STADTBLATT 2010.07

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kino

Die fabelhafte Welt des Jean-Pierre Jeunet Ein Ausnahmeregisseur meldet sich zurück. Mit Micmacs – Uns gehört Paris! dürfen wir erneut die Skurrillität des Franzosen genießen. Eine Delikatesse! Die Hauptrolle spielt Dany Boon. Im Schnitt legt der französische

Jean-Pierre Jeunet vollbringt mit diesem Film einmal mehr das KunstJean-Pierre Jeunet alle vier Jahre eistück, eigentlich unvereinbare Bildernen neuen Film vor, und immer darf welten zu einer stimmigen und man etwas Besonderes erwarten. Seikompakten Filmerzählung zu fügen. nen wohl größten Erfolg feierte JeuLiebevoll entwickelte Details und net 2001 mit „Die fabelhafte Welt der ein verschnörkeltes, reich ornaAmelie“. Dem voraus gegangen war mentiertes Produktionsdesign sind die nicht minder versponnene, aber seine Markenzeichen. Er kreuzt ein ungleich giftigere Endzeit-Komönostalgisches Pariser Flair mit die „Delicatessen“, gefolgt von modernen Ansichten der Seine„Die Stadt der verlorenen Kinder“. Liebevoll entwickelte Details Metropole, altmodische mit und ein verschnörkeltes, Mit „Alien – Die Wiedergeburt“ höchst gegenwärtiger Technoreich ornamentiertes unternahm Jeunet 1997 einen logie. Im Geiste der SteamProduktionsdesign letztlich eher unbefriedigenden Punk-Bewegung entstehen aus Abstecher ins US-amerikanische Schrott und Müll staunenswerGenrekino, dem er sich seither ver- finden sich unter anderen ein Meis- te Vorrichtungen, die auch aus einem weigert. Angeblich soll er die Regie terdieb, eine menschliche Kanonen- Museum für mechanische Spielzeuder Comic-Adaption „Hellboy“ und kugel, eine Schlangenfrau, ein Maauch die des fünften „Harry Potter“- thegenie. Und als Oberhaupt Films abgelehnt haben. Sein vorerst die mütterliche Madame letzter Film war das wiederum mit Chow (Yolande Moreau). Sie „Amelie“-Darstellerin Audrey Tautou alle sind zur Stelle, als Bazil besetzte Epos „Mathilde – Eine große der Produktion von MordLiebe“, das freilich die Erwartungen werkzeugen ein Ende bereider französischen und US-amerikani- ten und gegen zwei Rüsschen Finanziers nicht erfüllte. tungskonzerne zu Felde Der 56-jährige Jeunet begann sei- ziehen will. Einer ihrer ne Filmkarriere mit Kurzfilmen und Gegner ist KonzernVideoclips und arbeitet bis heute chef Thibault de Feauch für die Werbung. Zuletzt drehte nouillet (André Duser – einmal mehr mit Audrey Tautou sollier), ein Erz– einen eigenwilligen Spot für Cha- schurke, wie er im nel. Jeunet ist ein Meister der visuel- Buche steht. len Erzählung, und er hat dabei einen ganz eigenen Stil entwickelt. So benötigte sein 1991 veröffentlichtes Langfilmdebüt „Delicatessen“, das er gemeinsam mit Comic-Zeichner Marco Caro ausgeheckt hatte, keine Dialoge, um allgemein verstanden zu werden. Mit „Micmacs – Uns gehört Paris!“ scheint Jeunet an diese frühe Phase anknüpfen zu wollen. Wieder hat er ein ganzes Ensemble kauziger Charaktere entworfen, vorneweg der von Dany Boon („Willkommen bei den Sch’tis“) verkörperte Bazil, der von tragikomischen Schicksalsschlägen verfolgt wird. Den ersten erlebt er als Kind (gespielt von Noé Boon, Danys Sohn), als sein Vater Opfer einer Landmine wird. Später, Bazil arbeitet als Videothekar, langt die Vorsehung erneut zu: Eine ziellos abgefeuerte Kugel, ein Produkt des selben Unternehmens, das bereits seinen Vater auf dem Gewissen hat, trifft Bazils Schädel. Ein Münzwurf entscheidet, ob das Projektil entfernt wird oder nicht. Die Münze sagt nein. Für Bazil beginnt eine Zeit der Ungewissheit –

g Drehbuchautor und Regisseur

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vielleicht tötet ihn die Kugel, vielleicht wird er steinalt. Nach seiner Entlassung findet er Aufnahme bei einer kunterbunten Truppe, die in einer Höhle unter einer Schrotthalde lebt. Keine Penner, sondern ein Clan anarchischer Außenseiter, die sich aus Weggeworfenem eine eigene Welt errichtet haben. Da

Was die wohl sehen?

ge oder aus einem abgedrehten Italowestern stammen könnten. Sein arm ausgeleuchtetes Nimmerland besiedelt Jeunet mit einem Panoptikum aus liebenswert schrulligen Zivilisationsverweigerern. Nicht von ungefähr erinnern diese Aussteiger an ein Zirkusensemble. Auch Artisten, Schausteller, Gaukler erscheinen heutigentags wie aus der Zeit gefallen. Dieser Film zollt ihnen den gebührenden Respekt. HARALD KELLER Frankreich 2009. R: Jean-Pierre Jeunet. D: Dany Boon, Dominic Pinon, Julie Ferrier, Jean- Pierre Marielle u. a. ab 22.7.


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