Stadtblatt 2015 05

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kino die platzanweiserin

Bösenachtgeschichte: „Der Babadook“ Animationsfilme haben es häufig schwer. Immer wieder werden sie entweder als reine Kinderfilme abgestempelt oder als Vergnügen für die ganze Familie angekündigt. Dass dieses Genre jedoch weitaus mehr als seichte Unterhaltung zu bieten hat, sollte spätestens seit „Persepolis“ (2007), „Waltz with Bashir“ (2008) oder „Der Junge und die Welt“ (2013), der letztes Jahr beim Unabhängigen FilmFest mit dem Friedensfilmpreis der Stadt Osnabrück ausgezeichnet wurde, bekannt sein. Doch selbst letzterer hat in Deutschland noch keinen Verleih finden können. Dieses Schicksal teilt er mit „Le Magasin des Suicides“, der 2012 erfolgreich in Cannes und auf diversen Festivals lief. Die zufällige Entdeckung des Films – unsere Nachbarn in den Niederlanden zeigten ihn im regulären Kinoprogramm – war eine reine

Angst hau ab: „Reuber“ Freude, denn als Realfilm würde diese Comic- und Romanadaption nicht funktionieren. Als Animation mit Musicalpassagen ist diese makabre Satire auf unsere unzufriedene Wohlstandsgesellschaft hingegen brillant. Schwarzhumorig und bittersüß erzählt der ungewöhnliche Film die Geschichte der Familie Tuvache, die ein höchst ungewöhnliches Geschäft betreibt: Sie führen unterschiedlichste Artikel, mit denen ihre Kunden ihrem Leben ein Ende setzen können. Ins Wanken kommt ihr erfolgreiches Unternehmen erst als sie ein Kind bekommen, das bedingungslose Freude verbreitet.

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Auch in Osnabrück lässt sich im Mai schaurig lachen. Der neuseeländische 5 Zimmer Küche Sarg (28./29.4., Lagerhalle) erforscht das Leben einer Vampir-WG, deren Alltag sich kaum von dem einer Studenten-WG mit wilden Partys und Streit um Abwasch unterscheidet. Empfehlenswert in diesem Zusammenhang ist auch Der Babadook (ab 7.5. im Kino), eine australisch-kanadische Produktion, in dem die Monsteralbträume eines kleinen Jungen real werden, als er ein Kinderbuch findet, das prophezeit, den schaurigen Babadook nie wieder loszuwerden, wenn man einmal einen Blick ins Buch geworfen hat. Ein wunderbar skurril-amüsanter Film ist Reuber (ab 7.5. im Kino), der an märchenhafte Filme, wie „Big Fish“ von Tim Burton, erinnert. Auch hier geht es um einen kleinen Jungen, der sich jedoch bewusst seinen Ängsten stellt und sich auf die Suche nach dem Räuber im Wald macht. Heiko Pinkowski – den Osnabrückern vermutlich bekannt aus „Ich fühl mich Disco“ oder als Ein Vater sich: Mitglied derwehrt Jury für den„Homefront“ Friedensfilmpreis 2014 – begeistert als übellauniger Räuberhauptmann. Weitaus düsterer geht es in Gone Girl – Das perfekte Opfer (11.5., Unifilm) zu. An ihrem fünften Hochzeitstag verschwindet Amy ganz plötzlich. Alles deutet auf ein Gewaltverbrechen, doch auch ohne eine Leiche zu finden, gerät ihr besorgter Ehemann Nick mehr und mehr in Verdacht sie

Mysteriöses Verbrechen: „Gone Girl – Das perfekte Opfer“ getötet zu haben. Der gleichnamige Roman stand innerhalb kürzester Zeit auf der Bestseller Liste der „New York Times“, der mysteriöse Film von David Fincher steht diesem in nichts nach. Mit dem Kult-Klassiker Blade Runner (5.5., Filmpassage) von Ridley Scott lässt es sich abrunden, das Gruseln im Mai. HANNA VON BEHR

Mädchen im Eis

The Forecaster

KALTGESTELLT Im Norden Russlands steht dem Blick nicht viel im Weg. Und die 20-jährige Musikerin Winja, die an den Polarkreis gereist ist, um ihren Freund Andrei zu überraschen, sieht plötzlich klar: Andrei ist Vater eines Kleinkinds und verheiratet mit einer ehrgeizigen Biathletin, die von einer Olympiamedaille träumt. Im Hotel trifft Winja erneut auf den 70-jährigen Unternehmer Wsewolod, dessen Wege sie schon früher kreuzte. Der Mann plant einen flammenden filmischen Appell gegen die Umweltverschmutzung und hat zu diesem Zweck einen exzentrischen Regisseur und hundert Pinguine kommen lassen, die freilich die Reise nicht überlebt haben. Wsewolod, der Tiere liebt, aber mit Menschen nicht zimperlich umgeht, nimmt Winja unter seine Fittiche – eine überdrehte Komödie voller skurriler Gestalten, geschrieben von Daniel Nocke, der schon mehrfach erfolgreich mit Regisseur Krohmer H. K. kooperierte. D/RUSS 2014. Regie: Stefan Krohmer. D: Lucie Heinze, Aleksei Guskov, Yuri Kolokolnikov u. a. P ab 7.5., Cinema Arthouse

BLASENSCHWÄCHE Martin Armstrong will im letzten Viertel des letzten Jahrhunderts ein System entwickelt haben, mit dessen Hilfe er die Weltwirtschaft voraussagen könne. Die Zahl Pi soll eine Schlüsselrolle spielen. Der Rest ist ein großes Geheimnis. Immerhin konnte Armstrong die Dollar-Schwäche von 1986 vorhersagen, den großen Crash im Oktober 1987 und den Absturz des Nikkei 225 ein paar Jahre später. Irgendwann begann sich auch das FBI für Armstrongs ominöses Computermodell zu interessieren. Verhaftet wurde er wegen angeblichen Betruges. Aber zu einem ordentlichen Verfahren kam es nie. Trotzdem saß er bis 2011 sieben Jahre im Knast – wegen Missachtung des Gerichts. Die Filmautoren Marcus Vetter und Karin Steinberger dokumentieren nicht nur Armstrongs Geschichte, sondern liefern auch einen erschreckend aktuellen Beitrag zur Blasenbildung an den FiFJ nanzmärkten. D 2015. R: Marcus Vetter, Karin Steinberger. D: Martin Armstrong u. a. P ab 7.5., Cinema Arthouse

Abschussfahrt

Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern

BILDUNGSREISE Das Gesetz erlaubt ihnen noch keinen Alkohol, aber der Hangover kommt bestimmt. Nicht nur, weil die gleichnamige US-Komödie als Vorbild anscheint. „Abschussfahrt“ ist sozusagen die Pennälerversion. Paul, Berny und Max sind Außenseiter in ihrer Klasse, verachtet, gehänselt, herumgeschubst. Die Klassenfahrt nach Prag soll die Wende bringen. Geld ist vorhanden, denn elterliche Gleichgültigkeit hat immerhin den Vorzug, dass man vom zerfahrenen Vater die Kreditkarte ausgehändigt bekommt. Dass im verkommenen Hotel abends Ausgangssperre herrscht, ist noch das geringste Problem. Aber in einem Anfall liebesbedingter Umnachtung verspricht Paul seiner angebetenen Julie, sich um deren autistischen Bruder Magnus zu kümmern. Während Julie natürlich mit einem Nebenbuhler loszieht. Da muss Magnus eben mit ins Prager Nachtleben. Wo Schlamm-Wrestlerinnen, Gangster und andere Zerstreuungen warten. H. K. D 2015. R: Tim Trachte. D: Max von der Groeben, Tilman Pörzgen, Chris Tall, Theo Trebs, Lisa Volz u. a. P ab 21.5., Filmpassage

FREIHEITSWUNSCH Es geht um die 18-jährige, geistig behinderte Dora (Victoria Schulz), die nach dem Absetzen der Medikamente, die sie ruhig gestellt hatten, ihre Sexualität entdeckt und ungeplant schwanger wird. Eigentlich wäre dieses kontroverse, in der Öffentlichkeit wenig diskutierte Thema schon genug Stoff für ein Drama, doch es kriselt auch woanders. Doras Mutter (Jenny Schily) wünscht sich schon lange ein zweites (gesundes) Kind und muss sich jetzt mit der Schwangerschaft ihrer Tochter auseinandersetzen. Zudem kriselt es in ihrer Ehe. Und Doras wesentlich älteren Liebhaber Peter (Lars Eidinger) kann man bestenfalls als undurchsichtig beschreiben. In der Schweiz wurden seit der Uraufführung des Theaterstücks das Recht auf Selbstbestimmung behinderter Menschen und ein besserer Schutz vor aggressiven Eingriffen in ihr Leben durchgesetzt. NB D/CH 2015. R: Stina Werenfels. D: Victoria Schulz, Lars Eidinger, Jenny Schily u. a. P ab 21.5., Cinema Arthouse


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