BLANK 11

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Ausgabe 2018

UNGARN • RUMÄNIEN • SERBIEN

JPR15 • Ausgabe 2018

BAUSTELLE EUROPA BLANK11

FEINDBILD SOROS

Die ungarische Regierung arbeitet gegen den CEU-Gründer George Soros. Seite 16

EUROWAISEN

Um im Ausland zu verdienen, lassen Eltern ihre Kinder in Rumänien zurück. Seite 30

EINE STADT SÄUFT AB Im serbischen Belgrad wird gegen ein umstrittenes Bauprojekt demonstriert. Seite 74


ZEIT FÜR

FRISCHE

IDEEN?

DAMIT SIE SICH NICHT IN IHRE ZEIT

VERBEISSEN. ONE SPIRIT, UNLIMITED IDEAS


Ö

WILLKÜR & WIDERSTAND

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

sterreich verbindet in Europa Ost mit West und Nord mit Süd. Während viele Menschen und Medien sich immer noch eher nach Westen orientieren, blicken wir, 31 Journalismus und Public Relations-Studierende der FH JOANNEUM, auf drei östliche Nachbarn: Ungarn, Rumänien und Serbien. Neun Tage war die Redaktion von BLANK11 unterwegs. Wir hörten zu, fragten nach und mischten uns unter Demonstrierende, um die Stimmung der jungen Demokratien einzufangen. Auf den nächsten Seiten möchten wir unsere Beobachtungen und Recherchen mit Ihnen teilen.

Wir zeigen Ihnen, wie verflochten dieses Europa ist, seit sich mit dem Mauerfall 1989 die Nachkriegsordnung auflöste. Und auch wie zerbrechlich sich der liberale Grundkonsens erweist, den wir bisher vielleicht zu Unrecht als gesichert ansahen. In den drei Ländern erstarken neue antidemokratische und populistische Tendenzen aber auch positive zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen sind zu beobachten – Willkür und Widerstand sozusagen. Korruption und Willkür seitens der Regierungen und Widerstand von Teilen der Bevölkerung. In Ungarn ist das kein neues Phänomen: Ministerpräsident Viktor Orbán strapaziert seit Jahren die Beziehung zur EU. In seiner „illiberalen Demokratie“ lässt er Grenzzäune errichten und weigert sich Minderheitenrechte anzuerkennen. George Soros, Gründer der Central European University (CEU) in Budapest und Unterstützer einer offenen Gesellschaft, ist sein Feindbild Nummer 1. Zehntausende protestierten 2017 gegen die drohende Schließung der CEU. Verena Sophie Maier war für BLANK11 in dieser Universität und liefert ab Seite 16 einen gesamtpolitischen Überblick.

Illustration Filip Bošnjak

Im vergangenen Jahr erlebte Rumänien die größten Massenproteste seit der Revolution 1989. Die Menschen demonstrierten vor allem gegen die stetige Korruption. Obwohl die rumänische Wirtschaft zehn Jahre nach dem EU-Beitritt boomt, profitieren nur wenige davon. Oft reichen die Löhne nicht zum Leben, wie Isadora Wallnöfer und Markus Steinrisser ab Seite 34 berichten. Immer mehr Menschen entscheiden sich deshalb dazu, ihre Kinder und Familien in der Heimat zurückzulassen, um ihr Glück im Ausland zu versuchen. Christina Rebhahn-Roither hat mit einer Mutter gesprochen, die in Österreich als Pflegerin arbeitet, und einige Kinder besucht, die als „Eurowaisen“ in Bukarest zurückgeblieben sind. Zu lesen ab Seite 30. Auch in Serbien protestierten nach der Wiederwahl des Regierungschefs Aleksandar Vučić im letzten Frühjahr Menschen in mehreren Städten. Obwohl es ein EU-Beitrittskandidat ist, unterhält das Land gute Beziehungen zu Russland. Markus Steinrisser fängt die gespaltene Stimmung im Land ab Seite 78 ein. In Belgrad wird zudem lokaler Protest immer lauter, da ein Stadtgebiet an der Save einem Luxusviertel weichen muss. Helena Meizenitsch und Carmen Oberreßl begleiteten die NGO Let’s not drown Belgrade, die sich gegen das Milliardenprojekt stark macht, durch „ihr“ Savamala – ihre Eindrücke können Sie ab Seite 74 lesen. Die Chefredakteurinnen wünschen eine spannende Lektüre! Katharina Brunner & Melanie Jaindl

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Intro: Ungarn

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Das europäische Technik-Mekka

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Gegen eine offene Gesellschaft

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Auf fairen Sohlen

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Einfach böse

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„Wir wollten frei sein“

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Schreibblockade

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Die Fiktion ist das, was bleibt

Korrupte Züge? Der Kampf gegen Soros

Soros: Übeltäter und Erlöser Tod einer kritischen Tageszeitung

Der IT-Boom Rumäniens Slow Fashion im Billigproduktionsland Theater ohne Zensur

Autorin Adameşteanu erzählt

Dan Perjovschi: Kritiker mit Filzstift

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44

Perspektiven geben

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Widerstand im Club

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Facetten-Reich

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Gulyás

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Landraub

28

Intro: Rumänien

56

Ein Dorf geht unter

30

Skypen statt Kuscheln

58

Sexualkunde: Tabu und Pflicht

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Das China Europas

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Ihr Leben war die Straße

Ungarns Underground-Szene Am besten aufgewärmt! Business, Protz und Pferdewägen Zurückgelassene Eurowaisen Wirtschaftswunder und Lohndumping

Rumäniens Gegensätze Kampf zweier Österreicher um Rumäniens Boden Überflutung durch Giftschlamm Verhüten statt Abtreiben Ceauşescus Erbe


Hexen: Magie & Marketing

64

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Intro: Serbien

74

Der letzte Savamalaner

78

Lieber großer Bruder Russland

80

Afsan muss wachsam bleiben

84

Preis des freien Journalismus

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Ðuveč

88

Lass uns miteinander reden!

Wellen von Ost und West Eine Stadt säuft ab

Russische PR, europäisches Geld Gefangen in Belgrad

Zensur, Schikane und Staatsgewalt Traditionell Geschmortes Drei Sprachen, drei Geschichten

Kunst aus der Dose 68

Bären in Menschennähe Bedrohung oder bedroht?

Mici Verboten lecker

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90 96

Impressum und Redaktion

INHALT


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UNGARN. 10.000 Ungarinnen und Ungarn versammeln sich am 12. April 2017 in Budapest, um gegen ein neues Gesetz zu protestieren, das schärfere Auflagen gegen NGOs vorsieht. Zudem üben die Protestierenden scharfe Kritik an dem neuen Hochschulgesetz. Dieses bringt die Existenz der Central European University in Budapest in Gefahr. Die Menschen stellen sich am Heldenplatz in Herzform auf. In ihrer Mitte steht das Wort „CIVIL“ geschrieben – ein Verweis auf jene Randgruppen, die von der Regierung Viktor Orbáns ausgegrenzt werden.


Foto Túry Gergely


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RUMÄNIEN. Trillerpfeifen, Trommelwirbel, Transparente. Manche der Transparente sind humorvoll gestaltet, auf anderen hingegen stehen todernste Parolen. Als am 5. November 2017 wieder zehntausende Rumäninnen und Rumänen jeden Alters durch die Bukarester Innenstadt marschieren, um dieses Mal gegen ein neues Justizgesetz zu demonstrieren, kann man ihnen die Routine anmerken. Schon zu oft sind sie im vergangenen Jahr gegen Korruption auf die Straße gegangen, schon zu lange warten sie auf Veränderung. Obwohl sie frustriert sind, läuft der Protest friedlich ab. Auch die Einsatzkräfte, die den kilometerlangen Demonstrationszug observieren, wirken gelassen. Angekommen vor dem Parlamentspalast stimmen die Demonstrierenden die Nationalhymne an – noch während sie singen, drehen sie dem protzigen Gebäude den Rücken zu.


Foto Boris Bรถttger

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SERBIEN. Die Menschen drängen sich aneinander, es ist eng. Tausende gehen an diesem 5. April 2017 in zahlreichen serbischen Städten auf die Straßen, um gegen Aleksandar Vučić zu protestieren. Der neu gewählte Präsident gehört der konservativ-wirtschaftsliberalen Serbischen Fortschrittspartei an. Kritiker und Kritikerinnen werfen ihm Manipulation und Einschüchterung während der Wahl vor: „Ich gehe heute auf die Straße, damit ich morgen leben kann“ prangt in großen Lettern auf einem Schild. Sie nennen Vučić einen Gauner. Das Vertrauen in ein demokratisches Serbien hat er ihnen genommen, sie antworten mit Widerstand.


Foto Shutterstock/Nenad Nedomacki

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BEVÖLKERUNG. 9,8 Millionen

WÄHRUNG. Man zahlt mit

EU-BEZUG. Seit 2004 ist

Menschen leben in Ungarn, sie

Forint, ein Euro entspricht rund 309 Forint (HUF). Für die

Ungarn in der EU, die über 95 Prozent öffentlicher Investi-

Euro-Einführung ist kein offizielles Ziel bekannt, 2020 ist im Gespräch.

tionen kofinanziert. Zu den Problemthemen gehören Flüchtlingsquoten und -zäune.

sind durchschnittlich 41,7 Jahre alt. Frauen werden im Schnitt mit 79 Jahren um sieben Jahre älter als Männer.


15 VIKTOR, DER MACHER Ein Mann und sein Zug. Voller Kraft fährt dieser auf seiner sechs Kilometer langen Strecke durch Felcsút. Zwei Millionen Euro EU-Förderung, tausende PS, keine Faxen. Schließlich ist es wichtig, dass die rund 25 Fahrgäste, die täglich den Zug nehmen, einen Blick auf die neue Pancho Arena werfen können. Sie ist das neue Fußballstadion des Dorfes und bietet doppelt so viele Sitzplätze, wie Menschen im Dorf leben. Etwas für richtig große Kerle eben. Das Bauwerk ist ähnlich imposant wie ein Amphitheater, wie sich das für den Heimatort eines Regenten gehört. Hat sich Viktor Orbán hier sein eigenes Denkmal gesetzt? Heimat wird, zumindest beim nationalistischen Ministerpräsidenten Ungarns, großgeschrieben. Würde man das Land mit seinem eigenen Zuhause vergleichen, könnte man sagen, er sperrt die Haustür – ja sogar das Tor am Gartenzaun – gleich doppelt ab. Doppelt hält bekanntlich besser, deswegen stehen auch an Ungarns Grenze zu Serbien nicht einer, sondern gleich zwei Zäune. Dieser Mann lässt Taten sprechen, anstatt sich mit langwierigen Kompromissen aufzuhalten. Sogar einen eigenen Namen hat er für seinen Regierungsstil: „illiberale Demokratie“. Spätestens seit er diesen Begriff 2014 entwarf, wollen alle rechten Spitzenpolitiker Europas wie Viktor Orbán sein. Doch innerhalb der ungarischen Bevölkerung brodelt es. Menschen protestieren auf den Straßen. Auch gegen willkürliche Projekte, wie es der Bau der Zugstrecke war.

REGIERUNG. János Áder ist in der parlamentarischen Republik Präsident, Regierungschef ist Ministerpräsident Viktor Orbán, beide sind nationalkonservativ.


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Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat sich 2014 öffentlich für einen „illiberalen Staat“ ausgesprochen. Mit politischen Maßnahmen bekämpft er nun den amerikanischen Multimilliardär George Soros, der seit Jahrzehnten die Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft in Ungarn unterstützt. Text Verena Sophie Maier

Foto Verena Sophie Maier

GEGEN EINE OFFENE GESELLSCHAFT


17 W

iderstand in Budapest: 70.000 Menschen strecken ihre Handys in die Luft, leuchten mit ihren Taschenlampen in die Dämmerung und ziehen durch die Straßen. „Free country, free university!“, rufen sie. „Here is the end, Viktor!“ An der Central European University (CEU) werden seit dem Ende der kommunistischen Einparteiensysteme ambitionierte, junge Menschen auf höchstem Niveau ausgebildet. Der amerikanische Multimilliardär George Soros gründete die Elite-Universität 1991, seine Open Society-Stiftungen finanzieren die liberale Institution bis heute. Durch Stipendien ermöglichte er auch jungen Studierenden Aufenthalte im westlichen Ausland. Einer davon war Viktor Orbán – jener ungarische Ministerpräsident, der seinen ehemaligen Förderer nun zu seinem Lieblingsfeind erklärt hat. Mehrheit an der Macht

Orbán ist die Ausrichtung der CEU zu liberal. Im Jahr 2014 sprach er erstmals öffentlich davon, einen „illiberalen Staat, einen nicht-liberalen Staat“ aufbauen zu wollen. Die Grundsätze des Liberalismus seien kein zentrales Element seiner Staatsorganisation, „stattdessen soll es eine andere, spezielle, nationalistische Herangehensweise geben.“ Er will eine Mehrheitsdemokratie, bei der der Wille der Vielen wichtiger ist, als der Schutz von Minderheiten. Nur das „wahre, ungarische“ Volk soll in der Demokratie mitbestimmen – alle Gruppen, die dieser Mehrheit nicht angehören, werden ausgeschlossen. Sein Konzept ist das Gegenstück zu einer offenen, demokratischen Gesellschaft, also zu jenem Gesellschaftsmodell, das George Soros seit mehr als zwei Jahrzehnten durch Investitionen in Millionenhöhe fördert. Die Open Society-Stiftungen unterstützen die Integration der Romabevölkerung und an der CEU wird über die Zusammenhänge von Macht und Medieneinfluss geforscht. Da die Regierung das unterbinden wollte, sollte im April 2017 ein neues Hochschulgesetz der Elite-Uni die Existenzgrundlage entziehen und ihre Schließung erzwingen. Bis Jänner 2018 müssen alle ausländischen Universitäten, die in mehreren Ländern akkreditiert sind, auch im Herkunftsland einen Campus betreiben. Die amerikanische CEU hat ihren einzigen Standort in Budapest und erfüllt dieses Kriterium daher nicht. Kritikerinnen und Kritiker sind sich einig, dass sich dieses Gesetz einzig gegen die Central European University richtet. Die Antwort war einer der bisher größten Proteste gegen die nationalistisch-konservative Regierung Viktor Orbáns, die seit sieben Jahren an der Macht ist. Die Uni muss weg

An der Fassade der CEU in der 6.-Oktober-Straße hängen im Herbst 2017 noch immer türkise Transparente. Sie tragen die Aufschrift „#IstandwithCEU“ und sind von

Es wurde eine neue Elite geschaffen, die aber in der Gesellschaft keine Wurzeln gefunden hat.“

den Protesten übrig geblieben. Im zweiten Stockwerk des Gebäudes hat Marius Dragomir sein Büro, er leitet das Center for Media, Data and Society an der CEU. „Aus jetziger Sicht können wir bis 2019 mit dem normalen Betrieb fortfahren“, erzählt Dragomir, „aber das ist keine endgültige Lösung!“ Ein Abkommen mit dem New Yorker Bard College, das den Fortbestand der CEU in Budapest dauerhaft sichern würde, liegt der Regierung bereits vor. Doch statt einer Unterzeichnung gibt es eine Fristverlängerung bis 2019. „Sie unterschreiben es nicht, das gibt ihnen die Möglichkeit, die nächsten Wahlen abzuwarten“, ergänzt Dragomirs Kollegin Anna Orosz. Einen Misserfolg will sich die Regierung vor den Wahlen nicht zugestehen. Öffentliche Hasskampagne

Doch nicht nur Soros’ Institutionen, sondern auch er selbst ist Ziel von Attacken der Politik. An der Stadteinfahrt nach Budapest reihen sich großflächige Reklametafeln am Straßenrand aneinander. Sie zeigen das grinsende, schwarz-weiße Konterfei eines Mannes: George Soros. Orbán und seine Regierung fordern auf den Plakaten die Bevölkerung auf, an einer Volksbefragung teilzunehmen. Auf den Plakaten steht: „Über den Soros-Plan. Lassen wir ihn nicht unkommentiert.“ Rund acht Millionen wahlberechtigte Ungarinnen und Ungarn bekamen im Oktober 2017 einen Fragebogen zugeschickt, durch den sie sich zum vermeintlichen „Soros-Plan“ äußern sollten. Sie wurden gefragt, ob sie Soros’ Absichten unterstützen, alle Grenzen zu öffnen und eine Million Flüchtlinge innerhalb der EU anzusiedeln. Oder, ob sie seinem Vorhaben zustimmen, diese strafrechtlich milder zu verurteilen. Sollen Staaten, die sich den Migrationsplänen entgegenstellen, öffentlich attackiert und bestraft werden? Das schlage Soros nämlich vor – doch nicht nur Faktenchecks haben die vermeintlichen Aussagen Soros‘ als unwahr entlarvt, sondern auch Soros selbst äußerte sich in einer seiner seltenen Stellungnahmen zu dem Fragebogen. Die Statements in der Volksbefragung seien „verzerrt“ oder „gelogen“ und dienten nur dazu, die ungarische Bevölkerung absichtlich über Soros‘ Meinung über Migration und Flüchtlinge zu täuschen.


18 Schutz von Minderheiten als Elitenprojekt

Die Open Society-Stiftungen haben aber auch ein strukturelles Problem. Denn ihr ursprüngliches Vorhaben, die Zivilgesellschaft zu unterstützen und deren Sorgen, Ideen und Initiativen in die Politik zu tragen, hat nicht alle erreicht. „Die Projekte waren dann doch sehr elitär“, erläutert Florian Bieber, Südosteuropa-Experte an der Universität Graz. „Das sind Menschen, die gut ausgebildet und auch international mobil sind. Es wurde eine neue Elite geschaffen, die unheimlich gut vernetzt ist, aber in der Gesellschaft selbst keine Wurzeln gefunden hat.“ Das hat Orbáns Kampagne in die Hände gespielt. Schon lange engagiert sich die Open Society-Stiftung für Rechte und Selbstbestimmung von Minderheiten. „Aus der Sicht von nationalistisch-konservativen Ungarn, Serben oder Rumänen sind gut ausgebildete Landsleute, die sich für Roma einsetzen, eben oft Weltverbesserer“, so Bieber. Dass in vielen Ländern die neue, intellektuelle Elite mit der gleichen Skepsis betrachtet wird wie die politische oder wirtschaftliche Elite, hätte allerdings nichts mit Soros zu tun. Doch er ließe sich als Privatfinancier leichter angreifen. Würde Orbán beispielsweise eine deutsche Parteistiftung gleichermaßen ablehnen, würde er direkt Ungarns Beziehung zu Deutschland schwächen. Bei Soros hingegen stehen keine diplomatischen Beziehungen auf dem Spiel. Populismus lebt von Feindbildern

„Populisten richten sich immer gegen etwas. Sie lehnen die regierende Elite ab, die den wahren Willen der Nation nicht verstehe. Das Schwierigste ist deshalb ein Populist an der Macht“, erklärt Bieber. Orbán regiert seit sieben Jahren, er könne nicht gegen sich selbst Wahlkampf führen und müsse daher andere Feinde finden, die er als Bedrohung darstellen kann. „Die EU ist die eine Elite. Sie agiert extern. Das ist praktisch, man kann sagen: Wir werden fremdbeherrscht! Soros passt auch in eine liberale Weltverschwörungselite“, so Bieber.

von konservativen Parteikolleginnen und -kollegen in der Europäischen Volkspartei. Florian Bieber sieht eine Möglichkeit zum Bruch seines Systems im Verlust externer Glaubwürdigkeit: „Er müsste zum Beispiel aus der Europäischen Volkspartei rausgeschmissen werden. So wird klar kommuniziert, dass diese Art von Politik nicht vereinbar mit konventionellen europäischen Parteien ist. Eine Weile wird es aber noch dauern.“ Ob Soros bis dahin weiter als perfektes Feindbild herhalten muss, wird sich zeigen. Die Volksbefragung sorgt im Moment für Verblüffung – so sollen Fragebögen an schon längst verstorbene Ungarinnen und Ungarn zugestellt und Teilnahmezahlen gefälscht worden sein. Wie viel sich Orbán tatsächlich erlauben kann, werden die Wahlen im Frühjahr 2018 zeigen.

George Soros

Open Society George Soros stammt aus einer jüdischen Familie und überlebte den Holocaust in Ungarn. Zu Beginn der

kommunistischen

Besatzung

zog er nach London. Dort studierte er an der London School of Eco-

nomics. Später emigrierte er nach Amerika, wo er als einer der ersten Fondsmanager durch Spekulationen Milliarden verdiente. Nach dem Zerfall des Kommunismus setzte George Soros sein Vermögen ein, um in ganz Osteuropa Open Soci-

ety-Stiftungen zu errichten. Diese sollten demokratiepolitische Initia-

Am 8. April 2018 finden in Ungarn die nächsten Wahlen statt. Orbán ist gut vorbereitet, macht er sich doch seit 2010 das ungarische Mediensystem zu eigen. Über Personen, die seiner Fidesz-Partei nahe stehen, kontrolliert er bereits 90 Prozent aller ungarischen Medien, wie Marius Dragomir in einem Bericht für die London School of Economics erläutert. Weiters ersetzt er den gesamten Staatsapparat nach und nach durch loyale Institutionen. Deshalb ist nicht absehbar, ob es bei den nächsten Wahlen gelingen wird, sein System zu brechen. Es gibt keine starke Opposition als Alternative und die Mehrheit der Bevölkerung steht hinter der Regierungspartei. Außerdem bekommt Orbán nach wie vor Rückendeckung

tiven unterstützen und so die Entwicklung einer offenen Gesellschaft vorantreiben. Unter anderem profitierten die Arbeitergewerkschaft

Solidarność

in

Polen

und

die

Charta 77 in der Tschechoslowakei von seinem Einsatz. Soros gründete die Central European University, eine Elite-Uni inmitten Europas, und ermöglichte jungen Studierenden Aufenthalte im westlichen Ausland.


19 Glosse von Tanja Unterweger

EINFACH BÖSE

G

eorge Soros, Superschurke. Bester Feind zahlloser Regierungschefs bei Tage, (Alb-)Traum weltweit operierender Verschwörungstheoretiker bei Nacht. Eine Doppelbelastung, wie sie nur ein 87-jähriger, jüdischer Hedgefonds-Milliardär meistern kann. Staatsmännern mit Hang zu diktatorischen Strukturen schlägt das Herz bis zum Halse, wenn sein Name fällt. Dank Soros – der ihnen unaufhörlich neue Inspirationen für Verschwörungen liefert – sind sie bereit, alles Übel der Welt auf einer einzelnen Person abzuladen. Eine Wohltat für den Präsidenten und das Volk. Niemand hält es für nötig, sich über die Richtigkeit von Fakten den Kopf zu zerbrechen. Kein Denken, nur Fühlen. Gehasster Erlöser, dein Name ist ewiglich George. Investitionen in demokratiepolitische Bewegungen sowie sein Einsatz für die Rechte von Minderheiten machen George Soros zum Traumbösewicht für jede Mär, die von den Populisten in die Welt hinausgetragen wird. Von Orbán bis Putin, von Anti-Soros-Plakatkampagnen über Bücherverbrennungen – Fans gewinnt George unter den rechten Parteien Europas keine mehr. Denn auch für die Migrationsbewegung der vergangenen Jahre sei der Investor mit ungarischen Wurzeln höchstpersönlich verantwortlich. Gibt es irgendetwas, das dieser Mann nicht zu Wege bringt?

Illustration Filip Bošnjak

Womöglich birgt Soros demnach auch das Potential, die Menschheit von jedem Zwist zu befreien und die vormals zankenden Lager zu vereinen. Er ist ein gemeinsamer Lieblingsfeind, welcher es der Bevölkerung leicht macht, jeder noch so abstrusen Anschuldigung zu vertrauen. Frei von den Fesseln des kritischen Denkens erwartet die Menschen ein einfacheres, besseres Leben. Ermüdende Debatten werden zum Relikt aus grauer Vorzeit – wie entlastend ist es doch, sich nicht länger aus verschiedenen Quellen zu informieren. Immer zu wissen wer Held und wer Schurke ist. Gebt auf die Skepsis, vergesst das Fact-Checking. Wir denken nicht, also sind wir. Einfach nur sein. Um diese scheinbare Utopie Wirklichkeit werden zu lassen, bräuchte es nicht viel. Bloß ein Quantum weniger Skepsis an den Verschwörungstheorien dieser Welt.


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SCHREIB-

Anita Kőműves arbeitet für eines der letzten unabhängigen Medien in Ungarn. Zuvor war sie für die größte Tageszeitung im Land tätig, bis diese überraschend eingestellt wurde. Ein Gespräch mit der Journalistin über Einschränkungen in der Branche und wie sie diese umgeht. Text Melanie Jaindl

tellen Sie sich vor, Der Standard wird von einem Tag auf den anderen eingestellt. Sie gehen auf die Website und dort steht nur, dass die Zeitung aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen wurde – kein Hinweis darauf im Voraus, alle veröffentlichten Artikel sind gelöscht. In Ungarn ist dies am 8. Oktober 2016 passiert. Die Népszabadság, die größte politische Tageszeitung im Land, wurde ohne Vorwarnung geschlossen. Selbst die Redaktionsmitglieder haben davon erst über die Medien erfahren. Die Zeitung hatte zuvor kritisch über den Ministerpräsidenten Viktor Orbán und dessen Partei Fidesz berichtet. Schließlich wurde sie, wie einige andere Medien zuvor, von einem Fidesz-nahen Unternehmen gekauft und zugesperrt. Anita Kőműves arbeitete über zehn Jahre bei Népszabadság. Jetzt ist sie bei Átlátszó, einer unabhängigen, investigativen Online-NGO, die sich journalistisch und juristisch engagiert. Sie empfängt uns in einem Bürogebäude in der Budapester Altstadt und vermittelt im Gespräch einen Einblick in den ungarischen Medienalltag.

Können Sie Ihr Leben als Journalistin in Ungarn schildern?

Die Medienszene und mein Leben – das sind zwei verschiedene Geschichten. Bis vor einem Jahr blieb mein

Leben von all dem, was in diesem Land und der Medienszene passiert, unberührt. Fidesz hat verstanden, wie man die Wirtschaft nutzt, um die Medien zu kontrollieren. Die Regierung steuert den Werbemarkt. Das heißt, wenn es ein Medienhaus gibt, das die Regierenden nicht mögen, stellen sie die Anzeigen dort ein. Macht das Unternehmen mit seinen Medien kein Geld mehr, ist die Inhaberin oder der Inhaber womöglich gezwungen, es zu verkaufen. Und dann findet sich ein Oligarch, der es übernimmt, die Chefredaktion austauscht und damit sein neues eigenes Propagandamedium bekommt. Diese Vorgänge haben Sie offenbar schon öfters beobachtet?

Ja, das passiert hier schon lange, aber persönlich hat es mich nie betroffen, denn ich arbeitete für Népszabadság. Das scheint eine andere Geschichte zu sein, ist es aber nicht. 2014 kaufte ein österreichischer Investor die Zeitung. Wir wussten nicht, wofür er steht. Jetzt glauben wir, dass er mit Fidesz in Verbindung stand und – als eine entsprechende Anweisung kam – die Zeitung geschlossen hat. Dann wurde sie an einen Oligarchen verkauft, der gut mit Orbán befreundet ist. Somit kommen diese zwei Geschichten zusammen.

Fotos Boris Böttger

S


21

BLOCKADE „ Die Regierung muss die Medien auf eine Art kontrollieren, die sie in Brüssel rechtfertigen kann.“

Wie haben Sie von der Schließung der Népszabadság erfahren?

Am 7. Oktober war ich eine der Letzten im Büro. Wir sollten in ein neues Gebäude ziehen, deswegen habe ich noch alles zusammengepackt und mit kleinen Stickern, auf denen mein Name stand, beklebt. Da wir zuvor schon einmal umgezogen sind, kam uns das nicht verdächtig vor. In unserem Kühlschrank haben wir eine Flasche Wein gefunden und obwohl wir sonst nie im Büro tranken, machten wir eine Ausnahme und kramten Plastikbecher heraus. Es wurde also etwas später an diesem Abend. Als ich am nächsten Tag aufwachte und auf mein Handy sah, waren da die Schlagzeile, dass Népszabadság eingestellt wurde, und ein verpasster Anruf von einem Kollegen. Da war offensichtlich, dass alles vorbei war. Was haben Sie dann unternommen?

Die Redaktion hielt ein Meeting ab und am Abend schlossen wir uns den Protesten in der Stadt an. Es war verrückt: An einem Tag hatten wir einen Job und eine Zeitung, am nächsten protestierten wir schon vor dem Parlament.

Möglichkeit, kritische Berichterstattung im eigenen Land zu stärken?

Dass Journalistinnen und Journalisten bekannter Medien hierher kommen und berichten, ist wichtig, denn so können die Nachrichten besser verbreitet werden. Das macht die Politikerinnen und Politiker nervös. Jedoch werden auf Regierungspropaganda-Seiten neuerdings Namen von Medienschaffenden aufgelistet, die angeblich Ungarns guten Ruf im Ausland beschmutzen. Einige fühlen sich dadurch nicht mehr sicher. Die Regierung ermutigt damit die Bevölkerung, diese Menschen zu hassen. Fürchten Sie Einflussnahme auf Ihre Arbeit hier bei Átlátszó?

Orbán und seine Partei kann uns nicht wirklich beeinflussen, da wir eine NGO und von Inseraten unabhängig sind. Wenn sie wirklich wollen, können sie wahrscheinlich die Polizei rufen und die finden dann irgendetwas, aber genau deswegen versuchen wir unsere Arbeit sehr genau zu machen. Wir sind sechs Journalistinnen und Journalisten und drei Anwälte. Wir wissen, dass wir eines Tages ein Angriffsziel sein könnten. Werden Sie oft verklagt?

Ja, hin und wieder, aber ich glaube wir klagen selbst öfter – vor allem auf Herausgabe von Informationen. Die Regierung kann für diese Auskünfte Geld verlangen und das macht sie auch regelmäßig. Unsere Methode ist es, zuerst zu zahlen und dann vor Gericht zu ziehen, um das Geld zurückzuverlangen. Die Gerichte entscheiden meistens zu unseren Gunsten und wir bekommen die Informationen noch zeitgerecht.

Ist ökonomischer Druck oder klassische Zensur die größere Gefahr für den Journalismus?

Das kommt darauf an, wo man ist. Wir sind in der EU, die Regierung kann uns nicht zensieren oder einsperren. Sie muss die Medien auf eine Art kontrollieren, die sie in Brüssel rechtfertigen kann. Unabhängige Medien werden in Ungarn nicht streng kontrolliert, aber es gibt immer weniger von ihnen. Es ist auch wichtig, zwischen Meinungs- und Pressefreiheit zu unterscheiden. Ich kann auf Facebook oder meinem Blog schreiben, was ich will, aber das liest kaum jemand. Pressefreiheit bedeutet, dass es große Institutionen mit sicheren Jobs für Journalistinnen und Journalisten gibt, die die Regierung zur Rechenschaft ziehen können. Aber genau diese Institutionen werden nun attackiert. Der Begriff „illiberale Demokratie“ hat Ungarn internationale Medienbeachtung eingebracht, welche wiederum die Aufmerksamkeit der ungarischen Medien auf sich zog. Ist Zusammenarbeit mit ausländischen Medien eine

Pressefreiheit

Einfluss der Wirtschaft Nach der Schließung der Zeitung

Népszabadság verkaufte der österreichische Investor Heinrich Pecina das Portfolio von Mediaworks an die

Opimus-Gruppe. Diese steht

Lőrinc Mészáros nahe, Orbán-Freund und

Bürgermeister

Heimatdorf

Felcsút.

von

Orbáns

Mit

dem

Portfolio ging ein großer Teil der ungarischen Regionalzeitungen in regierungsnahen

Besitz.

Heinrich

Pecina wurde übrigens 2017 im

Hypo-Prozess wegen Untreue und Betrug zu einer Geld- und einer bedingten Haftstrafe verurteilt.


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KRITIKER MIT FILZSTIFT D Die reduzierten Filzstiftzeichnungen des rumänischen Künstlers und Aktivisten Dan Perjovschi sind eine Kombination aus Text und Bild. Sie bringen aktuelles Zeitgeschehen mit Ironie auf den Punkt. Text Hannah Gössmann

Für BLANK11 kommentierte der rumänische Künstler die ungarische Politik malerisch.

an Perjovschi benötigt weder Pinsel noch Leinwand. Sein Werkzeug ist ein dicker schwarzer Filzstift. Damit zeichnet er seine Karikaturen direkt auf Wände, die nach den Ausstellungen wieder übermalt werden. In seiner Heimat Hermannstadt bekritzelt Dan regelmäßig eine Mauer mit seinen minimalistischen Zeichnungen. Auch andere Künstlerinnen und Künstler aus der Umgebung beteiligen sich an dieser öffentlichen Galerie, die so zu einem Konglomerat an Visualisierungen des gegenwärtigen Zeitgeschehens wird. Der 1961 in Hermannstadt Geborene verwendet die Karikatur als Stilmittel und konnte seine Kunst nicht immer so frei ausleben. Er wächst im kommunistischen Rumänien unter dem Regime von Nicolae Ceaușescu auf. Sein Talent wird schon im Alter von zehn Jahren erkannt, weshalb er eine Schule für begabte Kinder besucht. Dort begegnet er zum ersten Mal seiner späteren Frau Lia. Sie wird ebenfalls Künstlerin und die beiden heiraten nach ihrem Studium, das Dan am George Enescu Conservatory of Fine Arts in Iași und Lia an der Kunstuniversität in Bukarest abschließt. Revolution in Kunst und Gesellschaft

Während des Kommunismus arbeiten viele Künstlerinnen und Künstler isoliert in ihren Wohnungen. Auch die Perjovschis wissen in dieser Zeit fast nichts über die Kunst der 1960er- bis 1990er-Jahre. Nach dem Sturz des Ceaușescu-Regimes 1989 etabliert sich eine künstlerische Avantgarde, zu der auch das Ehepaar Perjovschi zählt. Dan und Lia kommen nach der rumänischen Revolution erstmals mit internationalen Künstlerinnen und Künstlern in Kontakt. 1991 beginnt Dan für Revista 22 zu zeichnen, der ersten unabhängigen rumänischen Wochenzeitschrift nach dem Sturz des Diktators. Internationale Bekanntheit erlangt Dan Perjovschi, als er 1999 auf der Biennale in Venedig den Fußboden des rumänischen Pavillons mit rund 3.000 gesellschaftskritischen Zeichnungen übersät. Seitdem reist er mit seinem Werkzeug, dem Filzstift, um die Welt und war mit seinen Strichkunstwerken schon bei Ausstellungen im Museum of Modern Art in New York, Centre Pompidou in Paris, Museum of Contemporary Art in Tokio, aber auch beim steirischen herbst in Graz vertreten. Dan Perjovschi in seinem Atelier in Hermannstadt.

Für Revista 22 greift Dan Perjovschi heute noch zum Filzstift. Seine pointierte Kritzelkunst hat er in Form einer exklusiven Zeichnung auch für BLANK11 zu Papier gebracht. Diese gibt es auf der nächsten Seite zu sehen.

Foto Boris Böttger

Globale Kritzelkritik


Illustration Dan Perjovschi, Illiberal 2017


24 Im Szeneclub Auróra kommen NGOs, Oppositionelle, die jüdische Kultur in Budapest und eine Bagelbäckerei zusammen. Allesamt sind sie der Regierung von Viktor Orbán ein Dorn im Auge.

Foto Zoltán Adrián

Text Katharina Brunner

Beim Fest Purim wird das Buch Ester, das eines der wenigen ist, das von einer Frau verfasst wurde, szenisch dargestellt.

WIDERSTAND IM CLUB

s duftet nach frischem Gebäck. Inmitten der chaotischen Bagelbäckerei von Auróra steht Daniel Mayer, Mitglied des Club-Kollektivs. Er streicht sein Haar wie so oft mit Schwung nach hinten und sagt: „Bagels sind jüdisch und ultra sexy.“ Auróra ist sein zweites Zuhause. Mittlerweile kennt er alle jüdischen Feste und kann auch die hebräische Schrift lesen, obwohl er Atheist ist. Trägerverein des Clubs ist Marom Budapest, eine Grassroots-Organisation, die jüdische Kunst, Kultur und Religion vernetzt und so dem Judentum im heutigen Ungarn wieder mehr Platz einräumt. Darum finden hier neben Theater- und Musikveranstaltungen viele jüdische Feste statt. Auróra ist aber für alle offen, egal woran man glaubt oder woher man kommt. Somit finden hier nicht nur Jüdinnen und Juden einen Ort für Veranstaltungen

und Diskurs, sondern auch eine bunte Ansammlung an NGOs. Diese erledigen teils Aufgaben, denen sich in einer Demokratie für gewöhnlich der Staat annimmt. Für die Rechte der Minderheiten

An der Bar im Erdgeschoss, dem Kioszk, gibt es die nach israelischem Rezept gebackenen Bagels mit süßen Füllungen. Vieles hier, wie Stühle und Tische, ist selbstgebaut. Ein Gast sitzt am Klavier und bespielt mit modernem Jazz den Raum, wodurch man sich wie in einem Wohnzimmer fühlt. In den Büroräumen, einen Stock höher, arbeiten NGOs, die sich für die Rechte von Roma, Homo-, Bi- oder Transsexuellen, Obdachlosen oder auch Prostituierten einsetzen. Etwas, das die ungarische Regierung derzeit nicht tut. Ministerpräsident Viktor

Fotos Zoltán Adrián, Sheila Eggmann

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25 Orbán und seine Partei Fidesz erschufen ein System, das Minderheiten ausgrenzt und nennen es eine „illiberale Demokratie“. Vom Konzert-Keller tönen Texte von ungarischen Rap-Musikern herauf, „Orbán“ ist eines der häufigsten Schlagwörter. „Im Auróra treffen sich Intellektuelle, Künstler, Aktivisten, Philosophen und Oppositionelle“, erzählt der Soziologe Mayer und grinst provokant. Wohl genau deshalb stört Auróra die FideszPartei. Sichtbar wird das an Sanktionen, wie dem Lizenzentzug für die Bar letzten Sommer. Das Ziel der Regierung: Auróra schwächen

Ende Juni 2017 kamen drei Briefe bei Auróra an. Diese bezogen sich auf eine Drogenrazzia bei einer Veranstaltung im Sommergarten. Gegen 15 Gäste wurden Strafverfahren eingeleitet. Mit den Briefen entzog die Regierung dem Club mit sofortiger Wirkung die Lizenz für die Bar. Das hatte zur Folge, dass dem Club fortan zahlreiche Gäste und 80 Prozent der Einnahmen fehlten. Damit wurde versucht, den Club wirtschaftlich und somit auch die Gemeinschaft zu schwächen. Auróra erhob Einspruch gegen den Lizenzentzug. Dieser basierte auf einem Gesetz, das wirksam wird, wenn gegen Lokale Strafverfahren wegen Menschenhandel oder Drogenherstellung und -handel eingeleitet werden. Da nichts davon im Club passierte, bekam das Kollektiv Recht und öffnete die Bar nach zwei Monaten wieder. Der Versuch, das Zentrum der Oppositionellen in Budapest zu schwächen, scheiterte vorerst. Soros-Unterstützung als Angriffsfläche

Der Innenhof ist an diesem Freitag Anfang November voller Menschen. Vorwiegend junge Leute pendeln zwischen Bar und Innenhof unter freiem Himmel hin und her. Mayer raucht in der kurzen Pause zwischen seinen Erzählungen hektisch eine Zigarette. Ein weiterer Angriffspunkt für die Regierung sei die Verbindung zwischen Auróra und George Soros. Der gebürtige Ungar und Jude lebt in den USA. Er unterstützt seit Jahren zivilgesellschaftliche Projekte – eine Zeit lang auch eines von Auróra , mit dem es die Nachbarschaft stärken wollte. „Stop Operation Soros“ wurde im vergangenen Sommer auf die Hauswand des Clubs gesprayt. In den Medien wird Auróra als Zentrum der Soros-Anhängerinnen und -Anhänger dargestellt. Das spielt der Propaganda-Strategie der Regierung in die Hände, denn mit Auróra hat die Regierung einen Ort gefunden, den sie gezielt attackieren und mit Soros in Verbindung bringen kann. Über Soros gehen die Meinungen in der Bevölkerung auseinander (siehe auch Seite 16 bis 19). Dass das Lokal als Zentrale des Netzwerks in Budapest gilt, drückt Auróra den „Soros-Stempel“ auf. Zusammenkommen und Netzwerken

In Zeiten wie diesen sei der Zusammenhalt bei Auróra wichtig, meint Mayer. Workshops, Seminare und Feiern

verbinden. Feiern und Freitagsgebete, an denen auch viele Nicht-Religiöse teilnehmen, finden in der improvisierten Synagoge von Auróra statt. Circa die Hälfte des Kollektivs ist jüdisch. Mayer erzählt mit der Tora in der Hand vom alljährlichen jüdischen Fest Purim. Er vergleicht es mit dem Fasching in Österreich. Szenisch wird das Buch Ester nachgespielt. „Jeder muss so viel Wein trinken, bis er nicht mehr zwischen den Zitaten ‚Verflucht sei Haman‘ und ‚Gelobt sei Mordechai‘ unterscheiden kann“, erklärt Club-Mitglied Mayer und lacht laut. Aufgeregt liest er auf Hebräisch aus der Tora vor. Eigentlich singt man die Gebete als Jüdin oder Jude. „Singen werd’ ich jetzt nicht“, sagt er und schlägt das Buch zu. Mitsingen wird der Atheist – wie immer – erst wieder bei der nächsten Feier, wenn alle anderen singen.

Daniel Mayer ist einer von Vielen, die im Auróra jüdische Feste mitfeiern, ohne der Religion anzugehören.



27 K

WWW

Dosengulasch war gestern http://bit.ly/blank11kocht-gulyas

GULYÁS

Foto Robert Szeberényi

Text Kathrin Hiller

ein anderes Gericht ist so typisch für Ungarn wie Gulyás. Es ist eine mit Paprikapulver gewürzte Rindsuppe mit Fleischstücken. Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das heutige Nationalgericht aus einer Speise der ungarischen Hirten. Die Rinderhirten, Gulyás genannt, bereiteten damals häufig Fleisch mit Paprikaschoten zu. Das Gericht war günstig und verbreitete sich daher rasch innerhalb der Balkanländer. Über Bratislava gelangte das Gulyás schließlich auch nach Wien. Das österreichische Gulasch entspricht jedoch dem ungarischen Pörkölt, das einem Ragout ähnlich ist. Traditionelles ungarisches Gulyás wird aus Rindfleisch, Zwiebeln, Paprika, Paprikapulver, Tomaten, Karotten, Salz und Wasser zubereitet. Es gibt zahlreiche Varianten des Nationalgerichtes, aber alle haben eine Gemeinsamkeit: Aufgewärmt schmeckt es besonders gut.


28 BEVÖLKERUNG. In Rumänien leben 22,3 Millionen Menschen, die durchschnittlich 41,4 Jahre alt sind. Die Lebenserwartung liegt für Frauen bei 78,7 und für Männer bei 71,5 Jahren.

IM SONDERANGEBOT Klappernde

Pferdewägen,

einsturzgefährdete

Wohnhäuser

und

unfertige Autobahnen. Dabei ist Rumänien der Wirtschaftswachstumskaiser der EU. Gespart wird offenbar vor allem bei der eigenen Bevölkerung. Fast nirgends in der EU sind die Mindestlöhne niedriger und auch Land, wie die letzten Urwälder Europas, ist hier im Sonderangebot. Die politische Elite hat Rumänien in den Discounter Europas verwandelt. Für solche Schnäppchen nehmen ausländische Geschäftsleute gerne eine Reise auf sich. Doch Vorsicht, hier wimmelt es nur so von Dieben: Seit Generationen berauben sie die Menschen, symbolisch manifestiert sich ihr gestohlener Reichtum im protzigen Parlamentspalast, den Nicolae Ceauşescu ins Zentrum von Bukarest klotzte. In diesem Relikt des Kommunismus werden auch heute noch wichtige Beschlüsse gefasst, die korrupten Züge des vergangenen Systems wurden aber noch nicht überwunden. Die rumänische Bevölkerung weiß das, sie bekommt es täglich zu spüren. Doch sie kann kaum dagegen vorgehen, da die Justiz zurzeit auch in die korrupten Fänge der Regierung gerät. Viele Menschen sind schon aus dem Land geflüchtet. Die Meisten sind aber geblieben und gehen, wie schon ihre Vorfahren im Revolutionsjahr 1989, auf die Straßen, um die geldgierigen Diebe endlich loszuwerden.


29 WÄHRUNG. In Rumänien wird

EU-BEZUG.

2007

REGIERUNG. Klaus Johannis ist

mit Lei bezahlt. Ein Euro ent-

ist Rumänien Mitglied der EU.

Präsident in der semi-präsiden-

spricht 4,6 Lei (RON). 2019 soll

Nachholbedarf besteht bei den

tiellen Republik, der links-natio-

der Euro als Währung eingeführt

Themen Justizwesen und

nalistische Regierungschef Mihai

werden.

organisierte Kriminalität.

Tudose ist im Jänner 2018 zu-

Bereits

seit

rückgetreten.


30 Tausende rumänische Kinder wachsen aufgrund von Arbeitsmigration in zerrissenen Familien auf. Viele kennen ihre Eltern von Fotos und Bildschirmen, haben aber vergessen wie es sich anfühlt von Mama und Papa umarmt zu werden. Text Christina Rebhahn-Roither

Fotos Anna Eisner-Kollmann Grafik Verena Sophie Maier

SKYPEN STATT KUSCHELN


31 E

s ist unmöglich, die eine Geschichte der zurückgelassenen Kinder in Rumänien zu erzählen. Es gibt Kinder, die bei einem Elternteil aufwachsen. Kinder, die ihre Mutter nach neun Jahren, zu Weihnachten das erste Mal, wieder glücklich in die Arme schließen. Kinder, die nicht ahnen, dass ihre Eltern am nächsten Morgen verschwinden werden, ohne sich zu verabschieden. Suzannas* Geschichte ist eine von vielen, aber Vielen geht es wie ihr. Über der oberösterreichischen Stadt Wels braut sich ein Gewitter zusammen. Während die ersten Tropfen auf die Fensterscheibe prallen, sitzt Suzanna am Esstisch vor Tee und Keksen und entsperrt ihr Smartphone. Ein Lächeln breitet sich auf dem Gesicht der Rumänin aus, als das Display des Geräts aus abertausenden Pixeln das Abbild zweier kleiner blonder Mädchen schafft. Mit rosa-silberner Kinderschminke auf Wangen und Stirn strahlen die beiden in die Kamera. Es sind Suzannas Töchter, Daria* und Viviana*. Die Zwillinge sind sechs Jahre alt und leben hunderte Kilometer entfernt bei den Großeltern. 480 Euro pro Monat

Seit einem Jahr arbeitet Suzanna in Österreich als 24-Stunden-Pflegerin und betreut, im Wechsel mit einer zweiten Rumänin, eine Frau namens Klara*. Von morgens bis abends ist sie für die über 90-Jährige da, hilft ihr aus dem Bett, auf die Toilette und in den Rollstuhl. Haushalte wie diesen gibt es in Österreich viele. 40,9 Prozent aller

Personenbetreuerinnen und -betreuer stammen aus Rumänien, nur aus der Slowakei kommen noch mehr. Seit der Arbeitsmarktöffnung 2014 können Suzannas Landsleute uneingeschränkt in Österreich arbeiten. Es ist der Ausblick auf mehr Geld, der die meisten dieser Arbeitskräfte ins Ausland lockt. Das rumänische Durchschnittseinkommen liegt bei etwa 480 Euro netto (Stand: November 2016, Europäische Kommission). Viele Eltern können ihre Familie nicht finanzieren und wollen ihrem Nachwuchs eine bessere Zukunft bieten. Suzanna baut gerade ein Haus in Rumänien. Für den Baugrund schuftete sie einige Zeit in Italien. Klara zu pflegen brachte genug Geld ein, um ein Dach auf den Rohbau zu setzen. Die Waisen der EU

Die Kinderrechtsorganisation Save the Children Romania geht von insgesamt 250.000 Kindern aus, die aufgrund der Arbeitsmigration ohne beide Elternteile aufwachsen. Man nennt sie Eurowaisen, denn fast ein Drittel von ihnen lebt ganz ohne Vater und Mutter. Die Zahlen sind allerdings nur geschätzt, da es in Rumänien kein einheitliches System zur Datenerfassung gibt. Die meisten Kinder bleiben in ländlichen Gebieten und im Osten des Landes zurück. Auch Suzannas Familie lebt dort, nahe der Stadt Onești. Misst man die Luftlinie, liegen rund 980 Kilometer zwischen der Mutter und

* Namen von der Redaktion geändert

1.380 KILOMETER ALLE 28 TAGE LEGT SUZANNA DIE STRECKE ZURÜCK.

WELS

41%

ONEŞTI

DES ÖSTERREICHISCHEN BETREUUNGSPERSONALS KOMMT AUS RUMÄNIEN SPANIEN, DEUTSCHLAND UND ÖSTERREICH SIND BELIEBTE ZIELE FÜR ARBEITSMIGRANTINNEN UND -MIGRANTEN


32 ihren Zwillingen. Google Maps schlägt vor, diese Distanz mit einer 13-stündigen Autofahrt zu überwinden – die Realität sieht anders aus. Da die Agentur die Hin- und Rückfahrt für viele Pflegerinnen und Pfleger organisiert, kann diese, abhängig von Abfahrt und Route, bis zu zwei Tage dauern, wenn Schichtwechsel ist und Suzanna für vier Wochen nach Hause fährt. Vertrauen gewinnen

Die Organisation Save the Children Romania kümmert sich um die Eurowaisen Rumäniens. Anca Stamin koordiniert von Bukarest aus Projekte der Organisation. Sie hat Verständnis für die Eltern, weiß aber auch wie es den verlassenen Kindern geht: „Sie fühlen sich im Stich gelassen und haben Schuldgefühle, denn die Eltern sagen: Ich gehe zu deinem Wohl und damit du es in Zukunft besser hast“. Betreuerinnen und Betreuer wissen, dass manche Kinder unter emotionalen Störungen, fehlender Empathie und Traumata leiden – bis ins Erwachsenenalter. „Wir versuchen die Kinder dabei zu unterstützen, ihr Selbstbewusstsein und Vertrauen zurückzugewinnen. Das ist der Schlüssel zu gesunden und normalen

Diese Schwestern wachsen bei ihrer Großmutter auf und besuchen Andreescus Nachmittagsbetreuung.

sozialen Beziehungen“, erklärt Leonard Andreescu, ein Kollege von Stamin, der in einer Bukarester Schule betroffene Kinder betreut. Obwohl Andreescus Schützlinge unter schwierigen emotionalen Bedingungen leben, geht es in der Schule meist zu wie in vielen anderen Klassenzimmern. Heute beispielsweise verbringen zwei Schwestern, die wie Daria und Viviana bei ihrer Großmutter aufwachsen, ihren Nachmittag hier. Das jüngere Mädchen ist konzentriert über eine Zeichnung gebeugt, ihre schwarzen zum Zopf geflochtenen Haare fallen über die Schulter: „Das sind zwei Äpfel und Gras, hier ist der Tisch und darauf steht das Haus.“ Eine ganz normale Kinderzeichnung. Der Sozialarbeiter blickt durch den Raum und meint: „Die Kinder fühlen sich wohl in der Gruppe, aber wenn du in die Gesichter blickst, siehst du, dass manche traurig sind. Oft schauen sie einfach ins Nirgendwo.“ Heimliche Abreise

Wie die Kinder mit der Abreise und der Abwesenheit der Eltern umgehen, hängt auch davon ab, wie sich die Eltern verabschieden oder ob sie es überhaupt tun. Stamin erlebt es als besonders kritisch, wenn Eltern einfach verschwinden, ohne sich von ihren Töchtern und Söhnen zu


33

Die Eltern denken, das sei der beste Weg, um die Kinder zu schützen.“

verabschieden: „Sie denken, das sei der beste Weg, um die Kinder zu schützen. Wir denken, dass sie so nur sich selbst vor dem Trennungsschmerz schützen “. Rechtlich gesehen ist es wichtig, das Sorgerecht an die neuen Verantwortlichen weiterzugeben. Geschieht das nicht, kann das Kind nicht eingeschult werden und erhält nur medizinische Notfallversorgung. Offizielle Zahlen gibt es nicht, doch Stamin nimmt an, dass sich weniger als ein Viertel aller Eltern um diese wichtige Formalität kümmert. Die Organisation arbeite auch mit der Kinderschutzbehörde und dem Bildungsministerium zusammen, aber „nicht mit den mächtigen Leuten, weil diese Positionen ständig neu besetzt werden“, meint Stamin. Von der Oma zur Mama?

Suzanna brachte es nicht übers Herz, ihre damals 5-jährigen Töchter einfach zu verlassen. Bevor sie sich das erste Mal auf den Weg nach Österreich machte, dachte sie sich einen Test für Daria und Viviana aus. Sie verabschiedete sich, lebte aber eine Woche lang geheim, nur wenige Minuten entfernt, in ihrem unfertigen Haus. Erst als sie sah, dass es ihnen bei den Großeltern gut ging, konnte sie sich auf den Weg zu Klara machen. Und so half sie in den nächsten vier Wochen morgens der alten Dame aus dem Bett, anstatt ihren Kindern die Haare zu frisieren. Die Pflege der zurückgelassenen Kinder übernehmen in den meisten Fällen Verwandte. Aber während die Kinder Bilder am Smartphone hin- und herschicken, sind Oma und Opa oft überfordert und können ihre Enkelkinder nicht in die mediale Welt begleiten. Zu groß ist der Altersunterschied. Was sie vereint, ist, dass sie alle eine geliebte Person vermissen. Für die einen ist es die Tochter, für die anderen die Mutter. Verbindung nach Hause

Suzanna sieht das Smartphone als die wichtigste Verbindung zu ihren Töchtern. Sie telefoniert jeden Tag mit ihnen und erzählt mit einem liebevollen Ausdruck in ihrem Gesicht: „Sie verstehen die Situation, aber sie vermissen mich.“ Weinen muss sie nur, wenn ihre Kinder weinen. Seit kurzem haben die Zwillinge einen Hund und die Gespräche fallen kürzer aus. „Ich fühle mich besser,

Anca Stamin geht davon aus, dass es 250.000 Eurowaisen in Rumänien gibt.

wenn meine Töchter beschäftigt sind, weil sie mich dann nicht so sehr vermissen“, sagt Suzanna, entsperrt ihr Smartphone und lächelt, als sie auf ein Foto der beiden Mädchen mit dem Welpen blickt. Noch immer prasselt der Regen gegen die Fensterscheiben und für die Rumänin ist es gleich Zeit Klara für das Abendessen in den Rollstuhl zu heben. Respektvoll aber ehrlich sagt sie: „Sollte Klara sterben, werde ich nicht hierbleiben, sondern zurück nach Rumänien gehen. Das hier ist wie meine zweite Familie, aber es ist zu hart die Kinder zu verlassen“. Viele Eltern können sich eine solche Rückkehr schlicht nicht leisten, doch zumindest für Daria und Viviana heißt es dann: Gutenachtkuss auf die Stirn, statt Mama aus Pixeln.


34 DAS CHINA EUROPAS Rumänien zieht mit niedrigen Steuern Unternehmen aus der ganzen Welt an. Industriestaaten produzieren oft lieber im europäischen Billigproduktionsland als in Asien. 2017 hatte Rumänien das stärkste Wirtschaftswachstum der EU. Doch was die Wirtschaft belebt, treibt das Volk in die Armut. Text Markus Steinrisser, Isadora Wallnöfer

Foto Friedrich-Ebert-Stiftung/Aurelian Manu

urch einen Bukarester Hinterhof kommt man zu einem Theater, von dort geht es mit einem alten Lift direkt in das kleine Büro von Liviu Apostoiu. Er ist Vizepräsident von Cartel Alfa, einem nationalen Gewerkschaftsbund – und wirkt frustriert. „Mit dem festgelegten Mindestlohn kann niemand in Rumänien leben“, klagt er. Umgerechnet sind das etwa 410 Euro brutto (Stand: Jänner 2018). Cartel Alfa engagiert sich für faire Gehälter. In den letzten Jahren ist das offenbar schwieriger geworden: Aufgrund des EU-Beitritts im Jahr 2007 verabschiedete das rumänische Parlament 2011 neue Gesetze. Strengere Regulierungen erschweren seither den Dialog zwischen Angestellten und Vorgesetzten. Hinzu kommt, dass es keine Lohnverhandlungen auf nationaler Ebene mehr gibt. Unternehmen bekamen so mehr Macht und können nun fast frei über Gehälter bestimmen. Gewerkschaften verloren ihre Mitglieder, da seit der Reform mindestens 15 Menschen in einem Unternehmen angestellt sein müssen, um eine Arbeitervertretung zu gründen. Noch vertritt Cartel Alfa eine halbe Million Arbeiterinnen und Arbeiter, doch die Zahl nimmt seit 2011 stetig ab.

Victoria Stoicu schreibt nebenberuflich regelmäßig für rumänische Tageszeitungen.

„Working Poor“ als Standard

„Ich denke, die Regierung traf die Entscheidung, damit die Löhne niedrig bleiben und multinationale Unternehmen zufrieden sind“, meint Apostoiu. Weil es zu wenig organisierte Arbeitervertretungen gibt, sei es schwierig, faire Löhne zu erkämpfen. Etwa ein Fünftel der Rumäninnen und Rumänen zählen zu den „Working Poor“, den arbeitenden Armen. So nennt man diejenigen, die ihr Leben nicht finanzieren können, obwohl sie ein fixes Einkommen haben. Anfang 2018 wurde der Mindestlohn zwar erhöht, dafür müssen aber Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer statt der Unternehmen für ihre Pensions- und Krankenversicherung zahlen. Am Ende bleibt den Menschen deshalb nicht mehr in der Tasche. „Es ist ein Leben an der Armutsgrenze“, erklärt Victoria Stoicu von der Friedrich-Ebert-Stiftung, die sich für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte einsetzt. „Wir sprechen hier vom Existenzminimum, nicht von einem anständigen Leben“, so Stoicu. Als Vergleich: Mindestlohnverdiener erhalten brutto etwa 2,40 Euro in der Stunde. Eine Packung Milch kostet etwa 85 Cent.

Foto Friedrich-Ebert-Stiftung/Aurelian Manu Grafik Verena Sophie Maier

D


35 Wirtschaftswunder Rumänien

Günstige Arbeitskräfte und niedrige Unternehmenssteuern machen Rumänien attraktiv für Hersteller aus Europa. 2017 hatte das Land das stärkste Wirtschaftswachstum der EU. Mitunter auch, weil es stark von internationalen Handelsbeziehungen abhängig ist. Laut Stoicu profitiert die Bevölkerung aber kaum vom Aufschwung. Zwar ist die Arbeitslosigkeit seit der Gesetzesänderung 2011 gesunken, jedoch arbeiten heute wesentlich mehr Menschen für einen Mindestlohn. Neben elektronischen Geräten exportiert Rumänien größtenteils Leder, Holz, landwirtschaftliche Produkte und Textilien. Letztere machen ein Viertel der Exporte aus. Unternehmen wie H&M und Inditex haben hier Produktionsstätten. Und es sind vor allem die Arbeiterinnen und Arbeiter in der rumänischen Textilproduktion, die, gemeinsam mit denen in der Lebensmittelproduktion, den größten Teil der angestellten „Working Poor“ ausmachen. In China, mit dem Rumänien oft verglichen wird, gibt es Provinzen, in denen der Mindestlohn höher ist. Arbeiten außer Kontrolle

nicht von den geleisteten Arbeitsstunden. „Angestellte arbeiten so oft zehn Stunden und mehr, um alle Aufgaben zu erfüllen, für ein Gehalt, das eigentlich für acht Stunden vorgesehen war.“ Trotz dieser Missstände behaupten Vertreterinnen und Vertreter des Arbeitsinspektorates in einem Statement, dass Arbeitsplätze regelmäßig und gemäß dem Gesetz kontrolliert werden. Allerdings kündigen sie ihre Kontrollen fast immer vorher an, sodass sich Unternehmen entsprechend vorbereiten können. Für die Rechte der rumänischen Arbeiterinnen und Arbeiter ist das Ministerium für Arbeit und Soziale Gerechtigkeit zuständig. Auf Anfragen hat das Ministerium bis jetzt nicht reagiert. Liviu Apostoiu von Cartel Alfa sieht daher die Pflicht vor allem bei der Regierung. „Wir als Gewerkschaften organisieren uns neu. Wir machen weiter Druck auf die Regierung.“ Momentan verhandeln Apostoiu und seine Kolleginnen und Kollegen um mehr Mitsprache bei Lohnverhandlungen. „Wenn sie nur drei Viertel unserer Forderungen erfüllen, ist das schon ein Erfolg.“

Laut Stoicu gelingt es manchen Unternehmen sogar, unter dem festgelegten Minimum für Löhne zu bleiben. Der Trick: Die Bezahlung hängt vom gefertigten Stück ab und

DIE GEHÄLTER DER ARBEITNEHMERINNEN UND ARBEITNEHMER IN RUMÄNIEN

44% BEKOMMEN NUR DEN MINDESTLOHN ODER WENIGER

12% DER GEHÄLTER LIEGEN ÜBER DEM DURCHSCHNITTSLOHN

44% DER GEHÄLTER LIEGEN ÜBER DEM MINDESTLOHN, ABER UNTER DEM DURCHSCHNITTSLOHN Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung, Stand 2016


36 DAS EUROPÄISCHE TECHNIK-MEKKA Rumäniens IT-Sektor zählt zu den am schnellsten wachsenden der Welt. Die Videospielfirma Killhouse Games zeigt, wie man als junges Unternehmen das Potential der Branche ausschöpfen kann. Text Clemens Istel

ine heruntergekommene Straße im Herzen von Bukarest. Das alte Stiegenhaus ist voller Baustaub. Dan Dimitrescu, Designchef von Killhouse Games, schließt die Tür zu seiner Firma auf und betritt eine wesentlich modernere Welt. Nur das Surren der Computer und der Duft von frischem Kaffee liegen in der Luft. Seine Kollegen arbeiten hochkonzentriert. Rumäniens IT-Sektor boomt. Die Österreichische Wirtschaftskammer notierte 2016 elf Prozent Umsatzwachstum im rumänischen IT-Bereich, bei einem allgemeinen Wirtschaftswachstum von 4,8 Prozent. Zum Vergleich: Österreich erreichte in diesem Sektor 2,7 Prozent und nur 1,5 Prozent insgesamt an Wirtschaftswachstum. Im Gegensatz zu anderen Branchen sind die Gehälter für IT-Fachkräfte in Rumänien nahezu auf EU-Niveau. Das liegt unter anderem an der Lohnsteuerbefreiung. Immer mehr rumänische IT-Fachkräfte kehren deshalb in ihr

Heimatland zurück, während in anderen Branchen Arbeiterinnen und Arbeiter auswandern, um in westlichen Ländern besser zu verdienen (Siehe Seite 30 und 34). Killhouse Games hat diese Umstände genutzt und sich 2012 aus dem französischen Videospielkonzern Ubisoft heraus zu einem erfolgreichen Start-up formiert. Dimitrescus ehemalige Firma hatte bereits vor 25 Jahren weitere Vorteile Rumäniens erkannt: eine hochwertige Ausbildung, unter anderem in Mathematik und Fremdsprachen, sowie die relative Nähe zu Frankreich. Immer mehr europäische Konzerne lagerten in den letzten 20 Jahren Produktion und Entwicklung nach Rumänien aus, statt wie bisher nach Asien. „Ich glaube nicht, dass es den perfekten Plan zur Firmengründung gibt. Die Erfahrung, die man in einem großen Konzern sammeln kann, stellt aber zumindest

Fotos Markus Steinrisser

E


37 eine hohe Qualität beim ersten eigenen Projekt sicher“, betont Dan Dimitrescu. Rund 90 Prozent der rumänischen IT-Kräfte arbeiten noch in ausländischen Unternehmen. Laut romanianstartups.com existieren derzeit aber bereits 269 Start-ups, 153 davon alleine in Bukarest. Computerspiele sind neben Netzsicherheit und Entwicklerwerkzeugen der Bereich mit den meisten Firmengründungen in Rumänien. „Du musst überall – nicht nur in Rumänien – ein gutes Produkt abliefern und auf dich aufmerksam machen. Hier haben wir nur den Vorteil, dass unsere Ausgaben geringer sind“, ergänzt Dimitrescu. Für ihn war das Start-up ein wichtiger Schritt, um mehr kreative Freiheit zu haben, die ihm bis dato fehlte. Schlüssel zum Erfolg

„Wir testeten vorab, ob sich die neue Idee, die wir auf den Markt bringen wollten, auch verkaufen lässt“, erklärt Dimitrescu. Das gelang mit einer sogenannten EarlyAccess-Version: Potentielle Kundinnen und Kunden konnten so – noch während der Entwicklung – das Strategiespiel Door Kickers spielen. Dank deren Rückmeldungen gewann Killhouse Games wichtige Informationen über das Marktpotential. Dimitrescus langjähriges Studium von militärischen Strategien und Taktiken prägte das Spiel maßgeblich, in dessen Verlauf eine Spezialeinheit unterschiedlichste Bedrohungsszenarien lösen muss. Authentizität ist ihm besonders wichtig. Ihr Projekt finanzierten die Entwickler zunächst aus eigener Tasche. Die Kosten waren auch dank der eigenen Computer, um die sich die Entwickler penibel kümmern, gering. Ab den ersten Einnahmen aus der Testversion musste niemand mehr seine eigenen Ersparnisse in das Projekt stecken. Marketing und Vertrieb übernahm das Studio selbst. Staatliche Unterstützung, abgesehen vom Erlass der Lohnsteuer, nahm Killhouse Games nie in Anspruch: „Es gibt zwar Subventionen, aber die sind primär für große Firmen gedacht“, meint Dimitrescu. Allein sie zu beantragen sei Zeitverschwendung. „Zuerst muss man sein gesamtes Vorhaben erklären und am Ende wird der Antrag dann doch abgelehnt. Ich habe ein unabhängiges Studio gegründet, damit ich mir Powerpoint-Präsentationen sparen kann.“ Er will Ideen sofort umsetzen.

Dan Dimitrescu erhält regelmäßig Angebote von Investorinnen und Investoren.

Krise

IT-Branche Paradox: Weil Rumäniens IT-Sektor so schnell wächst, droht eine Krise. Ein im Dezember erschienener Bericht von Romania Insider spricht von 50.000 Arbeitskräften, die dringend

Die Zukunft von Killhouse Games wirkt vielversprechend. Das renommierte britische Branchenmedium Rock Paper Shotgun krönte ihr Spiel Door Kickers zum besten Taktikspiel des Jahres 2014. Das Team um Dan Dimitrescu ist mittlerweile gewachsen und arbeitet bereits an einer Fortsetzung und neuen Projekten.

benötigt

würden.

Obwohl

weitere Ausbildungsstätten eröffnet werden, stößt Rumäniens Bildungssystem an seine Kapazitätsgrenzen und vermag die hohe Nachfrage nicht schnell genug zu bedienen.



39 Schlechte Arbeitsbedingungen und gesundheitliche Risiken – das kennzeichnet die rumänische Schuhindustrie. Mit handgemachten Schuhen will die Designerin Mihaela Glavan den Ungerechtigkeiten in der Branche etwas entgegensetzen. Text Christina Ozlberger

AUF FAIREN SOHLEN

„Niemand in Rumänien mag braune Schuhe“, so die Designerin Mihaela Glavan.

E

in Raum voller schwarzer Schuhe. Nur ein Paar rote High Heels tanzt aus der Reihe. Mit ihrer Arbeit distanziert sich Mihaela Glavan vom schlechten Image der Schuhindustrie in Billigproduktionsländern wie Rumänien: „Slow Fashion“ ist ihr Metier. Bei dieser Mode stehen Qualität und Nachhaltigkeit im Vordergrund, die faire Herstellung hat oberste Priorität.

Fotos Christina Ozlberger

Qualität statt billiger Massenware

Vor 15 Jahren begann Glavan Schuhe zu designen. Mit umgerechnet 200 Euro Startbudget baute sie ihre eigene Marke auf, heute hat sie 20 Angestellte und ist international bekannt. Die Nachfrage übersteigt derzeit das Angebot, bis März 2018 ist die Produktion ausgelastet. Glavan möchte expandieren, was jedoch eine Schwierigkeit birgt: „Die Modelle sind nicht leicht zu produzieren. Wir brauchen hochqualifizierte Arbeiter mit viel Kraft, da das Befestigen der Schuhsohle sehr anstrengend ist. Wir versuchen, Menschen für die Profession des Schusters auszubilden, haben dafür aber nicht die Kapazitäten.“ Denn Glavan ist es wichtig, ihren Angestellten ein gutes Gehalt zu bieten, weil die Löhne in der Branche meist zu niedrig sind, um eine Familie zu ernähren. Den Preis für billige Schuhe zahlen immer die, die sie produziert haben. Rumäniens Lederliebe

Glavan macht sich viele Gedanken über die verwendeten

In dieser Saison ist Schwarz im Fokus, in der nächsten werden es die Sixties sein.

Materialien. „In Rumänien gelten Schuhe als weniger gut, wenn sie nicht aus echtem Leder sind. Da bedarf es noch an Aufklärung“, so die Designerin. Beim Gerben von Leder entstehen giftige Stoffe, die gesundheitsgefährdend für die Arbeiterinnen und Arbeiter sind und die Umwelt stark belasten. Auch die Tiere, die für Schuhe ihr Leben lassen, beschäftigen sie. Im Jahr 2018 forciert sie deshalb die Verwendung von veganem Leder. Es besteht aus natürlichen Materialien, die so verarbeitet werden, dass sie echter Ledertextur verblüffend ähnlich sehen. Ob die Herstellung von veganem Leder tatsächlich besser für Umwelt, Arbeiterinnen und Arbeiter ist, weiß man noch nicht — denn auch hier werden Chemikalien eingesetzt. Glavan ist bemüht, immer das Beste für ihre Schuhe und die, die daran arbeiten, herauszuholen.


40 „WIR WOLLEN FREI SEIN“ Nach der Revolution in Rumänien wurden die Theater frei. Wo vorher nur staatliche Einrichtungen waren, haben sich viele kleine, unabhängige Bühnen gebildet. Doch diese haben es bis heute schwer.

K

lappe, die Erste. Spielort: Eine schäbige Straße in Bukarest. Andrei und Andreea Grosu gehen durch einen Hinterhof, vorbei an einer nackten Statue mit einem Spiegel vor dem Kopf, zu ihrem Theater Unteatru. Die Regisseurin und der Regisseur haben vor sieben Jahren eine freie Bühne gegründet, weil sie einen Ort „zum Herumspielen“ wollten, wie Andrei sagt. Nun haben sie eine Theatertruppe, mit der sie eigene Stücke produzieren oder klassische Stücke neu interpretieren: Heute Abend inszenieren sie Hamlet, aber nur mit drei Schauspielern. Da es für die freie Szene schwierig ist, an Subventionen zu kommen, betreiben die Grosus eine Bar, um ihre Vorstellungen zu finanzieren. Das funktioniert zurzeit aber nicht so gut: „Seit der Gründung sind wir auf der Suche nach einem Sponsor, der sich in unsere kreative Arbeit aber nicht einmischen sollte“, meint Andreea, „denn wir wollen frei sein in der Ausübung unserer Kunst“. Weil sie sonst nicht über die Runden kommen würden, arbeiten beide nebenbei beim staatlichen Theater in der Regie.

Fall des Kommunismus vor 30 Jahren boomten Universitäten, die Kulturwissenschaften anboten. „Auf vorher etwa 30 Absolventen im Theaterbereich kommen heute um die 600“, erklärt Irina Wolf, Theaterexpertin aus Bukarest. Da diese nicht alle bei staatlichen Institutionen aufgenommen werden können, haben sie neue Wege gesucht, ihre Kunst zum Ausdruck zu bringen. Doch obwohl es heute in Bukarest eine Vielzahl an staatlich unabhängigen Bühnen gibt, war der Anfang in dieser Off-Szene zäh. Denn nachdem Rumänien die kulturellen Grenzen zur Welt geöffnet hatte, schlitterte die Kunstszene in eine Krise. „Die Theaterschaffenden mussten zuerst verstehen, was die neue Freiheit bedeutet und wie sie diese umsetzen. Sie mussten sich neu erfinden“, sagt Wolf. Es dauerte eine Weile, bis die ersten freien Theater gegründet wurden und bis das Publikum für eine neue und teilweise kritischere Art von Theater bereit war. Näher am echten Leben

Andrei und Andreea Grosu sind nicht die Einzigen, die sich eine eigene Bühne geschaffen haben. Nach dem

Klappe, die Zweite. Spielort: Eine dicht befahrene Straße in Bukarest. Voicu Rădescu geht die Treppe in den gewölbten Keller hinunter, in sein Theater. Er ist der Typ

Fotos Anja Liedl, Rebecca Lehmann

Text Sheila Eggmann


41 Seit die Off-Theater montags geöffnet haben, wechselten die staatlichen Bühnen ihre Spielpläne und tun es ihnen gleich.

Andrei und Andreea finanzieren ihr Theater über Ticketverkäufe und Erlöse aus der Theaterbar.

„Unser Theater erzählt Geschichten aus dem Leben der Zuschauer“, sagt Voicu Rădescu über das Luni.

Begriffserklärung

Staatlich bis Privat Staatliche Theater werden von der Regierung finanziert. Sie unterliegen in Rumänien soweit der Zensur, dass sie sich nicht negativ über staatliche Institutionen oder Politik äußern

Weihnachtsmann mit Balkaneinschlag – groß, grauer Bart, gütige Augen. Ihn begleitet eine junge Frau, die sich als Rozana Mihalache vorstellt. Sie ist künstlerische Leiterin, aber auch Mädchen für Alles. Rădescu ist der Gründer und Inhaber des Teatrul Luni, zu Deutsch „Theater Montag”. Dieses Theater feierte vergangenen Dezember das 20-jährige Jubiläum als älteste, unabhängige Bühne in Rumänien. Es gab zwar schon vorher einige dieser Off-Theater, diese sind jedoch alle in Konkurs gegangen.

dürfen. Laut Andrei und Andreea Grosu wird teilweise aber auch bestimmt, was die Schauspieler anzuziehen haben, welche Requisiten zu verwenden sind oder mit welchen Theaterschaffenden ein Stück aufgeführt werden soll. Unabhängige oder freie Theater finanzieren sich selbst. Dies tun sie

Dass in den letzten Jahren immer mehr unabhängige Theater aus dem Boden geschossen sind, sehen Rădescu und Mihalache kritisch: „Es ist leider Mainstream geworden, ein Theater zu gründen“, sagt Mihalache. „Deshalb gibt es zurzeit viel zu viele kleine Orte, an denen nicht professionell gearbeitet wird. Einige besitzen nur eine Bühne, weil es hip ist.“ Rădescu erzählt, er selbst habe das Theater gegründet, um den Rumäninnen und Rumänen eine neue und frische Art von Kunst bieten zu können: „Unser Theater war von Anfang an näher am echten Leben als die staatlich inszenierten Stücke.“

größtenteils mit den Einnahmen aus Ticketverkäufen. Regisseure haben mehr Freiheiten, im Normalfall sind sie keiner Zensur unterworfen. Private Theater wiederum lassen sich von Sponsoren bezahlen. Diese überlassen im besten Fall die künstlerische Freiheit den Theaterschaffenden. Konsens besteht jedoch darüber, dass sich privat finanzierte Theater nicht negativ über ihren Geldgeber äußern sollten.


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DIE FIKTION IST DAS, WAS BLEIBT

Gabriela Adameşteanu wandelte auf einem Pfad, der sie zwischen Realität und Fiktion durch Rumäniens prägendste Jahre führte. Ein Leben zwischen Romanerfolgen und literarischer Abstinenz zugunsten des Journalismus. Text Tanja Unterweger it der Zeit habe ich erkannt, dass das Schreiben von Artikeln für mich nicht so interessant wie die Fiktion eines Buches ist.“ Aus Gabriela Adameşteanus Feder ist Tinte für beides geflossen – sie schrieb journalistische Beiträge und fiktionale Romane. Heute ist sie überzeugt, dass Artikel in Magazinen oder Zeitungen für kommende Generationen nur schwer verständlich oder sogar irrelevant sein werden. Denn diese Texte fallen aus der Zeit. „Ein Buch dagegen ist der Zeit gegenüber widerstandsfähiger – wenn es gut ist“, weiß Adameşteanu. Erfolgsautorin mit politischer Botschaft

Die heute 75-Jährige gehört zu den bekanntesten Literaturschaffenden Rumäniens, bereits im Jahre 1975 erschien ihr Debütroman Der gleiche Weg an jedem Tag. Die Autorin schildert darin das Erwachsenwerden der jungen Rumänin Letitia, in einer von kommunistischen Strukturen geprägten Gesellschaft. Ohne Einflussnahme und Zensur von Seiten der Regierung explizit zu benennen, beschreibt Adameşteanu deren Auswirkungen auf den Alltag der rumänischen Bevölkerung. Ihr Hauptwerk bildete der Roman Verlorener Morgen, der wenige

Jahre nach seinem Erscheinen im Jahr 1983 als landesweit erfolgreiches Theaterstück inszeniert wurde. Auch dieses Buch bleibt nahe am Erleben der Protagonistin, einer Frau aus der Arbeiterschicht. Im Zentrum beider Romane stehen die Details – wie Menschen um Brot Schlange stehen oder wie manche nicht mehr auf der Bildfläche erscheinen, weil sie aus politischen Gründen inhaftiert worden sind. Eine liberalere Phase des Kommunismus in den 70er-Jahren ermöglichte es rumänischen Autorinnen und Autoren, Literatur mit derartigen politischen Untertönen zu veröffentlichen. Adameşteanu beschreibt das Geschehen der damaligen Zeit, doch die Gefühle und Ängste der Hauptfiguren sind zeitlos. Ein neuer Weg an jedem Tag

Das Jahr 1989 markierte sowohl in der Geschichte Rumäniens als auch im Leben der Gabriela Adameşteanu einen Wendepunkt. Mit dem Ende des Kommunismus erhielt die Bevölkerung erstmals Zugang zu Informationen fernab jeglicher Zensur. Von der Welle allgemeiner Begeisterung für eine freie Presse erfasst, wurde Adameşteanu Journalistin – und mit ihr eine ganze Gene-

Fotos Verena Sophie Maier

M


43 Buchtipp ration Literaturschaffender. „Zahlreiche Autoren der Fiktion, Poeten und Prosaisten wandten sich genau wie ich dem Journalismus zu. Ich war kein Einzelfall.“ Gabriela Adameşteanu, die eine internationale literarische Karriere zugunsten aktueller politischer Artikel aufgab, sollte erst 2005 wieder zur Schriftstellerei zurückkehren. Nach dem Fall des kommunistischen Regimes 1989 widmete sich Adameşteanu zunächst ganz dem Kampf für einen freien Journalismus: „Ich wollte für den Aufbau einer unabhängigen Presse alles geben. Im Kommunismus hatten wir nicht einmal einen Bruchteil jener Informationen, die in anderen Ländern normal sind.“ Ein lebenslanger Kampf gegen Zensur

Bereits vor dem Ende des Kommunismus hatte sich die Autorin gemeinsam mit einer Gruppe Aktivistinnen und Aktivisten für einen demokratischen Dialog in Rumänien stark gemacht. Von 1991 bis 2005 leitete sie deren landesweit bekanntes Wochenmagazin Revista 22, ein Instrument zur politischen Bildung. In den folgenden Jahren verantwortete sie dessen Literaturbeilage, bis es 2013 zum endgültigen Bruch zwischen ihr und dem Blatt kam: Sie hatte sich vergeblich dafür eingesetzt, vermehrt jungen Redakteurinnen und Redakteuren als Stimme der Straße einen Platz im Magazin anzubieten. „Nachdem sich die Verantwortlichen dagegen aussprachen, die Beiträge dieser Autoren zu drucken, habe ich aufgehört mit

Gabriela

Adameşteanus

Debütro-

man Der gleiche Weg an jedem Tag ist auch in deutscher Sprache erhältlich. Das Buch erschien 2013 im Verlag Schöffling & Co.

ihnen zu sprechen.“ Adameşteanu wollte Menschen mit Ansichten Raum geben, die nicht die offizielle Linie des Magazins vertraten. „Ich akzeptierte keine Zensur. Das war meine Idee von Journalismus, nachdem ich lange Zeit unter der ständigen Zensur des kommunistischen Regimes gelebt habe: Ein Magazin ohne jegliche Zensur, in dem verschiedene Meinungen Platz finden.“ Damit begann die zweite Phase ihres literarischen Schaffens, in der Gabriela Adameşteanu sich um die Übersetzung ihrer Romane kümmerte. Sie veröffentlichte zudem zwei neue Bücher. Die Rückkehr zur Literatur sei das Beste gewesen, so die 75-Jährige heute. Letztendlich war es nach rund zwei Jahrzehnten Journalismus die Fiktion, die Bestand hatte. Gabriela Adameşteanus Hauptwerk Verlorener Morgen soll bald auch auf Deutsch erscheinen.


44 Roma leben meist am Rande der Gesellschaft und unter einfachsten Bedingungen. Der aus Österreich stammende Jesuitenpater Georg Sporschill will mit dem Verein Elijah diesen Menschen helfen. Text Johanna Wöß

PERSPEKTIVEN GEBEN D

as Lehmhaus der elfköpfigen Familie besteht aus einem dunklen Raum mit zwei Betten. Auf dem Kasten sitzen zwei Tauben. Ihr Kot ist im ganzen Haus verteilt. Überall stapelt sich das schmutzige Geschirr. Der Mittelpunkt des Hauses ist ein Lehmofen, der zum Heizen und Kochen dient. Rundherum versinkt der Hof im Morast. Die Kinder haben fettige Haare und dreckige Kleidung. Die Schwester schlägt ihren kleinen Bruder, der geht in den Garten und schlägt den nächsten Hund. Inmitten dieses Chaos hält die Mutter etwas hilflos ihr jüngstes Kind im Arm. Die Überforderung ist ihr ins Gesicht geschrieben. Sie kümmert sich alleine um die Familie, während der Vater Schafe in den Bergen hütet. Zwei ihrer Kinder leben ein paar Häuser weiter in einem Haus der Elijah-Gemeinschaft bei Georg Sporschill. In der Ferne leuchten die Gipfel der schneebedeckten Karpaten, ein paar Pferde grasen auf den Weiden davor. Inmitten dieser Idylle liegt das 800-Seelen-Dorf Holzmengen. Die Roma leben hier in einem Ortsteil, den sie „Dallas“ nennen. Ein Dorfbrunnen teilt das Dorf. Auf der einen Seite des Brunnens haben die Menschen Fließwasser, die Roma hingegen müssen

Fotos Christina Rebhahn-Roither

Die Roma aus Dallas


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Es ist schon alles gesagt über Roma, sodass nichts mehr hinzugefügt werden muss.“ Pater Georg Sporschill und zwei seiner Schützlinge: Janusz (links) und Florin, den alle Beatbox nennen.

ihr Wasser täglich vom Brunnen holen. Hier in „Dallas“ wurde der Verein Elijah von Sporschill und der ehemaligen Caritas-Mitarbeiterin Ruth Zenkert gegründet. Das Projekt fing klein an: Mit ehemaligen Straßenkindern aus Bukarest und nichts weiter als einer großen Tasche kamen Sporschill und Zenkert 2012 nach Holzmengen, da dort ein Haus zum Verkauf stand. „Es ist schon alles gesagt über Roma, sodass nichts mehr hinzugefügt werden muss. Die Frage ist nur, wer ihnen helfen kann“, fasst Sporschill die Situation der Roma zusammen. Etwa zwei Millionen Roma leben in Rumänien, der Großteil in ländlichen Gebieten. Selbst EU-Initiativen, die die Integration der größten europäischen Minderheit gewährleisten sollen, werden von rumänischen Roma-Experten, wie Valeriu Nicolae, als problematisch empfunden. Nicoale ist selbst Rom und gründete das Policy Center for Roma and Minorities in Bukarest. Auf seinem Blog kritisiert er, dass Strategien ohne Einbeziehung von Roma entworfen werden und es sogenannten Expertinnen und Experten an praktischer Erfahrung fehle. Selbstständig leben

Eine wirkliche Strategie verfolgt auch Sporschill nicht. Er wünscht sich nur, dass die Roma selbstständig ihr Leben meistern. Sporschill hat es sich zur Aufgabe gemacht, für Geld und Essen zu sorgen. Schon seit 1991 ist er in Rumänien tätig. Sporschill kümmerte sich jahrelang um Straßenkinder in Bukarest und war auch an der Gründung von CONCORDIA beteiligt, wo er sein Engagement fortsetzte, bis er im Jahr 2012 nach Holzmengen kam. Die anfängliche Skepsis des örtlichen Bürgermeisters ist inzwischen offenbar verschwunden: „Wir haben Narrenfreiheit. Der Bürgermeister ist mittlerweile froh über unsere Arbeit hier“, sagt Sporschill.

Auf der Terrasse des Sozialzentrums von Elijah versammelt der charismatische Pfarrer gerne seine „Ersatzfamilie“, um gemeinsam zu beten und zu essen. Einer seiner Schützlinge spricht meist das Tischgebet. „Das Einzige, was uns kein Problem macht, ist die Religion. Die Roma sind alle so fromm, dass es kracht“, sagt der 71Jährige mit einem Lachen im Gesicht. Neben der Terrasse entsteht ein Gemüsegarten – hier sollen die Einwohnerinnen und Einwohner etwas über Landwirtschaft lernen, um sich selbst versorgen zu können. Zudem können die Menschen im Dorf in einer Bäckerei, Tischlerei oder Metzgerei arbeiten. Das Herzstück bildet die Musikschule. Alle Projekte werden über Spenden finanziert. Musik verbindet

Ein junger Rom, der in Holzmengen mit den Kindern musiziert, ist Florin. Er ist als Sozialarbeiter bei Elijah angestellt. Vor elf Jahren kam er als Straßenkind in Bukarest zu CONCORDIA, 2013 ging er nach Holzmengen. „Alle hier nennen mich Beatbox“, erzählt er. Seinen Namen hat er sich verdient, weil er in seiner Freizeit versucht den Kindern im Dorf das Beatboxen beizubringen. Sie hören ihm zu und machen es dann nach. „Wichtig ist, dass es dir gefällt. Wenn dir etwas gefällt, dann lernst du leicht“, erklärt er. Kaum einer kennt Florins richtigen Namen. „Ich weiß, nicht alle haben so ein Glück wie ich, wenn sie mal auf der Straße waren“, erzählt er über seine Vergangenheit. Heute hat er sein eigenes Zimmer und verdient Geld. Wenn Florin über seine Zeit in Bukarest erzählt, wirkt er nachdenklich und ernst, denn er hat viel Elend auf der Straße gesehen. Er weiß, wie wichtig seine Arbeit ist. Mittlerweile kennt er alle Familien im Dorf und hilft, wo er nur kann. Aus dem ehemaligen Straßenkind ist ein aufmerksamer junger Mann geworden.


46 Musik spielt in der Kultur der Roma eine große Rolle. In der Musikschule in Holzmengen haben vor allem Kinder die Möglichkeit, ein Instrument zu lernen. Sie lernen nicht nur zu musizieren, sondern auch die Bedeutung von Disziplin – denn die Musikstunden sollen sie auf die Schule vorbereiten. In Rumänien gibt es zwar die Schulpflicht, doch „die Lehrpersonen sind froh, wenn sie nicht kommen“, sagt Sporschill. In der Schule seien Roma oft, nicht zuletzt wegen mangelnder Körperpflege, Außenseiter. Zwischen 80 und 90 Prozent der rumänischen Roma-Kinder gehen zumindest in die Volksschule, eine höhere Schule besucht jedoch nur jedes zehnte Kind. Arbeiten lernen

Nicht jeder in Holzmengen nimmt die Projekte des Vereins positiv auf, erzählt einer der österreichischen Volontäre. Einige der Frauen würden lieber zu Hause bleiben, um Kinder zu bekommen, als etwas zu lernen. Wird die Hilfe jedoch akzeptiert, hätten die Roma gute Chancen, in der Stadt Arbeit zu finden, ist Sporschill überzeugt: „Jeder, der etwas kann, ist in Rumänien gesucht.“ Studien zeichnen ein anderes Bild: Zwar fehlen in Rumänien

Nicht alle Kinder in Holzmengen haben ein festes Zuhause. Janusz (Mitte) ist ein Straßenkind.

wegen der starken Emigration nach Westeuropa oftmals Arbeitskräfte, die Hälfte der Roma jedoch ist arbeitslos. Eine groß angelegte Studie der Soros Foundation Romania zur Lage der Roma in Rumänien aus dem Jahr 2011 kam zu dem Ergebnis, dass nur 10 Prozent regelmäßig einer Arbeit nachgehen. Hinzu kommt, dass Roma am Arbeitsmarkt heute noch Diskriminierungen ausgesetzt sind. Elijah versucht in kleinen Schritten, Roma-Familien aus ihrem Elend zu holen. Ein Projekt, das sich ein schier unmögliches Ziel gesetzt hat: in einem kleinen Dorf zwischen Roma und der restlichen rumänischen Bevölkerung Akzeptanz zu schaffen. In diesem Dorf hat Sporschill seine neue Heimat gefunden: „Es ist eine verkehrte Welt. Hier zusammenzuleben ist nicht immer ganz einfach, aber es ist ein Versuch.“



Fotos Christina Rebhahn-Roither, Isadora Wallnöfer, Filip Bošnjak

Ein Land durch das sich Karpaten und Donau ziehen, in dem Dörfer und Metropolen zur Heimat werden und Menschen auf Pferdewägen und in der U-Bahn zusammenrücken.

FACETTEN-REICH

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Die schicke Seniorin auf Städtetrip und die nachdenkliche Romni vor ihrem Haus vereint eines: ihre Heimat Siebenbürgen.


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Teures Blech und dunkles Holz sind Rumäniens Garagenstolz.


50

Beim Blick in die Ferne erscheinen glitzernde Kupferdächer und schneebedeckte Karpatengipfel.


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In der U-Bahn klingeln die Smartphones um die Wette, bei der Kutschfahrt ertรถnt nur das Klappern der Pferdehufe.




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Vom Land der Kleinbauernhöfe zum begehrten Tummelplatz großer Agrarbetriebe: Rumäniens Landwirtschaft ist ein beliebtes Investitionsziel. Konzerne sowie Privatpersonen beteiligen sich am Kampf um rumänisches Land, unter ihnen auch zwei österreichische Investoren.

Text Melanie Jaindl, Tanja Unterweger

S

o weit das Auge reicht sieht man Felder, dahinter ragen die Karpaten empor. Auf ihren Hängen wachsen zwei Drittel der letzten Urwälder Europas. Rumänien ist ein fruchtbares Land und das hat auch die Menschen hier geprägt: Die Agrar- und Forstwirtschaft ist im Vergleich zu anderen EU-Staaten stark, überdurchschnittlich viele Arbeitsplätze gibt es in diesem Sektor. Fast drei Viertel der landwirtschaftlichen Betriebe sind nicht größer als ein Fußballfeld – Rumänien scheint ein Land der Kleinbauernhöfe zu sein. Der Eindruck täuscht: Über 500.000 Hektar Ackerland und damit ungefähr die doppelte Fläche des Staates Luxemburg gehören den hundert größten Agrargesellschaften, die in Rumänien investieren. Wenige Unternehmen kontrollieren große Flächen Land und verdrängen kleinere Betriebe – das bezeichnet man als „land grabbing“. Der deutsche Begriff „Landraub“ suggeriert im Gegensatz zum englischen, dass insbesondere illegale Aktivitäten gemeint sind. Das Wort „grabbing“ kann nicht eins zu eins übersetzt werden.

Foto Holzindustrie Schweighofer

LANDRAUB

GERALD SCHWEIGHOFER Gerald Schweighofer, Eigentümer von Holzindustrie

Schweighofer, begann 2002 in Rumänien zu investieren. Heute besitzt er sechs Betriebe entlang der Karpaten und gilt als Marktführer in der Holzbranche. Holzindustrie Schweighofer ist umstritten: Das Unternehmen hat, angeblich ohne es zu wissen, illegal gerodetes Holz verwendet und ist bei der Verarbeitung des rumänischen Nadelholzes dominant. Fläche: rund 15.000 Hektar. Vertrieb: 80 Prozent des Holzes, das Holzindustrie

Schweighofer in Rumänien verarbeitet, wird in über 65 andere Länder geliefert. Legalität: 2014 wurde unter der Verantwortung von

Holzindustrie Schweighofer im Nationalpark Retezat illegal Holz gefällt. Deshalb wurde dem Unternehmen 2017 das Forest Stewardship Council (FSC), ein Zertifikat für nachhaltige Forstwirtschaft, entzogen. Als das Parlament 2014 ein Gesetz verabschiedete, das die Verarbeitung einer Holzsorte durch ein Unternehmen auf 30 Prozent des Gesamtbestandes limitierte, schrieb Gerald Schweighofer persönlich einen Brief an die rumänische Regierung. Er drohte mit rechtlichen Schritten, die auf dem Investitionsschutzabkommen basierten. Die Regierung setzte das Gesetz durch, trotzdem schätzen NGOs die Verarbeitung durch Schweighofer auf rund 40 Prozent. Nachhaltigkeit: Seitdem sich FSC von Holzindustrie

Schweighofer distanzierte, arbeitet das Unternehmen enger mit Umwelt-NGOs zusammen. Außerdem wird an einem GPS-Tracking-System für Lieferwagen gearbeitet, um den Ursprung des Holzes besser feststellen zu können. Für eine Kampagne pflanzt

Holzindustrie

sogar selbst Bäume.

Schweighofer

mittlerweile

Grafik Verena Sophie Maier

Auf den Flächen wird auch Raubbau betrieben, unter anderem durch Monokulturen und Rodungen. Dazu kommt, dass Spekulantinnen und Spekulanten ihre Felder brach liegen lassen und auf hohe Gewinne durch Weiterverkäufe hoffen. Doch nicht nur in Äcker, auch in Wälder und Gewässer wird in Rumänien gerne investiert. Zwei Österreicher gehören zu den bedeutendsten und umstrittensten ausländischen Investoren: Andreas Bardeau und Gerald Schweighofer.


55 Rumänien und Österreich schlossen 1996 ein zwischenstaatliches Investitionsschutzabkommen ab, durch welches Unternehmen die Regierungen verklagen können. Dieses Abkommen ist exemplarisch für die umstrittenen Schiedsgerichte, die auch für TTIP oder CETA geplant sind.

Laut Greenpeace werden stündlich 3 Hektar Wald in Rumänien gerodet. Das entspricht mehr als drei

ANDREAS BARDEAU

Fußballfeldern.

Als steirischer Honorarkonsul für Rumänien ist es Andreas Bardeaus Aufgabe, Rumäniens Interessen In Rumänien stieg die großflächige

Agrarbewirtschaftung

zwischen

2002 und 2010 um 3 Prozent, während

150.000

kleine

Bauernhöfe

verschwanden.

in der Steiermark zu vertreten. Laut NGOs hat er in Osteuropa jedoch vor allem die Interessen seiner

Bardeau Holding Romania im Blick. Er zählt zu den fünf größten Grundbesitzern in Rumänien. Die

Kleinbauernorganisation

Eco

Ruralis

wirft

Andreas Bardeau „land grabbing” vor. Die Interes-

32%

Im Jahr 2014 kam es zu einer Öffnung des

sen kleinerer Agrarbetriebe kämen zu kurz, zu vie-

Agrarmarktes für ausländische Unternehmen.

le Ackerflächen lägen in der Hand eines einzelnen

Europäische Firmen sowie Einzelpersonen

Investors. Bardeau möchte eine differenziertere

hatten ab diesem Zeitpunkt rechtlich gese-

Betrachtung der Situation. Andere Spekulantinnen

hen die gleichen Bedingungen wie nationale

und Spekulanten würden weite Flächen des rumäni-

Agrarunternehmen.

schen Ackerlandes brach liegen lassen, wohingegen

aller Farmen in der Europäischen Union werden in Rumänien betrieben.

Auswirkungen von Landraub Soziale Aspekte: Landraub vergrößert die Einkommensschere. Die ärmsten Gegenden Rumäniens liegen im Nord- und Südosten sowie im Südwesten. Jene Gebiete sind auch besonders stark von Landraub betroffen. Kulturelle Aspekte: Die Tatsache, dass Kleinbauernhöfe verkauft und aufgelöst werden, führt zu tiefgreifenden Veränderungen im Leben der Landbevölkerung. Traditionen und Wissen gehen verloren, die junge Generation zieht in die Städte des Landes. Umweltaspekte: Der Ankauf großer Agrarflächen führt zu zahlreichen Umweltproblemen. Ein Teil der Investorinnen und Investoren lässt Agrarflächen brach liegen, ein anderer Teil betreibt Raubbau. Rodungen führen zu Erdrutschen, das Gleichgewicht der Natur wird zerstört.

er das Land bewirtschafte und Arbeitsplätze schaffe. Tatsächlich entstanden bereits durch die Arbeit der

Bardeau Holding Romania rund 200 Jobs. Fläche: rund 21.000 Hektar Ackerland, was nahezu der Größe Bukarests entspricht. Kontrolle: 12.000 Hektar Land sind Eigentum der Holding, weitere 3.000 Hektar werden von kleineren Agrarbetrieben gepachtet. Die rumänische Regierungsorganisation Romanian Agency of State

Domains, welche sich um die Verwaltung von Agrarflächen in Staatsbesitz kümmert, verpachtet nochmals 5.800 Hektar an die Holding. Legalität: Allein im Jahr 2012 wurden gegen die

Bardeau Holding Romania 500 Gerichtsverfahren rund um Nutz- und Eigentumsrechte eingeleitet. Verurteilungen gab es nie. Laut Bardeau kam es zu den Verfahren, da Parzellen nicht sachgemäß übertragen und Grundbücher nachlässig geführt wurden.


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Das rumänische Dorf Geamăna im Apuseni-Gebirge wird in naher Zukunft von der Landkarte verschwinden. Seit rund 40 Jahren überflutet giftiger Schlamm aus der benachbarten Kupfermine die Häuser, Gärten und Wiesen. Text Anja Liedl

Foto Calin Stan/iStock by Getty Images

EIN DORF GEHT UNTER

Mittlerweile ist das versunkene Dorf Geamăna zu einer Touristenattraktion geworden. (Aufnahme: Juni 2017)


Fotos Calin Stan/iStock by Getty Images

57

D

ie Kirchturmspitze ragt aus grauen Schlammmassen hervor. Sie lässt erahnen, dass unter dem giftigen See ein gesamtes Dorf begraben liegt. Von den Wohnhäusern bis zum Friedhof – der Schlamm aus der Mine, mit dem größten Kupfervorkommen Rumäniens, hat alles geschluckt. Das Schicksal des Dorfes Geamăna wurde Ende der 1970er-Jahre besiegelt. Zu dieser Zeit nahm die Kupfermine Roșia Poieni unter dem kommunistischen Diktator Nicolae Ceaușescu ihren Betrieb auf. Das benachbarte Geamăna diente als Auffangbecken für die mit Zyanid verseuchten Rückstände des Kupferabbaus. Die rund 1.000 Bewohnerinnen und Bewohner mussten ihre Häuser verlassen, bevor der giftige Schlamm ihren Besitz ertränkte. Sie erhielten eine Entschädigung. Einige von ihnen blieben trotzdem und zogen in Häuser, die höher auf dem Hügel lagen. Sie sind die letzten, die noch hier wohnen. Ihre Kinder und Enkelkinder sind schon vor vielen Jahren weggezogen. Den Untergang vor Augen

Etwa zwei Dutzend Menschen leben heute in Geamăna. Sie versorgen sich großteils selbst, halten Kühe, Schafe, Schweine und Hühner, sammeln Brennholz und wer

einen Ofen hat, backt sein eigenes Brot. Täglich müssen die im Dorf Zurückgebliebenen mitansehen, wie orange-rotes Abwasser aus der Mine den 130 Hektar großen See immer weiter ansteigen lässt. „Die Menschen haben sich an den Anblick gewöhnt und in gewisser Weise an die gefährlichen Umweltbedingungen angepasst“, erzählt Björn Reinhardt. Der deutsche Dokumentarfilmer lebt heute in Rumänien und hat einen Film über das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner gedreht. Die Mine sei immer noch aktiv, auch wenn der Abbau zurückgehe. Bis auch die Kirche vollkommen verschwunden ist, sei es nur eine Frage der Zeit, schätzt Reinhardt die Zukunft Geamănas ein. Geamăna ist kein Einzelfall

Ein ähnliches Schicksal droht auch dem nur wenige Kilometer entfernten Dorf Roşia Montană. Es soll einer Goldmine weichen. Gegen das Minenprojekt einer kanadischen Firma und eines rumänischen Staatsunternehmens formierten sich 2013 landesweit Proteste. Das Projekt liegt seitdem auf Eis, noch ist unklar, ob es tatsächlich umgesetzt wird.


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Unter Ceauşescus Regime durften Rumäninnen und Rumänen weder Verhütungsmittel verwenden, noch abtreiben. Heute ist das Land eines der EU-Länder mit den meisten Abtreibungen und Teenager-Schwangerschaften. Für Expertinnen und Experten ist die Lösung Sexualaufklärung. Dabei stoßen sie auf Widerstand. Text Isadora Wallnöfer

I

m Wartezimmer der Prof. Dr. Panait Sârbu-Klinik sitzen Paare mit Kleinkindern auf dem Schoß, neben Frauen, die alleine darauf warten aufgerufen zu werden. Die Familienplanungsärztin Adriana Constantin berät in ihrem Sprechzimmer gerade eine junge Frau. Ihr Job ist es Menschen, vor allem Jugendliche, darüber aufzuklären wie sie verhüten, eine Familie gründen oder ein Kind abtreiben können. Ein Beruf, den es im kommunistischen Rumänien nie gegeben hätte.

Verbotene Verhütung, verbotene Abtreibung

Nach der Revolution 1989 entschied der damalige Gesundheitsminister, Bogdan Marinescu, dass in den Städten Rumäniens Familienplanungskliniken entstehen

sollen. Gleichzeitig war er Leiter der Familienplanungsklinik, in der Constantin arbeitet. Dort hatten Frauen zum ersten Mal Zugang zu professionell durchgeführten Abtreibungen – ein Recht, das Rumäninnen davor nicht kannten. Denn 1966 führte Ceauşescu das „Dekret 770“ ein. Damit wollte er erreichen, dass die Bevölkerung um zehn Millionen Menschen wächst. Abtreibungen und Verhütungsmittel waren verboten. Wer Geld hatte kaufte am Schwarzmarkt Verhütungsmittel. Doch viele konnten sich das nicht leisten. Familien verarmten, weil sie Kinder bekamen, für die sie nicht sorgen konnten. Andere ließen ihre Neugeborenen im Krankenhaus zurück oder schickten sie in Waisenhäuser. Je mehr Zeit unter dem Dekret verging, desto überfüllter und herunter-

Fotos Isadora Wallnöfer Recherche Isadora Wallnöfer, Johanna Wöß

SEXUALKUNDE: ZWISCHEN TABU UND PFLICHT


59 Hinter der linken Tür lassen sich Schwangere behandeln, hinter der rechten klärt Adriana Constantin junge Frauen auf.

gekommener wurden diese Waisenhäuser (Lesen Sie mehr darüber auf den Seiten 61 bis 63). Aus Verzweiflung versuchten Frauen ihre Schwangerschaften selbst abzubrechen. Andere gingen zu illegalen Helferinnen und Helfern. „Wenn eine Frau kein Kind will, wird sie alles riskieren – auch ihr Leben“, so Constantin. Offizielle Zahlen des Gesundheitsministeriums berichten von mehr als 9.000 Frauen, die infolge improvisierter Abtreibungen starben. Die Dunkelziffer soll aber wesentlich höher sein. Bereits in der Zeit nach der Revolution war Constantin als Ärztin tätig. „Damals gab es Tage, an denen 30 bis 40 Frauen zu uns kamen, um abzutreiben“, so die Gynäkologin. Schon damals klärte sie Frauen über Verhütung als bessere Option auf. Doch dieses Bewusstsein zu schaffen war offenbar nicht einfach. Zu lange fehlte die Erfahrung mit Verhütungsmitteln, meint Constantin. Im Jahr 2015 war Rumänien das EU-Land mit der höchsten Rate an Teenagerschwangerschaften und den drittmeisten Abtreibungen. Constantin sieht die Lösung in der Aufklärung der jungen Bevölkerung. Doch gerade in ländlichen Gegenden, ohne Familienplanungskliniken, sei das besonders schwer. Sexualkunde als Pflichtfach

Dasselbe Problem beschäftigt Gabriel Brumariu von S.E.C.S., einer Gesellschaft für Verhütung und Sexualerziehung. Die NGO finanziert sich über eigene Projekte und wird von der International Planned Parenthood Federation unterstützt. S.E.C.S. bringt Sexualkunde auch an Orte abseits der Familienplanungskliniken – wie die Kleinstadt Isaccea im Osten des Landes. Letzten Juni besuchte Brumariu dort Schülerinnen und Schüler einer Volks- und Mittelschule. Mit Gabriel Brumariu und seine Kollegin Carmen Şuraianu leiten die Sozialinitiative S.E.C.S.


60 ihnen besprach er Themen wie sicheren Geschlechtsverkehr, Schwangerschaft und Pubertät. Damals erzählte ihm das Lehrpersonal von drei Schülerinnen, die im letzten halben Jahr schwanger wurden. Vier Monate später kam ein freudiger Anruf aus Isaccea: Seit seinem Besuch wurde keine einzige Schülerin schwanger. „Das sind die Momente, in denen ich sehen kann, wie wichtig meine Arbeit ist“, bekräftigt Brumariu seine These, dass aufgeklärte junge Frauen seltener schwanger werden. Auch zahlreiche wissenschaftliche Studien beweisen das. Deswegen fordert Brumariu, dass Sexualkunde zum Pflichtfach an Schulen wird. „Sie haben Lügen verbreitet“

Doch in seiner Arbeit erfährt Brumariu auch Widerstand. Besonders von der Coaliția pentru Familie, zu Deutsch „Familienkoalition“. Die konservative NGO steht der orthodoxen Kirche nahe, kämpft gegen die Legalisierung von Homo-Ehen und fordert, dass Frauen bei Abtreibungen nicht mehr finanziell unterstützt werden. Sie stehen für traditionelle Familienwerte und den Schutz der Kinder. Darunter verstehen sie auch, dass Sexualkunde an Schulen tabu bleiben soll. „Sie haben Unwahrheiten verbreitet und unter anderem behauptet, dass ich Kindergartenkindern Sex erklären wolle. Das stimmt natürlich nicht“, so Brumariu über die Organisation. Derzeit bieten nur sehr wenige Schulen Sexualkunde als Wahlfach an. Im Herbst 2017 brachte die Coaliția pentru Familie

„Ich liebe meinen Job. Ich liebe es, Frauen helfen zu können“, sagt Adriana Constantin über ihren Beruf.

Im Studium lernten wir nichts über Verhütung. Das war strikt verboten.“

einen Vorschlag ein, der das Fach an Schulen gesetzlich verbieten sollte. Brumarius Arbeit mit Schülerinnen und Schülern wäre zur Straftat geworden. Der Antrag wurde abgewiesen. Für eine Stellungnahme war die Coaliția pentru Familie nicht bereit. S.E.C.S. führt nicht nur Workshops durch, sondern arbeitet auch mit Menschen aus dem Gesundheitssektor zusammen. Seit ihrer Entstehung im Jahr 1990 informierte S.E.C.S. bereits mehr als 18.000 Personen über sexuelle Gesundheit, Verhütung und Geschlechtskrankheiten. Unter ihnen war Constantin. „Im Studium lernten wir nichts über Verhütung. Das war damals strikt verboten“, so die Gynäkologin. Seit sie mit dem Medizinstudium begann, hat sich in Rumänien viel verändert. Die Zahlen der Teenager-Schwangerschaften und die der Abtreibungen sinken stetig. Constantin erzählt, wie sie ihren allerersten Patientinnen wieder begegnet ist, die damals noch nichts von Verhütung wussten. Heute kommen sie zur Beratung und bringen ihre Töchter mit.


61 IHR LEBEN WAR DIE STRAßE Ceaușescus Regime und seine staatlichen Massenheime haben dazu geführt, dass viele Kinder ihr Leben auf den Straßen Rumäniens verbrachten. Heute, 20 Jahre nach dem Fall des Kommunismus, hat sich die Situation verbessert. Es bleibt jedoch noch viel zu tun. Text Angela Bischof

D

Fotos Anna Eisner-Kollmann

aniel kann nicht ruhig sitzen. Der hagere junge Mann spielt nervös mit den Händen, zupft an seinen Ärmeln. Sein Blick wandert durch das Büro des Streetworkers. Hier in der Notschlafstelle findet er immer ein offenes Ohr, jemanden mit dem er reden kann. Auch in dieser kalten Novembernacht ist dort ein warmes Bett für Daniel frei. Vor dem Eingangstor der Notschlafstelle warten bereits einige Männer, um noch einen der Schlafplätze zu ergattern. Im Innenhof brennt ein Feuer in einer alten, rostigen Tonne. Wenn die Kleidung der Obdachlosen voller Läuse ist, wird sie hier verbrannt. Weil die Nachbarschaft es ausdrücklich gefordert hatte, grenzt ein Zaun das Grundstück von den umliegenden Häusern ab. Scheu blickt Daniel zu Boden und fragt den Streetworker neben sich: „Was darf ich denn alles erzählen?“ „Alles“, antwortet dieser ihm lächelnd. Jetzt huscht zum ersten Mal auch über Daniels Lippen ein Lächeln: „Es tut mir gut, darüber reden zu können.“

Daniel lebt seit seiner Kindheit auf den Straßen Bukarests.


62

Gegen lausbefallene Kleidung geht CONCORDIA mit Feuer vor.

Ceaușescus Kinderheime

Das Leben auf der Straße begann für Daniel, nachdem er als Kind aus einem staatlichen Heim geflüchtet war. Dort hatte er viel Gewalt erlebt – er wurde geschlagen, sexuell missbraucht und von älteren Kindern gedemütigt. Als er es nicht mehr aushielt, lief er zusammen mit anderen Kindern davon. Nach der Revolution flohen hunderte Kinder aus staatlichen Heimen, genaue Zahlen dazu sind nicht bekannt. Manche stiegen in Züge, die sie nach Bukarest brachten, wo der Nordbahnhof zum Treffpunkt der Straßenkinder wurde. Daniel begann, wie viele andere Straßenkinder auch, Drogen zu nehmen. Kokain, Haschisch oder andere teure Drogen konnten sie sich nicht leisten, also schnüffelten sie anfangs Lack oder Klebstoff, heute spritzen sich viele Düngemittel. Durch die Spritzen infizieren sie sich häufig mit HIV. Auch Daniel ist HIV-positiv. Immer wieder hat er versucht, von den Drogen wegzukommen, geschafft hat er es aber bislang nie. CONCORDIA – Hilfe von außen Durch Berichte in westlichen Medien wie in der New York Times wurden NGOs auch außerhalb Rumäniens auf die Straßenkinder aufmerksam. So nahm sich der Orden der Jesuiten in Österreich der Problematik an und schickte Pater Georg Sporschill zunächst für sechs Monate nach Bukarest, um mit den Kindern von der Straße zu arbei-

ten. Bald war für ihn klar, dass er eine permanente Betreuungsstelle aufbauen möchte und er gründete 1991 die gemeinnützige Privatstiftung CONCORDIA. „Damals waren in den staatlichen Heimen bis zu 50 Babys in einem Zimmer mit nur zwei Betreuerinnen, die keine Zeit hatten, sich um alle zu kümmern“, erzählt Fabian Robu. Der Rumäne war einer der Ersten, der mit Georg Sporschill zusammenarbeitete. Heute leitet er das CONCORDIA-Heim Casa Eva. In den 1990ern nahm er mit Pater Sporschill neben Kindern von der Straße auch Säuglinge auf, die von ihren Müttern nach der Geburt im Krankenhaus zurückgelassen wurden. Während des Kommunismus wollte Nicolae Ceaușescu nämlich das rumänische Volk wachsen lassen. Abtreibung und Verhütung verbot er (Siehe Seiten 58 bis 60), doch in der Bevölkerung konnte sich kaum eine Familie mehrere Kinder leisten. Der Guardian berichtete 2014, dass während des Kommunismus Plakate am Eingang der Heime diese Familienpolitik symbolisierten: Eine Frau, die mit ihrem Baby kommt und mit einem größeren Kind geht – um das Aufziehen kümmert sich der Staat. Nach der Sozialreform

Jugendämter gibt es erst seit 1997. Seitdem kommen Kinder vermehrt in Pflegefamilien anstatt in große Heime. Wie viele Kinder in kommunistischen Heimen untergebracht waren, kann nur geschätzt werden. The


63 Der Heimleiter Fabian Robu wollte eigentlich Priester werden.

Ich begleite die Jugendlichen vom Anfang bis zur Selbstständigkeit.“

United Nations Children‘s Fund Romania (UNICEF) und auch die internationale Organisation Hope and Homes for Children geht von 100.000 aus, die bis in die späten 1990er in staatlichen Heimen wohnten. Heute sind es nur noch 8.000, womit die Anzahl vermutlich bereits um über 90 Prozent gesunken ist, so Hope and Homes for Children. Die Organisation setzt sich dafür ein, dass bis 2022 keine Kinder mehr in Heimen untergebracht werden müssen. Die Casa Eva ist eine der Alternativen zu staatlichen Heimen. Hier betreut Fabian Robu die Jugendlichen, bis sie selbstständig leben wollen und können. Auch wenn der Staat sich mittlerweile besser um die Unterbringung elternloser Jugendlicher kümmert, ist es für Kinder aus sozial schwachen Familien sehr schwierig, nach der achtjährigen Pflichtschule einen Beruf erlernen zu können. Um ihnen trotzdem eine Zukunft zu geben, hat CONCORDIA 2009 eine eigene Berufsschule erbaut. Bildung für sozial Schwache

Zehn Minuten von Ploieşti entfernt liegt die Berufsschule mitten im grauen Nirgendwo. In der Ferne sind ein paar Häuser zu sehen. Das Grundstück erhielt CONCORDIA vom Staat, finanziert wird die Berufsschule – wie bei CONCORDIA üblich – durch Spenden, erzählt Christian Estermann. Er leitet die Berufsschule, in der rund 70 Jugendliche einen Beruf erlernen können.

Es gibt für diese Schule zahlreiche Bewerberinnen und Bewerber, nicht alle erhalten einen Platz. Obwohl Religion, Herkunft oder ethnische Zugehörigkeit keine Rolle im Aufnahmeverfahren spielen, stammt etwa die Hälfte der 14- bis 20-Jährigen aus Roma-Familien. Alle Schülerinnen und Schüler haben jedoch gemeinsam, dass sie aus sozial schwachen Familien stammen – das ist Voraussetzung für die Aufnahme an der Berufsschule. Die Möglichkeit, direkt an der Schule unterzukommen, macht die Ausbildungsstätte von CONCORDIA für diese Jugendlichen so attraktiv. Denn oft ist es die teure An- und Heimreise, die einer weiteren Ausbildung an einer staatlichen Schule für Kinder aus armen Familien am Land im Weg steht. Diese sind zwar kostenfrei, doch meist in Städten gelegen. Daniel gehört zu jenen ehemaligen Heimkindern, die nie einen Beruf erlernen konnten. Er durchwanderte zwar einige CONCORDIA-Einrichtungen, hat es aber bis jetzt noch nicht geschafft, sich ein geregeltes Leben aufzubauen. Nach wie vor ist die Straße sein Zuhause. Die Nächte verbringt er in der Notschlafstelle von CONCORDIA. Auch heute füllen sich ihre Gänge, denn der Nachtwächter hat die Türen geöffnet. Ein Bett nach dem anderen wird für diese kalte Nacht vergeben.


64

ZUCKER, HONIG UND MUTTERMILCH


65

Cassandra (links) und Mihaela empfangen Kundschaft häufig auf den Thronen im Vorzimmer ihres Hauses.

Wer als Tochter einer Hexe geboren wird, ist auch eine Hexe.“

In einem Haus am Stadtrand von Bukarest leben und arbeiten drei Generationen von Frauen unter einem Dach. Bratara, Mihaela und Cassandra sind Romnija und Hexen. Ein Besuch bei drei Frauen, die zwischen Diskriminierung, Social Media und uraltem Handwerk ihren Platz in der Welt suchen. Text Ricarda Opis Dolmetscherin Teodora Ungureanu

Fotos Anna Eisner-Kollmann, Teodora Ungureanu

A

n der Mauer eines rot gestrichenen Hauses in Mogoșoaia weht ein Plakat sanft im Wind. Darauf ist eine Frau mit schwarzem Kopftuch zu sehen, die ihre Finger mit perfekt manikürten Nägeln über einer Kristallkugel spreizt. „Ich bin die mächtigste Hexe Europas“ steht darüber. „Kontaktieren Sie mich auf Facebook oder WhatsApp.“ Mihaela Minca steht neben ihrem überlebensgroßen Abbild und lächelt freundlich. Ihr schwarzes Haar ringelt sich unter dem Tuch, das sie um den Kopf geschlungen trägt. Um ihren Hals klimpern kleine goldene Münzen an einer Kette. In dem Haus hinter ihr lebt und arbeitet Mihaela gemeinsam mit ihrer Tochter Cassandra und ihrer Schwiegermutter Bratara Buzea. Die drei Frauen sind die bekanntesten Hexen Rumäniens. Cassandra, eine schöne, zurückhaltende junge Frau, wartet auf der Veranda vor dem Haus. Auch sie trägt ein Tuch über dem Haar, rosa mit goldenem Muster. Bald soll sie die Nachfolge ihrer Großmutter Bratara antreten, dem Oberhaupt der Familie. Bratara ist 70 Jahre alt, eine kleine Frau mit hellen Augen und rauer Stimme. Ihr verwegenes Auftreten brachte ihr mediale Aufmerksamkeit und den Titel „Königin der Hexen“ ein. Jetzt zieht sie sich langsam zurück und legt ihr Erbe in die Hände ihrer 19-jährigen Enkelin Cassandra.


66 Flüche für die Steuerfreiheit

Alleine in Bukarest sind Schätzungen zufolge 40 Hexen tätig. Die Frauen stammen wie Mihaela, Cassandra und Bratara meist aus dem Volk der Roma. Sie stiften und lösen Ehen, verfluchen ungeliebte Menschen und sagen die Zukunft voraus. Das Handwerk wird traditionell von einer Generation zur nächsten weitergegeben. „Wer als Tochter einer Hexe geboren wird, ist auch eine Hexe“, erklärt Mihaela. Diese Tradition rückt die Frauen in den Mittelpunkt ihrer Familien. Sie verdienen das Geld, während sich die Männer eher im Hintergrund halten. Auch Mihaelas Mann betritt während des Besuchs nur einmal den Raum und ist gleich darauf wieder verschwunden. Wie viele Hexen es insgesamt in Rumänien gibt, ist nicht bekannt, denn der Beruf wird von der Regierung nicht offiziell anerkannt. Dadurch sind die Frauen auch von der Einkommenssteuer befreit, was ihr Geschäft

lukrativ macht: Je nach Art des Zaubers verlangen sie bis zu einem rumänischen Monatslohn für ihre Dienste. Über die genauen Preise bewahren die meisten Hexen aber Stillschweigen. Ende 2010 wurde darum ein Gesetzesentwurf vorgestellt, der vorsah, dass sie steuerpflichtig werden sollten. Viele von ihnen protestierten, so auch Bratara, die dem verantwortlichen Politiker Alin Popoviciu öffentlich androhte, ihm eine Querschnittslähmung an den Hals zu hexen. Wegen der Furcht einiger Politikerinnen und Politiker vor solchen Flüchen wurde der Vorschlag nie Gesetz: „Manche meiner Kollegen hatten Begegnungen mit Hexen. Sie zogen es vor, das Gesetz nicht zu verabschieden, weil sie Angst hatten, dass ihnen etwas passiert“, erzählte Popoviciu im Interview mit Broadly. Liebe hat ihren Preis

Cassandra greift nach zwei Rosen und beginnt, mit geübten Griffen, die Blüten abzureißen. Sie fallen sanft in

Die Herzen, die sie für ihre Rituale verwendet, holt Mihaela vom Fleischer.

Ob Barbiepuppen oder Bienenwachs: Bei Zaubern kommt eine bunte Vielfalt an Hilfsmitteln zum Einsatz.


67 die mit Wasser gefüllte Schüssel, die ihre Mutter auf dem Schoß hält. Mihaela stellt sie ab, greift nach einem Einmachglas, das eine grobkörnige, weiße Paste enthält, und hält es gegen das Licht. „Hier drin“, erklärt sie, „sind Zucker, Honig und Muttermilch.“ Cassandra nimmt das Glas und rührt die Paste mit einem Holzlöffel in das Wasser. Währenddessen streckt Mihaela ihre Hand über die Schüssel und beginnt, Zauberformeln aufzusagen. Ihre Stimme folgt der geschmeidigen Melodie des Romani, der traditionellen Sprache der Roma. An bestimmten Punkten bekräftigt sie das Gesagte mit „Amin“, also Amen, und einem angedeuteten Ausspucken. Dann hebt sie die Schüssel hoch und erklärt: „Dieses Wasser wird nun bei Sonnenaufgang, zu Mittag und bei Sonnenuntergang einem Ritual unterzogen. Wenn ein Mädchen zu uns kommt, das heiraten will, muss es sich mit dem Wasser drei Tage lang das Gesicht und den Körper waschen.“ Sie lehnt sich neben Cassandra auf der Couch zurück und lächelt zufrieden. „Dann wird ihr Leben schöner und heller und sie wird mit dem zusammen sein, den sie liebt.“ Zwischen Facebook und Kuhherzen

Auf dem Sofa neben Cassandra liegt ihr Smartphone in einer hellrosa Hülle. Sie zupft eine Rosenblüte von ihrem Rock und nimmt es wieder an sich. Social Media spielt in ihrem Arbeitsalltag eine große Rolle, denn über Facebook kontaktiert sie der Großteil ihrer Kundinnen und Kunden. Vor wenigen Tagen hat Cassandra die Facebookseite ihrer Großmutter übernommen und postet für die über 1.000 Abonnentinnen und Abonnenten regelmäßig Bilder von sich selbst bei der Arbeit. Auch Mihaela betreibt ihre eigene Seite. „Auf Facebook kontaktieren uns Menschen von allen Kontinenten. Es ist einfach und schnell“, erklärt sie. Per Direktnachricht senden die Kundinnen und Kunden den Hexen alle Informationen, die sie für einen Zauber benötigen. Meist reichen Namen und Geburtstage der betreffenden Personen für einen Blick in die Kristallkugel aus. Auch für telefonische Beratung sind die Frauen ständig erreichbar. Während Cassandra versucht, dem Erbe ihrer Großmutter und Social Media gleichzeitig gerecht zu werden, hatte Bratara in ihrem Alter mit ganz Anderem zu kämpfen. Unter dem kommunistischen Regime Ceauşescus war Hexenkunst verboten. Als junges Mädchen wurde Bratara inhaftiert und verbrachte mehrere Monate im Gefängnis. „Mama wurde festgenommen, weil sie die Tochter einer Hexe war. Da war sie noch ganz jung“, erzählt Mihaela. Doch obwohl die offizielle Diskriminierung nach dem Sturz Ceauşescus ein Ende fand, fühlt sich Mihaela noch immer benachteiligt: „Wir werden behandelt, als wären wir keine normalen Menschen. Aber die Leute, die öffentlich auf uns herabsehen, kommen dann im Geheimen zu uns und bitten um Hilfe.“

Um böse Geister zu vertreiben, wird oft ein Tier anstelle des betroffenen Menschen geopfert.

Mihaela schüttelt den Kopf und wendet sich dem nächsten Zauber zu. „Dieses Ritual vertreibt böse Geister und schlechte Gedanken“, erklärt sie. Auf einem Metalllöffel bringt sie etwas Bienenwachs zum Schmelzen und rührt es anschließend mit einer verbeulten Sichel und einigen Nägeln um. „Die müssen jetzt in das Herz eines Tieres gesteckt werden“, sagt sie, nimmt die Metallinstrumente an sich und geht hinaus in den Garten. Dort steht eine kleine Hütte, in der sich ein Kühlschrank und ein Gasherd befinden. Sie bückt sich und holt das Herz einer Kuh aus einem Kühlfach. Es ist so groß, dass sie es mit beiden Händen umfassen muss. Cassandra dreht die Gasflamme am Herd auf und beginnt, Sichelspitze und Nägel vorsichtig zu erhitzen. Dann reicht sie sie ihrer Mutter, die das heiße Metall in das rohe Fleisch bohrt, während sie Zauberformeln aufsagt. Der Geruch von Gas und verbranntem Fleisch zieht durch die Gartenhütte. Das durchbohrte Herz legt Mihaela in ein Glas und übergießt es mit Kerzenwachs, das sich zischend darauf verfestigt. „Fertig“, sagt sie dann zufrieden lächelnd. „Jetzt brauche ich eine Pause.“


68

I In Rumänien leben die meisten Braunbären Europas, mit Ausnahme von Russland. Immer wieder kommt es zu Konflikten zwischen Mensch und Tier. Die Regierung hat deshalb, knapp ein Jahr nach dem Verbot der Trophäenjagd, bis zu 140 Bären zum Abschuss freigegeben. Das löst einer NGO zufolge aber nicht das Problem. Text Anja Liedl

ch spürte, wie der Boden bebte“, berichtet Gabriel Paun, Geschäftsführer der rumänischen Umweltschutzorganisation Agent Green von seiner Begegnung mit einem ausgewachsenen Bären. „Aber als ich dem Bären dann im Wald gegenüberstand, rannte er davon.“ Noch haben die Tiere offenbar Angst vor Menschen und Paun fände es gut, wenn das so bliebe. Denn: „Sobald sich ein Bär an Menschen gewöhnt hat, ist es zu spät.“ Dann wird das Tier getötet, weil es sonst für den Menschen zu gefährlich wäre. Gabriel Paun versucht deshalb alles dafür zu tun, dass die Bären in den Wäldern bleiben. Immer öfter wagen sich die Tiere aus ihrem Territorium hervor. Sie plündern Mülltonnen von Dörfern am Waldrand, reißen Vieh und kommen der Bevölkerung am Land gefährlich nahe. Knapp ein Jahr nachdem die rumänische Regierung die Trophäenjagd auf Bären verboten hat, verkündete Umweltministerin Grațiela Gavrilescu, dass 2017 bis zu 140 „Problembären“ umgesiedelt oder getötet werden dürfen. Die Pressestelle des Ministeriums begründet diese Entscheidung mit den zunehmenden Konflikten zwischen Mensch und Tier. Bürgerinnen und Bürger hätten das Ministerium aufgefordert zu handeln.

Fotos Katharina Brunner, Agent Green/Peter Levente Grafik Verena Sophie Maier

EIN BÄR IN MENSCHENNÄHE IST EIN TOTER BÄR


69 ANZAHL DER BÄREN

OFFIZIELL GEMELDETE ANZAHL

1000

IN DER STUDIE BERECHNETE MAXIMALE ANZAHL

Eine Studie* zeigt:

800

Es gibt einen Unterschied zwischen den berechneten, realistischen

Gabriel Paun kämpft mit seiner NGO Agent Green auch für den Erhalt der rumänischen Urwälder.

Wachstumsraten von Bären (untere Linie) und den offiziell angegeben Raten für die Bärenpopulation im rumänischen Kreis Covasna (obere Linie). Die Fragen sind: Vermehren sich Bären in

600

Foto Agent Green/Peter Levente

rumänischen Wäldern besonders gut? Oder nutzt die Regierung ihre (falschen) Zahlen, um

Foto Agent Green/Peter Levente

höhere Abschussraten zu rechtfertigen?

400

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

*Q Popescu, Viorel [u.a.]: Assessing biological realism of wildlife population estimates in data-poor systems. In: Journal of Applied Ecology, 4/2016. S. 1248-1259. (Untersuchungszeitraum: 2005 bis 2012).

Der Bär ist Opfer des Klimawandels „Der Mensch-Tier-Konflikt an sich ist nicht neu“, sagt Paun, doch die Umstände verschärfen sich. Unter anderem setzt das veränderte Klima den Tieren zu. Sie erwachen vorzeitig aus ihrem Winterschlaf – zu Zeiten, in denen sie in den Wäldern nichts zu fressen finden. So sind sie gezwungen, in naheliegende Dörfer aufzubrechen. Hinzu kommt, dass ihr Lebensraum zunehmend zerstört wird: In manchen Naturschutzgebieten wird etwa illegal Holz gefällt, dadurch verkleinern sich die Wälder (Lesen Sie mehr darüber ab Seite 54). Das Umweltministerium sieht diese Probleme. Verstärkt werden sie durch den nachlässigen Umgang mit Müll in Dörfern und durch Menschen, die immer mehr in den Lebensraum der Bären drängen, um Beeren und Pilze zu sammeln. Das Raubtier selbst hat keine Schuld, das wissen die Behörden. Trotzdem wird es zum Opfer der Verordnung. Ein Plan muss her

„Ohne einen Management-Plan, wie in der EU üblich, hat Rumänien keine Chance, Menschen und Bären zu schützen“, ist sich Paun sicher. Er ist überzeugt, dass ein Plan, der die Interessen der Bären und der Menschen berück-

sichtigt, unerlässlich ist, um das Fortbestehen der Bären und eine angemessene Population zu sichern. Es fehlt zunächst an Basis-Daten: „Derzeit wissen wir nicht, wie viele Bären es gibt.“ Die Berechnungen werden offenbar von jenen durchgeführt, die an der Bärenjagd interessiert seien. Deshalb würde die Anzahl an Bären höher geschätzt werden, als sie tatsächlich ist, vermutet Paun. Das Umweltministerium bestreitet das: Die offiziellen Zahlen kämen von Einrichtungen des rumänischen Staates, so antwortet das Ministerium auf eine Anfrage per Mail. Dem Ministerium nach sind es derzeit zwischen 6.050 und 6.640 Bären. Paun dagegen verweist auf eine Studie des Rumänen Viorel D. Popescu (Siehe Grafik), der sich am Institut für biologische Wissenschaften an der Ohio University aktuell mit dem Thema beschäftigt. Seine Forschungsgruppe geht davon aus, dass es in Rumänien weniger Bären gibt, als offiziell angenommen. Ein nationaler Plan, wie Agent Green ihn seit langem fordert, ist nach Angaben des Ministeriums gerade im Entstehen. Was er beinhaltet und wie lange es bis zur Umsetzung dauern wird, ist noch nicht bekannt.



71 W

WWW

Fleisch-ess-Lust: bit.ly/blank11kocht-mici

MICI

Foto Helena Meizenitsch

Text Helena Meizenitsch

as das Wiener Schnitzel in Österreich ist, sind in Rumänien die Mici – im Volksmund auch „Mititei“ genannt. Es handelt sich hierbei um faschierte Röllchen aus Rind-, Schweine- und Lammfleisch. Verfeinert wird das Nationalgericht Rumäniens mit Gewürzen, Kräutern und einer Spezialzutat: Natron. Deswegen ging es den Mici im Sommer 2013 beinahe an den Kragen. Der Grund war eine EU-Verordnung, die Natron als Fleischzartmacher verbietet. Damit die Mici von den EU-Standards ausgenommen sind, wurden sie kurzerhand in die Liste der traditionellen Rezepte aufgenommen. So können wir Mititei auch heute, 116 Jahre nach der erstmaligen Erwähnung in der Literatur, noch nach der traditionellen Rezeptur genießen. Gewöhnlich kommt die Grillspezialität mit Senf, Essiggurkerl, eingelegten roten Paprika, Kartoffeln und dem rumänischen Weißbrot Franzelă auf den Tisch.


72

BEVÖLKERUNG. Die 7,1 Millio-

WÄHRUNG. 119 Serbische Dina-

EU-BEZUG. Serbien ist seit 2012

nen Menschen in Serbien sind

ren (RSD) sind ein Euro. Obwohl

Beitrittskandidat und wird 2020

durchschnittlich 40 Jahre alt,

EU-Beitrittskandidat, plant Serbi-

möglicherweise Mitglied der EU.

Männer haben eine Lebenser-

en derzeit nicht den Euro einzu-

Diskussionen gibt es bezüglich

wartung von 72,6 Jahren, Frauen

führen.

Justiz, Medien und Rechtsstaat-

werden 78,5 Jahre alt.

lichkeit.


GESTRANDET Europa, kannst du Leben retten? Die Menschen, die aus fernen Ländern hierherkommen, gehen davon aus. Die Wahrheit trifft sie dann hart, wenn sie vor den verschlossenen Grenzen am Rand der Europäischen Union stehen. Nicht selten stranden sie in Balkanländern wie Serbien. In einer Schlange, die sich bis nach Griechenland zurückstaut, stellen sie sich an. Serbien wurde für die Flüchtlinge zu einer Insel, die sie nicht mehr verlassen können. Beschlossen wurde das von den Ländern, in denen die Flüchtlinge eigentlich Schutz suchen wollten. Länder, zu deren Bündnis auch Serbien gehören will. Das ist womöglich ein Grund dafür, dass sich der EU-Beitrittskandidat mit Kritik am Umgang mit der Flüchtlingsbewegung eher zurückhält. Aber trotz der Annäherung an die EU bandelt das ehemalige kommunistische Land auch mit dem „großen Bruder“ Russland an. Die Stimmung der Bevölkerung schaukelt hin und her, wie ein Boot auf hoher See.

REGIERUNG. Der ultranationalistische Aleksandar Vučić ist Präsident in der parlamentarischen Republik, Regierungschefin ist die parteilose Ministerpräsidentin Ana Brnabić.


74 DER LETZTE SAVAMALANER

Text Helena Meizenitsch, Carmen Oberreßl

H

och lebe Belgrad!“, feiert die Investmentfirma Eagle Hills das Motto ihres Megabauprojekts, bei dem luxuriöse Wohn- und Geschäftswelten entstehen sollen. Es sind keine zehn Schritte von einem verheißungsvollen Werbeplakat zum nächsten und von einer Belgrade WaterfrontFlagge zur anderen. Hoheitsvoll wehend weisen sie den Weg aus allen Richtungen zum Hauptquartier des Bauherrn am Ufer der Save, die eine natürliche Grenze zwischen Alt- und Neustadt zieht. Das Stadtbild der serbischen Hauptstadt ist geprägt vom Eagle Hills-Logo. „Das größte Plakat ist beim Bahnhof ohne Bewilligung angebracht. Obwohl das Plakat rund um die Uhr polizeilich bewacht wird, habe ich es geschafft, einen unserer Sticker anzubringen“, grinst Miloš Injac spitzbübisch. Er und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter von Let’s not drown Belgrade nutzen jede Möglichkeit, um ein Zeichen gegen die Gentrifizierung der Stadt zu setzen. „Recht-auf-Stadt-Bewegungen“, wie Let’s not drown Belgrade, wehren sich dagegen, dass Wohlhabende die ansässige Bevölkerung verdrängen. Undurchsichtige Milliardeninvestments ermöglichen Sanierungen und Umbauten, ohne eine potentielle Bürgerbeteiligung. Die Belgrader Aktivistinnen und Aktivisten stehen für ein weltweit erwachendes Bewusstsein gegen diese extreme Form von Stadtentwicklung.

Geld und Habgier regieren Belgrad

Miloš Injac ist eigentlich Sales- und Marketing-Berater und führt seinen eigenen Ein-Mann-Betrieb: „Wegen meines intensiven Engagements für unsere Organisation schrumpft meine Firma derzeit“, erzählt er. Bevor Miloš einen Newsletter der Bürgerbewegung erhalten hat, waren ihm die Brisanz und die Hintergründe des Belgrade Waterfront-Projekts nicht bekannt. Denn über die negativen Folgen des Projekts, die Kritik daran und über mögliche Gesetzesverstöße, berichten die regierungstreuen Massenmedien nicht. Weil Miloš mitentscheiden will, wie sich das Gesicht „seines“ Belgrad entwickelt, schloss er sich dem Kernteam der Gegnerinnen und Gegner des Projekts an. Sie werfen den Verantwortlichen und führenden Politikerinnen und

Fotos Boris Böttger, Anna Eisner-Kollmann, Eagle Hills und Let’s not drown Belgrade

Mit Milliarden aus Abu Dhabi lassen Scheichs und serbische Politiker in Belgrad einen neuen Stadtteil entstehen. Dafür wurde ein Bezirk an der Save dem Erdboden gleichgemacht. Mitunter auch durch den Einsatz roher Gewalt. Seit 2014 organisiert die Initiative Ne da(vi)mo Beograd (Let’s not drown Belgrade) Kampagnen und Proteste gegen dieses umstrittene Projekt.


Foto Let’s not drown Belgrade

75

Politikern Intransparenz, Geldwäsche und Amtsmissbrauch vor. Bis heute haben die Mitglieder der Initiative Let’s not drown Belgrade über 300 Klagen im Zusammenhang mit dem Bauvorhaben gegen offizielle Stellen eingereicht. Mit der Argumentation der Staatsanwaltschaft, die Vorwürfe wären haltlos, kam es jedoch nie zu einem Strafverfahren. Bevor Eagle Hills begann, den Bauplan in die Tat umzusetzen, war Savamala Heimat für mehr als 200 Familien. „Verblieben ist ein letzter Mohikaner“, deutet Miloš auf das einzig erhaltene Haus des alten Viertels im historischen Stadtteil. „Früher gehörte Savamala zu den Handelszentren Belgrads. In den letzten Jahren hat sich das Quartier in einer ersten Gentrifizierung von einem heruntergekommenen Viertel zu einem Treffpunkt für unabhängige Kunstschaffende entwickelt.“ Die ersten Bewohnerinnen und Bewohner wurden im April 2016 durch eine gewaltsame Räumung vertrieben. Vermummte Schlägertrupps – laut Miloš zurückzuführen auf die Stadtregierung und von der örtlichen Polizei gedeckt – demolierten in einer Nacht- und Nebelaktion ein Café, ein Unternehmen und einige private Häuser.

„Čiji grad? Naš grad!“ („Wessen Stadt? Unsere Stadt!“), rufen die Demonstrierenden.

Bauprojekt

Waterfront Belgrade Waterfront wurde gemeinsam von der serbischen Regierung und dem Hauptinvestor und Inhaber von Eagle Hills, Mohamed Alabbar aus Abu Dhabi, angestoßen. Geplant sind Wohnungen, Hotels, Geschäftsräume, ein Shoppingcenter und das neue Wahrzeichen Belgrads: der Kula Belgrade, ein 168 Meter hoher Wolkenkratzer. Nach offiziellen Angaben werden 3,5 Milliarden Euro investiert. Die Initiative

Entchen schwimmen auf der Save

Let’s not drown Belgrade zeigt die

Um gegen diese Willkür anzukämpfen, gingen Zehntausende auf die Straßen. „Das ist mein Lieblingsgegenstand zum Demonstrieren“, erzählt Miloš und zieht eine gelbe Fahne mit der Fratze einer zornigen Ente aus dem Durcheinander des Lagerraums. In den letzten Jahren haben die Aktivistinnen und Aktivisten bei ihrem zentralen Treffpunkt nahe der Baustelle ein Sammelsurium an selbstgebasteltem Kleinkram zusammengetragen. Zum eigentlichen Star jedes Auftritts hat sich aber eine

dubiosen Machenschaften im Hintergrund des Projekts auf.


76

Miloš ist Teil des 20-köpfigen Kernteams der Waterfront-Gegeninitiative.

Unser Ziel ist es, dass die Timotijevićs hier wohnen bleiben können, oder zumindest eine angemessene Abfindung bekommen.“

Der Masterplan der Baufirma für das neue Stadtbild Savamalas.

aufblasbare gelbe Ente entwickelt. Das riesige Widerstandssymbol findet keinen Platz mehr neben Schildern, Transparenten, Fahrrädern, Kübeln, Jacken und Verkehrstafeln und muss draußen bleiben. In der engen Rumpelkammer kann sich Miloš selbst kaum rühren. „Schon wieder diese verrückten Entchen!“, lästern diejenigen, die den Bau befürworten hinter vorgehaltener Hand. Das Logo auf Handyhüllen, Buttons und T-Shirts soll Belgrad vor dem Untergehen retten. Dieses Szenario wurde beinahe Realität, als die neu angelegte Promenade in die Save zu rutschen drohte. Seit dem Baustart von Eagle Hills ragt der Kai teilweise in die natürliche Flussgrenze hinein. Miloš zeigt auf die nassen Flecken und die aufgewölbten Pflastersteine der Gehwege. Direkt hinter der abgesackten Uferzone schießen bereits gewaltige Hochhäuser in den Himmel. „Die Wohnungen, die hier entstehen sollen, sind lediglich zum Angeben gedacht – oder zur Geldwäsche. Niemand wird hier wirklich leben“, ist Miloš überzeugt. Der frühere Bezirk Savamala ist einer Baustelle gewichen. Dutzende Kräne ragen in die Luft, Bauarbeiter bringen mit ihren LKWs Baumaterialien, Gerüste umzäunen die Rohbauten. Gebäude auf einer Fläche von beinahe


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Bis zum bitteren Ende…

Es riecht nach Beton und frischer Zitronenmelisse aus dem Garten der Familie Timotijević. Die vorbeifahrenden LKWs wirbeln Baustaub auf, der sich auf den letzten rot leuchtenden Paprika im Gemüsebeet legt. Direkt um ihr eingezäuntes Grundstück herrscht ununterbrochener Baubetrieb. Versteckt hinter der Gardine späht Frau Timotijević hervor. Die Tür bleibt geschlossen. Für ein Gespräch ist sie nicht bereit, auch wenn es dieses Mal keine Leute sind, die ihnen im Vorbeigehen mit Mord drohen, wenn sie ihr Heim nicht verlassen. Obwohl die Stadt zwischendurch Strom und Wasser abschaltete, hält

Sein Haus erarbeitete sich Ivan Timotijević hart – deshalb will er den Besitz nicht kampflos aufgeben.

die Familie durch. „Unser Ziel ist es, dass die Timotijevićs hier wohnen bleiben können oder zumindest eine angemessene Abfindung bekommen“, erzählt Miloš über die Mission von Let’s not drown Belgrade. ...und dann noch weiter

Der Einfluss der Initiative zeigt sich an den bis zu 40.000 Belgraderinnen und Belgradern, die vor allem seit der Räumungsnacht 2016 an den von Let’s not drown Belgrade organisierten Demos teilgenommen haben. Deshalb wollen die Hauptinitiatorinnen und -initiatoren auch bei den nächsten Gemeinderatswahlen im April 2018 antreten. Den Schritt in die Stadtpolitik wagen sie, um ungefilterten Zugang zu Informationen zu bekommen. Dadurch erhoffen sich die Mitglieder der Initiative mehr Kontrolle und die Möglichkeit, früher gegen Gentrifizierungen dieser Art intervenieren zu können. Ungeachtet der Kampagnen der Politikerriege gegen ihre Initiative sind sie von ihrem Einzug in den Gemeinderat überzeugt: „Dann geschieht nichts mehr ohne unser Wissen.“

Foto Eagle Hills

1,8 Quadratkilometern (circa 180 Fußballfelder) wurden vor Baubeginn abgetragen – nur ein Haus steht noch inmitten des heutigen Brachlandes. Ivan Timotijević und seine Familie wehren sich standhaft gegen Räumungsdrohungen und Einschüchterungsversuche, die sie zwingen sollen fortzuziehen. Timotijević hat zum Glück eine Besitzurkunde für Haus und Grundstück. Alle anderen Savamalanerinnen und Savamalaner konnten dies nicht vorweisen. „Bei uns ging es da früher etwas chaotisch zu“, erklärt Miloš. Für eine Entschädigung in der Höhe einer geschätzten Jahresmiete waren die ehemaligen Bewohner gezwungen, ihr Eigentum abzugeben.


78 Serbien ist EU-Beitrittskandidat seit 2013. Doch will das Land überhaupt zur Europäischen Union? Noch ist die Bevölkerung gespalten. Gehört man zum neuen Partner EU oder sucht man die Partnerschaft mit Russland? Text Markus Steinrisser

LIEBER GROßER BRUDER RUSSLAND


79 I

m gedämpften Licht des kleinen Cafés endet ein zweistündiges Gespräch mit einer klaren Ansage: „Wenn ich wählen muss, wähle ich Russland.“ Student Nikola Nikodinović zuckt mit den Schultern. Sein Statement erzählt aber nicht die ganze Geschichte – zwei Stunden lang hat sich Nikola über die Politik der serbischen Regierung beklagt und kaum etwas ausgelassen. Für ihn ist ein EU-Beitritt heute eigentlich unvorstellbar. „Wie soll Serbien mit diesen Ländern in einer Union sein? Wir haben ja nichts gemeinsam“, sagt er und wirft die Hände in die Höhe. Nikola würde eine Partnerschaft mit dem traditionellen „großen Bruder“ Russland einem Beitritt zur EU vorziehen: „Russland versteht unsere Kultur und wir hatten immer gute Beziehungen.“

Hilfe aus dem Osten

Foto Markus Steinrisser

Die Verbindung zwischen Serbien und Russland reicht schon lange zurück, mehrmals stellte sich Russland in Konflikten auf die serbische Seite. Gerade der militärische Eingriff der NATO im Jahr 1999, als mehrere serbische Städte von der westlichen Koalition bombardiert wurden, ist noch frisch im serbischen Gedächtnis. Russland verurteilte die Aktion und bis heute weigert sich die russische Regierung außerdem, den Kosovo als Staat anzuerkennen – wie es auch der serbischen Politik entspricht. Diese Entscheidung kommt besonders gut bei nationalistischen Gruppen in Serbien an. Das serbische Meinungsforschungsinstitut Demostat fragte im Sommer 2017 nach dem „besten Freund“ Serbiens, 41 Prozent der Befragten antworteten mit „Russland“. In den Einkaufsstraßen von Belgrad stehen Stände, an denen Händler Shirts mit dem Konterfei Wladimir Putins verkaufen. Mehrere serbische Orte haben den russischen Präsidenten mittlerweile zum Ehrenbürger erklärt, darunter die zweitgrößte Stadt Novi Sad. Um die guten Beziehungen zu unterstreichen, schenkte Russland dem serbischen Militär im Herbst 2017 sechs Kampfjets. Laut dem serbischen Ministerium für europäische Integration wird Russland von einem Fünftel der Bevölkerung als größter finanzieller Unterstützer gesehen. T-Shirts in Belgrad zeigen Bekenntnisse zur serbisch-russischen Bruderschaft.

Serbien darf nicht mehr nur auf sein Herz hören.“

PR-Meister Russland

Die Realität sieht aber anders aus: Die EU ist der größte Geldgeber. Sie hat für den Zeitraum von 2014 bis 2020 insgesamt 1,5 Milliarden Euro an Förderungen zugesagt, die schrittweise ausbezahlt werden. 2016 wurden unter anderem 35,8 Millionen zur Unterstützung des europäischen Integrationsprozesses bereitgestellt. „Russland investiert strategisch und sorgt dafür, dass die Wohltaten bekannt werden“, erklärt Igor Novaković. Er ist Forschungsdirektor des International and Security Affairs Center, eines Instituts, das sich mit den internationalen Beziehungen Serbiens beschäftigt. Novakovic unterstützt einen EU-Beitritt und in seinen Augen macht die EU ganz einfach schlechte PR. Viele wissen deshalb nicht, was im Land von der EU gefördert wird. Zwischen Herz und Hirn

„Serbien darf nicht mehr nur auf sein Herz hören“, meint Novaković. Er glaubt nicht an die von Russland beworbene Bruderschaft und verweist auf den serbischen Außenhandel: Über 60 Prozent findet mit EU-Ländern statt, unter zehn Prozent mit Russland. Entscheiden will sich Serbien auf politischer Ebene noch nicht. Wirtschaftlich verspricht zwar ein EU-Beitritt Vorteile, Russland bietet aber politischen Schutz, vor allem beim Kosovo-Konflikt. Die Regierung und Präsident Aleksandar Vučić versuchen daher lieber weiterhin den Spagat zwischen beiden Seiten, um keine Wählerstimmen zu verlieren. Während Vučić offen ein Fürsprecher der Beitrittsverhandlungen ist, will er zum Beispiel nicht, dass sich Serbien den EU-Sanktionen gegen Russland im Ukraine-Konflikt anschließt. Über die Zukunft ist sich die serbische Bevölkerung letztendlich unsicher. Das Meinungsforschungsinstitut Demostat erhob auch, in welchem Land Serbinnen und Serben eigentlich lieber leben würden – hier gab die Hälfte ein westliches Land an. 17 Prozent sprachen sich für Serbien aus und drei Prozent würden Russland bevorzugen – trotz aller Bruderliebe.


80 AFSAN MUSS WACHSAM BLEIBEN Tausende Menschen riskieren Schikanen, brutale Attacken und sogar ihr Leben, weil sie auf Menschenrechte und Asyl in der EU hoffen. Vor allem entlang der geschlossenen Balkanroute eskaliert die Gewalt gegen Flüchtlinge regelmäßig. In Belgrad erzählt Afsan, ein junger Afghane, über seinen schwierigen Weg. Text Melanie Jaindl s ist ein grauer Novembertag in der serbischen Hauptstadt. Während es sich viele Menschen im Warmen gemütlich machen, feiert Afsan im Bristol Park seinen 25. Geburtstag. Der Afghane fällt auf, wirkt anders: Die meisten Parkbesucherinnen und -besucher sind zweckmäßig und dunkel gekleidet, Afsan hingegen trägt einen weißen Perahan, ein traditionell afghanisches Gewand. Beinahe jede und jeder grüßt ihn hier im Park, der seit 2015 ein Hotspot für Flüchtlinge in Belgrad ist. Im selben Jahr kam auch Afsan nach Serbien. „Ich bin hier der Übersetzer, weil ich sieben Sprachen spreche. Mein Zielland ist Österreich, dort will ich als Dolmetscher arbeiten.“ Dass kein leichter Weg vor ihm liegt, weiß er bereits.

Fotos Verena Sophie Maier

E


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Ausharren – das hat Afsan perfektioniert. Regelmäßig versucht er den Grenzübertritt von Serbien in ein EU-Land.

Das Spiel des Lebens

Mit dem Bau eines Grenzzauns zu Serbien im Herbst 2015 hat Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán nicht nur ein Tabu der EU gebrochen. Dieser Bau brachte auch einen Stein ins Rollen, der schnell die südlichen Nachbarn, aber auch Österreich, erfasste. Der damalige österreichische Außenminister und jetzige Bundeskanzler Sebastian Kurz verbucht die Schließung der sogenannten Westbalkanroute als seinen Erfolg im Umgang mit der Fluchtbewegung. Die Entscheidung war EU-intern nicht abgesprochen und wurde von anderen Mitgliedsstaaten stark kritisiert. Diese arbeiteten zur selben Zeit an einer gesamteuropäischen Übereinkunft mit der Türkei, weitläufig bekannt als „Türkei-Deal“. Doch weder Grenzzäune noch Türkei-Deal können verhindern, dass Menschen vor Krieg, Not und Ausbeutung fliehen. So kamen laut der Internationalen Organisation für Migration auch 2017 Zehntausende über die Balkanroute nach Europa, einige von ihnen sitzen vorläufig

in Serbien fest. „Es gibt kaum legale Wege für Flüchtlinge, dieses Land zu verlassen und die, die bestehen, funktionieren nur in der Theorie“, sagt Andrea Contenta vom serbischen Ärzte ohne Grenzen-Team. „Der Grenzübertritt wird von Flüchtlingen als Spiel bezeichnet. Entweder du schaffst es oder du verlierst alles.“ Das weiß auch Afsan: „Ich habe es 56 Mal über die kroatische, 22 Mal über die ungarische, drei Mal über die rumänische und einmal über die bosnische Grenze versucht. Jedes Mal wurde ich geschlagen, mir wurden Handy und Geld abgenommen, manchmal sogar alles bis auf die Unterwäsche. Dann wurde mir aufgetragen, zurückzugehen.“ Das Abnehmen der Kleidung und Schuhe sei eine Methode, den Grenzübertritt schwierig bis unmöglich zu machen, sagt Contenta. Die andere EU

Wie Afsan wollen die wenigsten Flüchtlinge in Serbien bleiben. Er bekomme zwar Asyl, aber keine Arbeit. „Ich


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Im Lager gibt es Messerstechereien und Gewalt untereinander. Ich schlafe nachts maximal zwei Stunden.“ In schlaflosen Nächten denkt Afsan an seine verstorbene Frau Manisha.

brauche aber eine Lebensgrundlage.“ Außerdem kann man den Berichten des Office of the United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) entnehmen, dass die Anerkennungsquote für Flüchtlinge in Serbien sehr niedrig ist. Auch Rayan, ein anderer Junge aus dem Park, hat es schon mehrere Male über die Grenzen versucht. Sein Ziel ist Frankreich. „Obwohl diese Menschen von EU-Ländern kommen, wollen sie in andere EU-Länder reisen. Das ist ein großer Teil des Problems, denn keiner will in Rumänien oder Bulgarien bleiben. Ist das etwa eine andere EU?“, fragt Contenta. Afsan und Rayan waren zum Beispiel in Bulgarien, bevor sie nach Serbien kamen. Rayan verabscheut Bulgarien, dort hat er im Lager von Harmanli, nahe der türkischen Grenze, Furchtbares erlebt. Ende 2016 wurden rund 3.000 Menschen in dem Lager eingesperrt, darauf folgte ein Aufstand der Flüchtlinge, auf den die bulgarische Polizei mit Wasserwerfern und Schlagstöcken reagierte. Im Internet häufte sich Bildund Videomaterial von verletzten Flüchtlingen und den Übergriffen aus dieser Zeit. Auch Rayan zeigt uns seinen gebrochenen Finger und Bilder von Kopfverletzungen, die ihm während seines Aufenthalts in Harmanli zugefügt worden seien. Um Bulgarien zu umgehen, nutzen einige Flüchtlinge die Route über das Schwarze Meer nach Rumänien. Da aber Rumänien ebenso wie Serbien für sie nur als Transitland nach Ungarn und von dort in weitere EU-Länder gilt, droht Orbán mittlerweile, an der Grenze zu Rumänien einen weiteren Zaun zu errichten – sollte es der rumänischen Regierung nicht gelingen, die Einwanderung über das Schwarze Meer zu stoppen.

In Serbien harren währenddessen rund 5.000 Flüchtlinge aus. Sie hoffen auf die Weiterreise oder sind dabei, diese mit Hilfe von Schleppern zu planen. Für Afsan sind Schlepper gute Menschen, denn nur sie bringen ihn weiter. „Es ist ein klar kapitalistisches System. Es beruht auf Nachfrage und Angebot“, erklärt hingegen Contenta. Einige Flüchtlinge kehren auch nach Griechenland zurück. „Ich werde es wieder und wieder über die Grenze versuchen. Könnt ihr uns nicht helfen?“, fragt Rayan, sein Blick ist müde. Traum und Trauma von Europa

Zur Feier des Tages lädt Afsan uns auf Pizza und Cola ein. Auf dem Weg zum Pizzastand summt er ein Lied, trotz schwieriger Umstände hat er ein frohes Gemüt. Das ist mit ein Grund dafür, warum er nicht nur im Park, sondern auch in den Geschäften rundherum geschätzt wird. Die Pizzaverkäuferin freut sich über Afsans Besuch, sie unterhalten sich eine Weile. Mit der heißen Pizza setzt er sich schließlich an unseren Tisch, rührt sie aber erst an, als wir die Hälfte gegessen haben. Nach jedem verspeisten Stück besteht er darauf, dass wir ein weiteres nehmen, bis wir ihn endlich überzeugen können, selbst zuzugreifen. Als er auf seine Vergangenheit zu sprechen kommt, wird er ganz ruhig. Seine Frau und Kinder seien in Kabul bei einem Bombenanschlag des Islamischen Staats 2016 ums Leben gekommen, sagt er. „Als ich sie nicht mehr erreicht habe, ist mein Herz stehen geblieben.“ Bis auf seinen Onkel, der in Österreich lebt, ist ihm niemand geblieben. „Ich mag das Kämpfen nicht, ich will glücklich sein und Freundschaften schließen. Ein neues Leben, ein neuer Anfang.“


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Flüchtlingsbewegung

Europäische Übereinkünfte

Schließung der Westbalkanroute: Der Beschluss wurde im März 2016 von Österreich mit Kroatien und Slowenien sowie den Nicht-EU-Staaten Mazedonien und Serbien getroffen.

„Manchmal bleibe ich im Dschungel“, sagt Rayan. So nennen Flüchtlinge das Waldgebiet von Subotica nahe der Grenze.

Ziel: Die Grenzen zu schließen und somit die Fluchtroute für Flüchtlinge unattraktiv zu machen. Ergebnis: „Rückstaus“ in den Balkanländern, insbesondere in Griechenland, sowie damit verbundene humanitäre Krisen an den Grenzen

Jahrelange Flucht und das Leben in Lagern – das traumatisiert zusätzlich, neben den Erlebnissen, die überhaupt zur Flucht geführt haben. „Im Lager gibt es Messerstechereien und Gewalt untereinander. Ich schlafe nachts maximal zwei Stunden. Wachsamkeit, Wachsamkeit die ganze Nacht“, erzählt Afsan nun erschreckend ernst. Hinzu kommt die ständige Abweisung an den Grenzen. Ärzte ohne Grenzen veröffentlichte letztes Jahr einen Bericht über die dramatischen Ausmaße der Gewalt durch EU-Grenzschutzbehörden an jungen Flüchtlingen an der serbischen Grenze zu Bulgarien, Ungarn und Kroatien. In dem Bericht ist von „Schlägen, Hundebissen und dem Einsatz von Tränengas“ die Rede. Ebenso sind offenbar Mängel und Unterkühlung durch die oft tagelangen Fußmärsche ohne warme und trockene Kleidung ein großes Problem. Ganz davon abgesehen seien diese Menschen auch psychischer Gewalt ausgesetzt. Zu diesen Ergebnissen ist Ärzte ohne Grenzen mithilfe der Aussagen der Betroffenen und deren Verletzungen, die in einem wiederkehrenden Muster auftreten, gekommen. Mit einem mobilen Team leistet die NGO auch direkt an den Grenzen Hilfe. „Wir sollten wirklich über die psychischen Konsequenzen dieser Praktiken nachdenken, denn diese Menschen werden so oder so ein EU-Land erreichen und dort leben“, betont Contenta. Afsan wird den nächsten Grenzübertritt in vier, fünf Tagen versuchen.

und in den Flüchtlingslagern. Türkei-Deal:

Ebenfalls

im

März

2016 beschlossen, Abkommen aller EU-Staaten mit der Türkei. Ziel: Flüchtlinge werden von der Türkei an ihrer Küste aufgehalten, dafür werden von der EU bis zu diesem Jahr sechs Milliarden Euro zur Verbesserung der Lebensumstände für Flüchtlinge im Land bereitgestellt. Nicht-Asylberechtigte können von Griechenland wieder in die Türkei abgeschoben werden. Für jeden abgeschobenen

Flüchtling

wird

ein syrischer in der EU aufgenommen. Außerdem wurden türkischen Personen

Visa-Erleichterungen

in

Aussicht gestellt. Ergebnis: Soweit hält sich die Türkei an die Vereinbarung, jedoch sind die Verhandlungen über Visa-Erleichterungen durch die willkürliche Politik Erdoğans vorerst auf Eis gelegt.


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Rund 150 serbische Medien beteiligten sich im September an einem inszenierten Medienausfall.

Die Journalistinnen und Journalisten hinter der Organisation KRIK decken organisierte Verbrechen und Korruptionsfälle in Serbien auf. Die Schuldigen stammen meist aus den Reihen der Regierung. Diese wehren sich gegen die investigative Berichterstattung. Als Folge tobt ein verbaler Krieg in der öffentlichen Arena. Text Anna Rezk

I

m vierten Stock eines Wohnhauses in Belgrad arbeitet das sechsköpfige Journalisten-Team von KRIK, was so viel bedeutet wie „Schrei“. Die Redaktion ist gut gefüllt. Eine Gruppe dänischer Studierender will sich über die Arbeit des Kollektivs informieren. Besuche wie diese sind laut Redaktionsmitglied Jelena Vasić keine Seltenheit, denn KRIK genießt mittlerweile internationale Bekanntheit. Vor allem der Name des Chefredakteurs, Stevan Dojčinović, steht seit Monaten in den Zeitungen. Nicht etwa

Fotos Anja Liedl Grafik Markus Steinrisser

DER PREIS DES FREIEN JOURNALISMUS


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So wie Korruption über Landesgrenzen hinausgehe, arbeite auch KRIK international vernetzt, sagt Jelena Vasić.

unter seinen eigenen Artikeln, sondern auf den Titelseiten regierungsnaher Blätter, die ihn und seine Arbeit kritisieren. Vorne mit dabei ist die Boulevardzeitung Informer. Sie hat Dojčinović bereits als Terrorist, Spion des Westens und Sadomasochist bezeichnet. Der Grund? Er und sein Team decken die Skandale der Mächtigen auf. Mit der Regierung auf Kriegsfuß

KRIK ist auf Serbisch ein Akronym für Kriminalität und Korruption. Gleichzeitig ist der Begriff eine Aufforderung zum Schreien. „Wir wollen mit unseren Artikeln laut schreien, damit die Leserinnen und Leser die Wahrheit über ihr Land erfahren“, erklärt Vasić. Seit 2014 legte die Pressefreiheit in Serbien – laut Bericht der Freedom House-Organisation – eine ziemliche Talfahrt hin. Damals zog der amtierende Präsident Aleksandar Vučić als Premierminister in die Regierung ein. Kurz darauf fing er damit an, den Journalismus in Serbien zu kontrollieren und regierungskritische Medien zu diskreditieren, und damit auch KRIK. Für viel Aufsehen sorgte KRIK mit einer Geschichte über den Verteidigungsminister Aleksandar Vulin, der eine Wohnung gekauft hatte, aber keine glaubwürdigen Angaben zur Herkunft der 200.000 Euro machen konnte, mit denen er die Immobilie bezahlt hatte. Der Fall ging unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor Gericht. Vulin wurde freigesprochen, woraufhin Dojčinović den Fall auf KRIK veröffentlichte. Was folgte, war eine Denunzierungskampagne seitens der Regierung. Die Partei des Verteidigungsministers bezeichnete Dojčinović als „Drogenabhängigen, den man auf Suchtmittelkonsum testen müsse“. An die Beleidigungen der

Regierung hat sich KRIK aber bereits gewöhnt. „Wenn nach einer Geschichte wenig Backlash kommt, gehen wir davon aus, dass sie nicht gut genug war“, erzählt Vasić zynisch. Pressefreiheit, serbisch definiert

Allgemein gilt in Serbien die Pressefreiheit – sie werde auch im Rahmen der EU-Beitrittsgespräche großgeschrieben. „Allerdings scheinen die Repräsentanten des Landes nicht ganz zu verstehen, was Pressefreiheit wirklich bedeutet“, meint Vasić. Zu offiziellen Terminen in Brüssel nehmen die Regierungsmitglieder Kopien von Artikeln mit, in denen sie kritisiert werden, um zu beweisen, dass freier Journalismus in Serbien einen Platz hat. Dass Journalistinnen und Journalisten aber im Gegenzug attackiert und mundtot gemacht werden, bleibt unerwähnt. Um mehr Bewusstsein für die Situation des unabhängigen Journalismus in der Bevölkerung zu schaffen, haben im September 2017 rund 150 serbische Medienhäuser einen symbolischen Medienausfall organisiert. Dabei wurden Zeitungsblätter und Webseiten komplett eingeschwärzt, mit der Erklärung: „So sieht es aus, wenn es keine freie Presse mehr gibt.“ Einer der Auslöser für den inszenierten Medienausfall war, dass das angesehene investigative Blatt Vranjske novine unter massivem Druck seitens der Regierung eingestellt wurde. Die Steuerbehörde warf der Zeitung finanzielles Fehlverhalten vor, Beweise gab es allerdings keine. Grenzenloser Kampf um Freiheit der Medien

Aber nicht nur die serbische Pressefreiheit ist in Südosteuropa in Gefahr. In Rumänien etwa geben die Medieneigentümerinnen und -eigentümer den Ton an – statt


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Einige Journalistinnen und Journalisten haben den Schritt gewagt und ihr eigenes Medium gegründet, um frei von politischem Einfluss und unabhängig berichten zu können. Eines davon ist das Rise Project. So wie KRIK, gehört das Rise Project auch zum international vernetzten Organized Crime and Corruption Reporting Project. Der Online-Blog deckt regelmäßig Korruptionsfälle und Missstände in Rumänien auf. Im Gegenzug dazu muss sich das Team unangekündigte Redaktionsdurchsuchungen seitens der Behörden gefallen lassen. „Selbstzensur ist keine Option“

Auch das Team hinter KRIK spürt aufgrund seiner investigativen Geschichten die massive Staatsgewalt: Dazu zählt der Einbruch in die Wohnung eines Redaktionsmitglieds, bei dem lediglich ein Chaos hinterlassen, aber nichts entnommen wurde, sowie das Abhören und Veröffentlichen laufender Recherchen, die dadurch verworfen wurden. Allerdings ist es dem Staat offenbar nicht gelungen, die Journalistinnen und Journalisten von ihrer Arbeit abzuhalten. „Wenn ein Journalist damit anfängt, sich Gedanken darüber zu machen, ob er gewisse Inhalte lieber nicht veröffentlichen soll, um sich zu schützen, wäre es ratsam, dass er seinen Job wechselt. Es ist nicht möglich, investigativen Journalismus zu betreiben und sich dabei selbst zu zensieren“, erklärt Vasić. Zumindest auf EU-Ebene blieben die verbalen Attacken gegen Dojčinović nach der Geschichte über den Verteidigungsminister nicht unbemerkt. Aus einer Presseaussendung der EU geht hervor, dass die serbische Regierung daran erinnert wurde, dass im Rahmen der Beitrittsverhandlungen auch auf die Einhaltung der Pressefreiheit geachtet werden soll.

Vranjske novine erschien immer donnerstags. Nun steht bei den Wochentagen statt Donnerstag durchgestrichen „Vranjske“.

Screenshot Vranjske novine

wie in der freien Presse üblich die Redaktion. Ihr Anliegen ist es in der Regel nicht, den freien Journalismus zu fördern, sie nutzen die Medien meist, um ihre Eigeninteressen zu vertreten. Dies ist zum Beispiel beim rumänischen TV-Sender Antena 3 der Fall. Gegründet und geführt wurde der Sender vom rumänischen Politiker Dan Voiculescu. Dieser wanderte 2014 wegen Geldwäsche ins Gefängnis. Daraufhin bezeichneten prominente Journalistinnen und Journalisten des Senders die Justiz als korrupt und machten einfach weiter.


87 D WWW

Reis, Reis, Baby: bit.ly/blank11kocht-duvec

ĐUVEČ

Foto Katharina Brunner

Text Julia Czipoth

ie Oma hat es schon gekocht und geschimpft, wenn nicht aufgegessen wurde – das Reisfleisch. Vor allem in Südosteuropa ist das Schmorgericht aus Reis, Gemüse und Fleisch sehr beliebt und gilt in vielen Ländern als Nationalgericht, so auch in Serbien. Der Name stammt ursprünglich aus dem Türkischen und bezeichnet den Tontopf, in dem das Gericht traditionell zubereitet wird. Es gibt kein einheitliches Rezept für Đuveč. Die Zutaten variieren von Region zu Region, doch die Basis bildet immer Reis. Dieser wird mit geschmortem Gemüse vermengt, in Serbien hauptsächlich mit rotem Paprika und Zwiebel. Als letzte Zutat kommt gebratenes Fleisch hinzu, entweder vom Schwein, Rind, Lamm oder Hammel.


88 „Lass uns miteinander reden!“

„Beszéljünk!“

„Wie gefällt dir das Magazin BLANK11?“

„Hogy tedszik a BLANK11 magazin?“

Ungarn Ungarisch gehört zu den finno-ugrischen Sprachen, die der uralischen Sprachfamilie angehören. Dort schließt es an den ugrischen Zweig an. Anders als die meisten europäischen Sprachen gehört Ungarisch somit nicht zu den indogermanischen Sprachen.

„Lass uns miteinander reden!“

„Hajde da pričamo!“

„Wie gefällt dir das Magazin BLANK11?“

„Kako ti se dopada časopis BLANK11?“

Illustration und Recherche Filip Bošnjak

Serbien Serbisch gehört zum südslawischen Zweig der slawischen Sprachen. Obwohl man in Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Mazedonien, Montenegro und Serbien fast die gleiche Sprache spricht, will man dort, dass jede Sprache als eigenständig angesehen wird. Das liege an unterschiedlichen Religionen und politischen Orientierungen in den einzelnen Ländern, so Sprachwissenschafter Bernhard Hurch.


89 „Lass uns miteinander reden!“

„Hai să vorbim!“ „Wie gefällt dir das Magazin BLANK11?“

„Ce părere ai despre revista BLANK11?“

Rumänien

Rumänisch ist Teil des italienischen Zweiges der indogermanischen Sprachen. Laut Sprachwissenschafter Bernhard Hurch von der Karl-FranzensUniversität in Graz war die Strategie der Römer, ihre Provinzen zu romanisieren. Neben dem Slawischen hat kulturell wie sprachlich auch das Französische großen Einfluss in Rumänien.

LASS UNS MITEINANDER REDEN!

Wir durchreisten drei Länder mit unterschiedlichen Sprachen. Wir hörten genau hin und wollten wissen: Wie klingen die Sprachen? Woher kommen sie? „Lass uns miteinander reden“ heißt unser Lead-Satz, den wir in alle drei Sprachen übersetzt haben. Außerdem interessiert uns auf den letzten Seiten dieses Magazins: Wie hat Ihnen unser Magazin BLANK11 gefallen? Text Katharina Brunner, Helena Meizenitsch


Fotos Melanie Jaindl, Helena Meizenitsch, Christina Ozlberger

Streetart: Meist nicht kommerziell und illegal ziert sie die Städte dieser Welt. Der „bunte Vandalismus” bringt Farbe in so manch graue Stadt - eine Auswahl.

KUNST AUS DER DOSE

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Ungarn. Erzsébetváros, der 7. Budapester Bezirk, ist ein Hotspot für Straßenkunst in der ungarischen Hauptstadt.


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93 Der rumänische Künstler Pisica Pătrată schuf diese abstrakte grüne Katze.

Rumänien. Graue Fassaden und einsturzgefährdete Häuser werden in Bukarest durch bunte „characters“ aufgehübscht.


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Serbien: Wie die Fallschirmchen der Pusteblume wurde auch das Belgrader Viertel Savamala einfach weggeblasen. (Seite 74)


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Umweltkritik inmitten der BetonwĂźste.

In manchen Teilen Belgrads findet man mehr bemalte als unverzierte Mauern.


96 IMPRESSUM

Chefredakteurinnen: Katharina Brunner, Melanie Jaindl Online-Chefredakteur: Clemens Istel Art Director: Verena Sophie Maier Layout und Grafik: Filip Bošnjak, Rebecca Lehmann, Markus Steinrisser, Robert Szeberényi Textchefinnen: Sheila Eggmann, Ricarda Opis, Tanja Unterweger Chefin vom Dienst: Carmen Oberreßl Bildredakteurinnen: Angela Bischof, Anna Eisner-Kollmann Schlussredakteurinnen: Hannah Gössmann, Anja Liedl, Christina Rebhahn-Roither Online-Redakteurinnen: Anna Katharina Holzhacker, Anna Rezk, Isadora Wallnöfer, Johanna Wöß Anzeigen-Team: Julia Czipoth, Hannah Felbinger, Helena Meizenitsch Public-Relations-Leiterin: Kathrin Siebert Public-Relations-Team: Kathrin Hiller, Christina Ozlberger, Teresa Pichler, Franziska Schenner, Phillip Seiser, Nina Wiesmüller Texte: JPR15 Studiengangsleitung: FH-Prof. Mag. Dr. Heinz M. Fischer Dozentin für BLANK11: Mag. Phil. Ursula Kronenberger Grafik-Coaches: DI (FH) Franz Lammer, Margit Steidl BA, DI (FH) Christian Wiedner Lektorin: Tanja Gassler, FH JOANNEUM Verantwortlich i.S.d. Mediengesetzes: Mag. Thomas Wolkinger, FH JOANNEUM, Alte Poststraße 152, 8020 Graz Druck: Universitätsdruckerei Klampfer GmbH, St. Ruprecht an der Raab Bildcredits: Cover: Pexels/Donald Tong, Agent Green/ Peter Levente, Shutterstock/dvoevnore, Shutterstock/Predrag Mladenovic Collage Seite 14-15: Wikimedia Commons/ Christo, Pixabay/myersalex216, Európai Bizottság/Végel Dániel Collage Seite 28-29: Anna Eisner-Kollmann, Pixabay/12019 Grafik Seite 31: Shutterstock/Minerva Studios Collage Seite 72-73: Pixabay/Dimitro Sevastopol, Flickr/European People’s Party, Pixabay/Dimitris Vetsikas, Pexels/Miguel Á. Padriñán, Pixabay/JÉSHOOTS

Christina Ozlberger

Anna Rezk

Melanie Jaindl

Nina Wiesmüller

Johanna Wöß

Isadora Wallnöfer

Anna Eisner-Kollmann

Anna Katharina Holzhacker


97 Angela Bischof

Kathrin Siebert

Carmen Oberreßl

Sheila Eggmann

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REDAKTION

Julia Czipoth

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Christina Rebhahn-Roither

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Filip Bošnjak

Teresa Pichler


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Heilung und Hilfe als Ziel

Hilfe, die ankommt. Raiffeisenlandesbank Steiermark IBAN: AT68 3800 0000 0442 6300 BIC: RZSTAT2G

Eine gute Behandlung ist nicht genug ... Auf Initiative betroffener Eltern wurde die Steirische Kinderkrebshilfe im Jahr 1985 gegründet. Ziel war es und ist es bis heute, optimale Behandlungsvoraussetzungen für die jungen Patienten zu schaffen und deren Familien bestmöglich zu unterstützen.

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Steirische Kinderkrebshilfe Wickenburggasse 32, 8010 Graz Tel.: 0316 302142, E-Mail: stkkh@aon.at www.steirische-kinderkrebshilfe.at


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