geburtshelferinnen. Ingesamt habe ich drei Gespräche mit vier freiberuflich tätigen Hebammen geführt, die aus einem Schatz an praktischer Arbeit und Erfahrung schöpfen können und sich meist eine sehr differenzierte Position erarbeitet haben, mit der sie sich täglich auseinandersetzen.

Die Krankenhausgeburt – Normalität oder Ideologie? Während meiner Beschäftigung mit dem Thema sowie in den Gesprächen stellte sich mir vor allem die Frage, wie unser gegenwärtiges Bewusstsein entstanden ist und wodurch die vorherrschende Praxis ihre mächtige Sogwirkung erlangt hat, der sich ein Großteil der Bevölkerung nicht entziehen

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Ethnologie + Medizin

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