Vor 25 Jahren fiel der Eiserne Vorhang. Vor zehn Jahren traten acht postkommunistische Staaten der EU bei. Was wissen wir 端ber unsere Nachbarn jenseits der Grenze?
VORHANG AUF FÜR EUROPA! Der Eiserne Vorhang ist Geschichte –25 Jahre schon. Das ist gut, denn so konnte die junge Generation in Europa ohne Reisebeschränkungen, ideologische Grabenkämpfe oder Angst vor Atomkriegen aufwachsen. Aber das bedeutet auch, dass die Ereignisse von 1989 in immer weitere Ferne rücken. Die historische Bedeutung von Mauerfall und Perestroika scheint plötzlich nicht mehr so groß. Ein geteiltes Europa ist für viele junge Menschen unvorstellbar. Cafébabel, das erste Onlinemagazin für die Eurogeneration, wollte sich im Jubiläumsjahr nicht mit langweiligen Jahreszahlen oder unscharfen Schwarzweißbildern
zufriedengeben. Im März 2014 entwickelten wir daher das Reportageprojekt BEYOND THE CURTAIN. Junge Journalisten aus Deutschland, Polen, Österreich, Ungarn, der Tschechischen Republik und der Slowakei machten sich für Cafébabel auf die Suche nach ganz persönlichen Geschichten aus der Zeit vor und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Ihre Reportagen, die auf Cafébabel veröffentlicht wurden, zeigen ein geeintes, aber widersprüchliches Europa: Junge Österreicher, Slowaken und Ungarn tanzen beim Waves Festival gemeinsam zu elektronischen Klängen. Deutsche Jugendliche entdecken den Mauerfall für sich und warnen lautstark vor neuen Mauern an den östlichen Außengrenzen der EU. Junge Tschechen und Ungarn gehen um der Arbeit oder des Studiums willen nach Österreich. Auf der anderen Seite entscheiden sich aber immer noch vergleichsweise wenig Westeuropäer für ein Erasmusjahr im vermeintlichen „Osten“. Einen eisernen Vorhang zwischen Ost und West gibt es ganz sicher nicht mehr. Trotzdem verläuft 25 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion noch immer eine Grenze zwischen westeuropäischen und postkommunistischen Staaten. Diese Grenze zu überwinden, die eigentlich nur noch in unseren Köpfen existiert, ist das Ziel von BEYOND THE CURTAIN. Unsere Autoren, Fotografen und Dokumentarfilmer haben sich in binationalen Teams auf die Reise an die Grenze gemacht und werfen einen etwas anderen Blick auf Ost und West – jung, cool und unvoreingenommen. Damit Europa nicht nur auf dem Gesetzespapier der EU, sondern auch in unseren Köpfen zusammenwächst. LILIAN PITHAN, Chefredakteurin von Cafébabel Berlin
2 VORWORT
EIN NEUER BLICK AUF DIE GESCHICHTE Hundert Jahre Erster Weltkrieg und 25 Jahre Mauerfall: das Jahr 2014 stand im Zeichen des Gedenkens. Politiker erinnerten an die historischen Ereignisse, Zeitzeugen kamen zu Wort und die Gesellschaft diskutierte über die Bedeutung der Geschichte für die Gegenwart. Auch wenn viele junge Menschen den Fall der Mauer 1989 nicht persönlich miterlebt haben, zeigen sie doch Interesse an den
Umbrüchen der Jahre 1989/1990 – insbesondere dann, wenn das Thema entsprechend aufbereitet ist. Cafébabel setzt sich für die Vermittlung der geschichtlichen Ereignisse in Europa ein und stellt dabei auch Bezüge zur Gegenwart her. Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb zeichnete Cafébabel im vergangenen Jahr für das Reportageprojekt BEYOND THE CURTAIN mit einem Preis im Rahmen des Wettbewerbs „25 Jahre Mauerfall: Geschichte erinnern – Gegenwart gestalten“ aus. Mit der Auszeichnung wurden 25 Menschen, Organisationen und Projekte der historischpolitischen Bildung geehrt, die sich in besonderer Weise um die Vermittlung des Jahres 1989 verdient gemacht haben. Diese Projekte tragen zu einer lebendigen Demokratie bei, zu denen auch Meinungs- und Pressefreiheit gehören. Das vorliegende E-Magazin zeigt, wie das Leben heute – 25 Jahre nach dem Mauerfall – in den Ländern rund um den Eisernen Vorhang aussieht. Es ist ein buntes, internationales Leben, in dem Grenzen kaum noch eine Rolle spielen. Junge Menschen sind offen für die Menschen und Kulturen auf der jeweils anderen Seite des ehemaligen Eisernen Vorhangs. Und genau das braucht Europa. THOMAS KRÜGER, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb
3 VORWORT
SŁUBICE S. 14 - 15 POLEN
GÖRLITZ S. 10 - 11 DEUTSCHLAND
TSCHECH. REPUBLIK BRATISLAVA S. 6 - 7
SLOWAKEI
WIEN BUDAPEST
S. 8 - 9
S. 12 - 13 ÖSTERREICH
UNGARN
4 KARTE OSTEUROPAS MIT EISERNEM VORHANG
10 - 11
GÖRLITZ, VON DEN TOTEN WIEDERAUFERSTANDEN Emilia Wanat Christina Heuschen
2-3
VORWORT
6-7
PARTY OHNE GRENZEN
12 - 13
Eva Proske Ráhel Németh
Martin Maska Tomáš Mrva 8-9
IM UNGARISCHEN MELTING POT
PENDELN AUF SLOWAKISCH
14 - 15
DER LEISE ABSCHIED VOM POLENMARKT Aleksandra Łuczak Johanna Meyer-Gohde
Linda Tóthová David Tiefenthaler
CHEFREDAKTEURIN Lilian Pithan
REDAKTEURE & ÜBERSETZER Daniel Stächelin (englisch) | Christina Heuschen (deutsch) | Róża Rozmus (polnisch)
ART DIRECTOR Jee Hei Park
LOGO Adrien Le Coärer
HERAUSGEBER Babel Deutschland e.V., Liebenwalder Str. 34a, 13347 Berlin berlin@cafebabel.com | www.cafebabel.de/berlin Copyright © 2015. Die Rechte für die einzelnen Beiträge liegen bei Babel Deutschland e.V. und den einzelnen Autoren. Fotos und Illustrationen wie angezeigt.
5 INHALTSVERZEICHNIS & IMPRESSUM
TEXT Martin Maska & Tomáš Mrva
In den letzten Jahren ist Bratislava zu einer beliebten Partylocation geworden. Slowaken und Österreicher tanzen gemeinsam in den vielen Bars und Clubs der Stadt. Könnte der grenzüberschreitende Partytourismus ein dauerhafter Trend sein?
Wir gehen in den Untergrund, im wahrsten Sinne des Wortes. Auch wenn eine Buddhastatue über der Bar thront, ist die Atmosphäre doch alles andere als asketisch. Fast jeder Clubbesucher hat einen Cocktail oder ein Bier in der Hand. Die ohrenbetäubende Musik lässt kaum Raum für Meditation. Es ist aber nicht so laut, als dass nicht auffiele, wie viele Partygänger Englisch und Spanisch sprechen – nicht nur Slowakisch. Billigflüge und niedrige Getränkepreise haben Bratislava den Spitznahmen „Partyslava“ eingebracht. Lange war die Stadt vor allem ein beliebtes Reiseziel bei britischen Touristen, die hier ihren Jungesellenabschied feierten. Neuerdings fahren aber auch immer mehr junge Leute aus Wien und Österreich zum Party machen in die slowakische Hauptstadt. Wir treffen Richard und Bernadette, zwei junge Österreicher aus Hainburg, einer Kleinstadt direkt an der Grenze zur Slowakei. Beide kennen sich gut mit grenzüberschreitendem Clubbing aus. Richard, der für ein Wiener Theater arbeitet, ist schon oft in Bratislava weggegangen, das erste Mal mit 17: „Damals habe ich mich ziemlich gelangweilt, weil die Bars in Hainburg alle gleich waren. Deswegen bin ich mit meinen Freunden über die Grenze gefahren“, erzählt er. „In Bratislava gibt es viele junge, offene und kosmopolitische Leute. Wir sind einfach hingefahren, obwohl wir keine einzige Bar kannten.“ Wenn man aus Hainburg kommt, dann ist Bratislava nur einen Katzensprung entfernt. Mit dem Bus 901 der städtischen Verkehrsbetriebe dauert die Fahrt rund 22 Minuten und wer unter 26 Jahre alt ist, zahlt nur 75 Cent. Drinks sind in Bratislava viel billiger als in Österreich,
6 PARTY OHNE GRENZEN
weshalb es logisch erscheint, dass man in der Grenzregion lieber nach Bratislava als nach Wien fährt. Was sind die besten Bars und Clubs? Richard und seine Freunde gehen oft in die Sky Bar in der Nähe der Amerikanischen Botschaft: „Da gibt es eine Dachterrasse und die Auswahl bei den Drinks ist auch gut.” Irena kommt ursprünglich aus Serbien, hat aber einige Zeit in Wien gelebt, bevor sie letztes Jahr als Erasmusstudentin nach Belgien gezogen ist. Auch sie ist eine Verfechterin des grenzüberschreitenden Feierns. Kaum in Wien angekommen, fragte Irena einen Bosnier, wo man am besten ausgehen könne. Seine Antwort? „Um ehrlich zu sein, habe ich die besten Partys meiner ganzen Wien-Zeit in Bratislava gefeiert.“ Irena lachte und lud sich auf seinen nächsten Partytrip ein. Daraus wurden schließlich fünf bis sechs Fahrten pro Jahr. Am liebsten ging die Gruppe in den Cirkus Barok, die Nu Spirit Bar oder das RIO. „Die Clubs sehen vielleicht nicht so super aus, aber die Atmosphäre ist auf jeden Fall viel spontaner“, meint Irena. „Die Männer finden außerdem, dass die Frauen in Bratislava besser aussehen als in Wien“, fügt sie lachend hinzu.
Vorhang getrennt waren, finden weder Bernadette noch Richard, dass die beiden Hauptstädte unterschiedlich seien. „Bratislava sieht aus wie Wien, mit vielen schönen Graffiti“, meint Bernadette. „Es ist eine sich wandelnde Stadt, deswegen kann sie eigentlich gar nicht so anders sein.“ Der erste Eindruck von Bratislava ist aber nicht immer so schön. Wenn man die Stadt von Österreich aus betritt, ist die Aussicht kaum spektakulär: Der Petržalka-Plattenbau, in dem knapp 150.000 Menschen in Wohnblocks aus der Sowjetzeit leben, zählt zu Bratislavas größten Bausünden. „Auch der Busbahnhof und die Brücke sind komisch”, meint Irena, „aber die Statuen in der Stadt sehen echt lustig aus und machen sich gut auf Fotos.” Was ist mit den Einwohnern von Bratislava? Richard ist überzeugt, dass „die Leute dort öfter lächeln und grundsätzlich offener sind. In Wien sind alle immer gestresst.“ Bernadette sieht die Sache
etwas nuancierter: „Ich denke, dass du in Bratislava einfach offener bist für deine Umgebung. Deswegen ist dein erster Eindruck vielleicht etwas verfälscht.“ Und wie sieht Irena die Sache? Historisch gesehen waren die Verbindungen zwischen Serbien und der Slowakei immer recht gut, weshalb uns ihre Antwort nicht überrascht: „Die Leute sind freundlicher, offener für neue Kontakte und Fremde. Sie sind lauter, wilder, nicht so formell und eingebildet. Es geht ihnen mehr ums Feiern und nicht ums Posen.“ Es wird wohl noch einige Jahre dauern, bis auch solche Unterschiede langsam verschwinden. Aber schon heute ist die Grenze zwischen den zwei Ländern kaum mehr als eine Linie auf einer Karte. Die berühmte Tram, die Wien und Bratislava von 1919 bis 1945 verband, gibt es zwar nicht mehr. Dafür nehmen Partygänger auf beiden Seiten jetzt den Bus 901. Wenn Bernadette und Richard das nächste Mal zum Feiern in Bratislava sind, kommen wir auf jeden Fall mit. Und wenn Irena wieder aus Belgien da ist, darf sie natürlich auch nicht fehlen. Partygänger aller Länder, vereinigt euch! Wir danken dem Team von Cafébabel Wien für ihre Unterstützung bei der Recherche.
Auch Bernadette war vor Kurzem in Bratislava, um zusammen mit Richard den Geburtstag eines Freundes zu feiern. Für sie war es der erste Partytrip über die Grenze. „Die Bars dort sind anders, aber genau das suchen die meisten ja“, meint sie. „Einfach mal was anderes sehen.“ Obwohl Bernadette erst einmal zum Feiern in Bratislava war, kennt sie die Szene in der slowakischen Hauptstadt vom Hörensagen ganz gut. Ihr Bruder ist Schlagzeuger und spielt in zwei internationalen Jazzbands – in jEzzSPRIT und dem Gabo Jonas Trio – die oft in Bratislava auftreten. „Über österreichische Bandmitglieder habe ich von tollen Konzerten in Bratislava gehört. Das würde ich mir gerne mal anschauen“, schwärmt Bernadette. Auch wenn Österreich und die Slowakei vier Jahrzehnte lang durch den Eisernen
7 PARTY OHNE GRENZEN
Vor 25 Jahren schien es ein Ding der Unmöglichkeit. Heute ist es so normal, wie ein Smartphone zu benutzen: Jeden Tag pendeln hunderte Slowaken in die österreichische Hauptstadt, die nur 60 Kilometer von Bratislava trennen. David und Linda sind extra früh aufgestanden, um den ersten Zug zu erwischen und junge Slowaken zu ihren Erfahrungen zu befragen. Wie ist es, in einem anderen Land zu arbeiten, und was erwarten sie von der Zukunft?
Pendeln auf Slowakisch REGIE Linda T贸thov谩 & David Tiefenthaler
VIDEO ANSCHAUEN http://youtu.be/sGz45-gALH8
9 PENDELN AUF SLOWAKISCH
GÖRLITZ, VON DEN TOTEN
WIEDERAUFERSTANDEN
Über die letzten zwei Jahrzehnte haben sich Görlitz und Zgorzelec, wie so viele Städte nach 1989, von Grund auf gewandelt. Teile von Görlitz sind mittlerweile verlassen. Doch junge Menschen finden neue Möglichkeiten, diese Leerstände kreativ zu nutzen. Zgorzelec sieht aus wie eine ganz normale polnische Stadt – eine Mischung aus schönen Altbauten und hässlichen Werbeflächen. Die Hauptstraße ist mit kleinen Zigarettenläden vollgestopft und führt zur Papst-Johannes-Paul-II.-Brücke über die Neiße. Ein typisch polnischer Mix aus Sakralem und Profanem also. Wenn man die Brücke nach Görlitz überquert, die nur noch eine symbolische Grenze markiert, spürt man trotzdem einen Unterschied. Das liegt nicht etwa an der deutschen Ordnungsliebe oder den gothischen Schriftzeichen auf den Schildern: Auf Görlitz’ Straßen sind fast nur Rentner und Schulkinder unterwegs. Die Hauptstraße sieht aus wie das Set eines Westernfilms und mit ihren zerbrochenen Fensterscheiben wirken viele Einkaufsläden, als seien sie von Cowboys geplündert worden.
TEXT Christina Heuschen & Emilia Wanat
FOTOS Emilia Wanat
Daniel Breutmann, Vorsitzender des Vereins goerlitz21. Noch während des Kommunismus flohen viele Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben in den Westen. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind die Auswandererzahlen überall explodiert – Görlitz ist da keine Ausnahme. Ostdeutschland verlor fast zwei Millionen Einwohner, was 13 % der Bevölkerung entspricht. Als Industrie und Infrastruktur zerbrachen, wurde viele Fabriken und Verwaltungsgebäude unbrauchbar. „Manchmal brechen Leute in leerstehende Gebäude ein, nur um alte Türzargen zu klauen“, erzählt Daniel. Zgorzelec erging es da deutlich besser. Die polnische Stadt muss heute nicht im gleichen Maße wie Görlitz gegen die Abwanderung ankämpfen. Um Vandalismus, Einbrüche und Verfall
Angefangen hat es mit dem Fall der Berliner Mauer vor 25 Jahren. „Man merkt es einfach, wenn plötzlich rund 10.000 Menschen weggehen“, sagt
10 GÖRLITZ, VON DEN TOTEN WIEDERAUFERSTANDEN
in Görlitz zu stoppen, beteiligen sich Daniel Breutmann und sein Verein an dem Onlineprojekt Leerstandsmelder, das sich über ganz Deutschland erstreckt.
Auf einer Onlineplattform kann man leerstehende Gebäude sowohl melden als auch gezielt suchen. Goerlitz21 fungiert dabei als Agentur, die Räumlichkeiten vermittelt. Einige Anfragen kamen vom deutsch-französischen Fernsehsender ARTE oder auch von den Filmstudios in Babelsberg, die zu den ältesten der Welt zählen. Auch kommerzielle Anfragen nach Läden und Lagerraum gehen beim Leerstandsmelder ein. „Neben prominenten Leerständen in Görlitz, wie der Stadthalle, dem RAW-Bahnhofsgelände in Schlauroth oder dem Kondensatorenwerk, gibt es viele bisher unbeachtete Gewerbe- und Wohnimmobilien“, meint Daniel.
Das Kühlhaus beispielsweise wurde in den 1950ern gebaut und gerade renoviert, als die Berliner Mauer fiel. Das monumentale Gebäude, in dem vor allem Lebensmittel gekühlt wurden, verfiel in den Folgejahren zusehends. Vor Kurzem aber ist es von den Toten auferstanden: 2008 suchten ein paar Jugendliche aus der Gegend nach einem geeigneten Ort, um Events zu organisieren. Im Gegensatz zu Berlin, Warschau oder Wien gibt es in Görlitz nicht viele Orte für Künstler, Hipster und Feierwütige. Das Kühlhaus schien da die perfekte Location – außerhalb der Stadt gelegen, aber mit öffentlichen Verkehrsmitteln angebunden. Die Fläche ist riesig und es gibt sogar einen Garten, der groß genug für OpenAir-Events ist. Doch das Gebäude war zum Großteil verwüstet, der Boden von Gras und Unkraut überwuchert, Dach und Fenster fast vollkommen zerstört. „Wir nutzen die Vergangenheit, um etwas Neues zu schaffen“, sagt Nadine Mietk. „Gerade repariere und streiche ich zum Beispiel Fensterrahmen.“ Rund 16 Freiwillige sind im Kühlhaus unterwegs, um bei der Renovierung zu helfen. Es riecht nach Farbe und Lösungsmitteln. An einer Wand lehnt ein altes Schulregal, neben Retromöbeln und einem Radioapparat: der Traum jedes Vintagesammlers. Interessanterweise sind es gerade Bauruinen wie das Kühlhaus, die Görlitz wieder Leben einhauchen. „Diese leerstehenden Gebäude sind eine großartige Möglichkeit für die Kreativbranche und für junge Menschen“, sagt Juliane Wedlich, eine der Kühlhausmanagerinnen. „Es gibt hier
genug günstigen und freien Raum, der für alternative Projekte in Kultur und Business genutzt werden kann.“ 2012 organisierte das Kühlhaus-Team das erste MoxxoMOpenair, ein Elektrofestival, das sich seither zu einem dreitägigen Event entwickelt hat. In diesem Jahr haben die Organisatoren sogar eine Finanzierung der Robert-Bosch-Stiftung für ein neues Projekt erhalten. Mit ihrer Initiative Jugend.Stadt.Labor Rabryka hat der Verein Second Attempt einen ähnlich positiven Einfluss auf das Stadtbild von Görlitz. Über künstlerische Workshops und Projekte versucht Second Attempt, der gefühlten Hilflosigkeit vieler ostdeutscher Jugendlicher entgegenzuwirken. „Wir glauben, junge Menschen zu mehr Eigeninitiative hinführen zu können“, erklärt Erik Thiel, einer der Freiwilligen im Projekt. „Sie müssen teilhaben, um ihren Lebensraum mitzugestalten und ihre gesellschaftsbezogenen Träume – fernab vom Konsum – verwirklichen zu können.“ Rabryka wurde von Jugendlichen beim Fokus Festival entwickelt, wo sich
Deutsche und Polen – nicht nur aus Görlitz und Zgorzelec, sondern von überall her – regelmäßig treffen. Rabryka ist in der Energiefabrik untergebracht, wo früher Industriehefe produziert wurde. Obwohl Tanks und Gleise an die industrielle Vergangenheit erinnern, deuten die riesigen Graffiti an den Wänden auf eine neue Bestimmung hin. Über Renovierungsmaßnahmen, Urban Gardening und Musikprojekte will Rabryka die Stadtentwicklung weiterdenken: „Es ist ein experimentelles Labor mit dem
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wir wieder Leben in die Stadt bringen wollen“, meint Erik. Deshalb arbeitet Rabryka mit Jugendlichen, Sponsoren und Lokalpolitikern zusammen und auch mit Zgorzelec wird kooperiert: „Die meisten Events sind zweisprachig“, sagt Inga Dreger, Vorstandsmitglied von Second Attempt. „Doch der Schwerpunkt sollte nicht nur auf einer deutsch-polnischen Beziehung liegen, sondern im Grenzraum selbstverständlich sein.“ Egal wie enthusiastisch die Projektmanager und Freiwillige von goerlitz21, Kühlhaus und Rabryka auch sein mögen: Eine ganze Stadt von den Toten zu erwecken, ist nicht einfach. Organisatorische und bürokratische Hürden sind aber glücklicherweise nicht unüberwindbar. „In den vergangenen Jahren hat sich die Zusammenarbeit mit der Stadt deutlich verbessert“, sagt Juliane Wedlich vom Kühlhaus. „Es findet ein Umdenken statt, obwohl es für unser Empfinden manchmal zu lange dauert. Wir hoffen, dass auch die Stadtvertreter erkennen, was für eine große Gelegenheit diese leerstehenden
Gebäude bieten und sie damit eine Chance für junge und kreative Menschen mit sich bringen.“ Erik Thiel stimmt zu: „Raum bietet immer Möglichkeiten, aber er enthält auch Probleme, wie zum Beispiel Bausubstanz, Lärmemission oder Brandschutzregelungen.“ Dennoch tun Erik, Juliane und die anderen ihr Bestes, um Görlitz aus dem Totenreich zurück zu holen. Vielleicht wird die Hauptstraße ja schon bald nicht mehr an eine Geisterstadt im Wilden Westen erinnern. Und wenn man genau hinhört, kann man schon jetzt die Saloontüren des Kühlhauses knarren hören.
Im ungarischen Melting Pot REGIE Eva Proske & Ráhel Németh
VIDEO ANSCHAUEN http://youtu.be/UDKK56StVNk
12 IM UNGARISCHEN MELTING POT
Die Zahl der in Ungarn lebenden Menschen mit ausländischem Pass ist in den letzten zehn Jahren stetig gestiegen. Deshalb will Ungarns Premierminister Viktor Orbán die Einwanderungsgesetze seines Landes nun verschärfen. Vor allem die mögliche Entstehung von „Parallelkulturen“ scheint ihm Angst einzujagen. Die größte Migrantengruppe in Ungarn sind die Deutschen, sie machen knapp zwei Prozent der ungarischen Bevölkerung aus. Wir haben einige von ihnen in Budapest getroffen und festgestellt: Von deutscher Parallelkultur kann überhaupt keine Rede sein! Man bleibt nicht unter sich, sondern ist neugierig auf die ungarische Gesellschaft. Vom deutschen Stammtisch haben viele schon einmal gehört, waren aber noch nie da. Auch scheint Budapest kaum das „neue Berlin“ zu werden. Wovor hat Viktor Orbán eigentlich Angst?
13 IM UNGARISCHEN MELTING POT
DER LEISE ABSCHIED VOM POLENMARKT
Anfang der 90er reichte ein Schritt über die Oder, um auf den „Polenmärkten“ von Słubice zu Spottpreisen einzukaufen: Zigaretten, Gartenzwerge, gefälschtes Markenparfum und vieles mehr. Läuft das Geschäft auf den Basaren 25 Jahre nach der Wende immer noch so gut?
„Da kommt er ja, der Polenbus!“, ruft einer der Rentner am Bahnhof Frankfurt (Oder) und kurz darauf drängt sich eine Gruppe der Altersklasse 65+ in das Fahrzeug. Nachdem der letzte Rollator, Rollstuhl und katzenmusterbestickte Trolley verstaut ist, schließen sich die Türen. Die Mission der Fahrgäste ist an die Seitenfenster des Busses geschrieben: „Nach Słubice zum Sparen fahren“ und „Auf nach Polen Nachschub holen“ steht da in Großbuchstaben. Viele der Rentner sind dafür extra aus dem etwa 100 Kilometer entfernten Berlin gekommen, durch ein Sonderangebot der Bahn fahren sie besonders günstig. Auf ihren Einkaufslisten steht mal ein Besuch beim Stammfrisör, mal „blaue Pillen für die Kumpels“, Kaffee und – natürlich – Zigaretten.
TEXT
Der kleinere Basar, nur ein paar hundert Meter von der Oderbrücke entfernt, gilt als Geheimtipp. Er besteht aus einer überschaubaren Zahl überdachter Gänge. Kleine Buden reihen sich aneinander, sie sind vollgestopft mit bunt gemischter Ware: kitschige Rüschengardinen neben glitzernden Blusen mit Tigermuster, raubkopierte Andrea-Berg-CDs neben Anglerzubehör, Gartenzwerge Hand in Hand mit Plastikpuppen, Obst, Gemüse und Schokopralinen. Immer der Nase nach gelangt man zum Herzstück des Basars, der Bar Appetit: Fettglänzende Bratwürste und Hähnchenkeulen stapeln sich hinter der Theke. Schon vormittags füllt sich der kleine Raum mit Grüppchen zumeist älterer Herrschaften, die an Plastiktischen sitzen und mit Plastikbesteck an panierten Schnitzeln herumsäbeln. Ketchup, Mayonnaise und Senf in XXL-Tuben stehen bereit.
Johanna Meyer-Gohde & Aleksandra Łuczak
FOTOS Johanna Meyer-Gohde
Der Bus durchquert ein Plattenbauviertel und steuert auf die Oderbrücke zu. Obwohl die Grenzhäuschen im vergangenen Jahr abgebaut wurden und keine Kontrollen mehr stattfinden, merkt man sofort, dass hier eine Grenze verläuft. Ein Großaufgebot an schreienden Werbetafeln beginnt gleich am Brückenkopf: „Zigaretten 24 Stunden“, „Supergünstig!“ und wieder „Zigaretten!!!!!“. Die kleine Stadt Słubice mit ihren 17.000 Einwohnern scheint mit Zigarettenbuden geradezu gepflastert zu sein. Zwei Basare gibt es hier, die von den Deutschen gerne „Polenmärkte“ genannt werden. Der eine, größere, befindet sich ein paar Kilometer außerhalb des Stadtzentrums. Wochenendtouristen bekommen dort alles – von wimmernden Welpen bis hin zu gefälschten, bei Neonazis beliebten Thor-Steinar-Klamotten.
14 DER LEISE ABSCHIED VOM POLENMARKT
Die Getränke serviert Marysia – rote Schürze, rot gefärbter Kurzhaarschnitt, freundlich aber streng. „In Polen essen wir eigentlich später, so gegen 16 Uhr“, erklärt sie in flüssigem Deutsch mit starkem polnischem Akzent, „aber hier ist Mittagszeit von elf bis zwei, so wie in Deutschland.“ Die 56-Jährige hat den kleinen Basarimbiss vor über 20 Jahren eröffnet. Heute kocht und serviert sie nur noch ab und zu, die Geschäftsführung hat vor ein paar Jahren ihre jüngste Tochter übernommen. Vor der Wende war Marysia Näherin in einer örtlichen Fabrik. Nach 1989 musste diese – wie so viele Staatsbetriebe in Polen – schließen. Ähnlich wie Marysia nutzten viele Polen die mit dem Zusammenbruch des Sozialismus neu gewonnene marktwirtschaftliche Freiheit, um kleine Unternehmen zu gründen und Handel zu treiben. Ein paar Buden weiter befindet sich das Blumengeschäft von Zofia. „Zigaretten hätten mehr Geld gebracht, aber Blumen fand ich passender für eine Frau“, meint die Mitsechzigerin, während sie rosa Anthurien mit Grünzeug zu einem Strauß bindet. Er ist für einen ihrer Stammkunden bestimmt: Dieter macht ein paar Besorgungen, während seine Frau sich nebenan beim Friseur die Haare schneiden lässt. Ein Plausch mit Zofia gehört einfach zum Basarbesuch dazu – natürlich auf Deutsch. So wie vielen Frankfurtern ist Dieter die polnische Sprache bis auf Wörter wie „bitte“ und „danke“ auch nach so vielen Jahren noch fremd. „Hätte er sich mal eine Polin ins Bett geholt, dann könnte er Polnisch jetzt besser“, scherzt Zofia, nachdem er den Laden verlassen hat.
Bei ihrer Kundschaft handelt es sich zu 90% um Deutsche, „und die mögen es gemütlich“, weiß die erfahrene Händlerin. In Polen sei es gar nicht üblich, sich Blumen auf den Tisch zu stellen. „Das lohnt sich doch gar nicht, sie halten eh nur ein paar Tage“, meint sie. In den letzten Jahren fällt ihr auf, dass die Kunden nicht jünger, sondern immer älter werden. „Die Jungen kaufen eben alle in diesen Molochs“, sagt sie und meint damit Discounter, Supermärkte und Einkaufszentren.„Außerdem werden in Frankfurt die Menschen ja eh immer weniger.
Guckt euch die Wohnblöcke an, viele stehen leer oder werden runtergebaut“. Tatsächlich sinken in Frankfurt, genau wie in vielen anderen ostdeutschen Städten, die Einwohnerzahlen. Gab es direkt nach der Wende noch 86.000 Einwohner, sind es heute um ein Drittel weniger. Auch der demografische Wandel ist spürbar: Die unter 29-Jährigen machen inzwischen weniger als 26% der Stadtbevölkerung aus. Der Anteil der über 45-Jährigen steigt dagegen beständig: 2012 betrug er bereits über 60%. Gegen diesen Trend kämpft Frankfurt erfolglos an – und dabei gibt es in der Stadt sogar eine Uni. Jedoch pendeln viele Studenten lieber aus dem nur eine Stunde entfernten Berlin, das in Sachen Jobs und Freizeitgestaltung schwer zu überbieten ist. Die Kundschaft geht dem Słubicer Basar auch deswegen aus, weil sich die Preise diesseits und jenseits der Oder in den letzten Jahren zunehmend angenähert haben. Zwar ist das Vorurteil in Deutschland nach wie vor weit verbreitet, dass in Polen alles billiger sei. Das entspricht aber vielmehr der Realität der frühen 90er: Damals war der Preisunterschied gewaltig und die Deutschen strömten in Scharen auf die Basare, um sich massenweise mit Schnäppchen einzudecken. Mittlerweile kosten viele Produkte in polnischen Geschäften fast genauso viel wie in deutschen. Und auf dem auf deutsche Geldbörsen ausgerichteten Polenmarkt ist vieles sogar noch ein bisschen teurer als in Supermärkten oder Discountern. „Wir gehen gar nicht auf den Basar“, meint Joanna Pyrgiel. Die energische 38-Jährige, die bei der Słubicer Stadtverwaltung für die Zusammenarbeit mit dem Ausland zuständig ist, lebt schon lange in Słubice, war aber erst einmal auf dem Basar. Anders als Frankfurt verzeichnet Słubice steigende Einwohnerzahlen. Denn die Möglichkeit, in Polen zu wohnen und direkt nebenan in Deutschland zu arbeiten, zieht Polen aus allen Teilen des Landes an die Oder. „Drüben“ sind die Löhne höher, zudem herrscht Fachkräftemangel. Seit 2009 die Grenzkontrollen abgeschafft wurden, hat sich die Beziehung zwischen Frankfurt und Słubice zusätzlich intensiviert. Vieles ist heute selbstverständlich, was vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Die Busverbindung über die Oder zum Beispiel, meint Joanna Pyrgiel. Außerdem
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sind deutsch-polnische Schulen und Kitas entstanden und jedes Jahr gibt es gemeinsame Kulturveranstaltungen und Festivals. Gerade junge Leute aus beiden Teilen der „Doppelstadt“, wie Pyrgiel Frankfurt und Słubice nennt, träfen sich heute in den zahlreichen Clubs und Bars in Słubice. Der Basar existiere eher am Rande des Bewusstseins der Słubicer. Über die Zukunft der „Polenmärkte“ machen sich auch die Verkäufer vom kleinen Basar keine Illusionen. Sollte das Land in nicht allzu ferner Zukunft der Währungsunion beitreten, fürchten sie umso mehr um ihren Preisvorteil: „Der Euro kommt, die Omas sterben aus, die Verkäufer auch und bald wird es keinen Basar mehr geben“, meint Zofia sachlich. Es ist jetzt 15 Uhr – Zeit für Zofia, ihre Blumensträuße aus den hübsch drapierten Vasen zu nehmen und in ihrer Bude zu verstauen. Auch der Gemüseverkäufer rechts und der Pralinenhändler links von ihr sind bereits dabei, ihre Waren einzupacken, Marysia wischt gerade die Tische ab. Die Gänge sind um diese Zeit leer, die letzten Kunden verlassen den Basar über den Osteingang. Dort befindet sich auch ein großer Discounter, dessen Parkplatz um diese Tageszeit gut gefüllt ist. Hier ist noch lange nicht Feierabend.
DAVID TIEFENTHALER W i en Student (Politikwissenschaften & Journalismus)
ALEKSANDRA ŁUCZAK
RÁHEL
B e rlin /Po z na ń Studentin (Dolmetschen & Kultur und Geschichte Mittel- und Osteuropas)
NÉMETH Bu d ap es t Studentin (Übersetzung & Dolmetschen)
LILIAN PITHAN Be r l i n Journalistin, Redakteurin & Übersetzerin
TOMÁŠ
JOHANNA
MRVA
MEYER-GOHDE
B ratislava Freier Journalist, Texter & Übersetzer
Be r l i n Studentin (Kultur und Geschichte Mittel- & Osteuropas)
JEE HEI
CHRISTINA
PARK
HEUSCHEN
B e rlin Grafikdesignerin & Illustratorin
Be r l i n Journalistin & Texterin
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EMILIA WANAT K rak au Freie Journalistin
DANIEL
MARTIN
STÄCHELIN
MASKA
Davis, Kalifo rni e n Übersetzer & Journalist
W i en /C h o t e b o r Schatzmeister der European Youth Press (EYP), Dokumentarfilmer
LINDA TÓTHOVÁ B ratislava Executive Search & Business Psychologin
EVA PROSKE W i en Freie Journalistin
RÓŻA ROZMUS Warschau Studentin (Angewandte Linguistik)
Sébastien Vannier, Alicia Prager, Adrien Le Coärer, Katharina Kloss, Kait Bolongaro, Katarzyna Piasecka und Alice Cases für ihre Hilfe und Unterstützung bei der Umsetzung des Reportageprojekts. Christiane Lötsch, Ines Fernau, Yvonne Röttgers, Zofia Dziewanowska-Stefańczyk, Christian Schnalzger, Rebecca Dora Kajos, Fleur Grelet, Alice Grinand, Matthias Markl, Lucie Chamlian und Kamil Exner für ihre tollen Beiträge in unserem Onlinemagazin. Thomas Krüger, Miriam Vogel und Daniel Kraft von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), die mit ihrer finanziellen Unterstützung dieses Reportageprojekt möglich gemacht hat.
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