"Evelina Cajacob. tanzen anders"

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Evelina Cajacob – von hier aus Stephan Kunz

41 ·

Die Zeit

Christine Pfammatter

89 ·

Meditationen über Bewegung Daniela Hahn

145 ·

Linie

Corinne Schatz

171 · Verzeichnis der abgebildeten Werke

174 · Biografie  /   B ibliografie

179 · Dank


Evelina Cajacob – von hier aus Das künstlerische Werk von Evelina Cajacob ist eng an ihre Person, ihre Geschichte, ihre Zeit, ihre Bewegung, ihren Raum, ihre Emotionalität gebunden. Das Dasein in der Welt prägt ihr Schaffen, auch wenn oder gerade weil sie keine explizite Erzählung sucht, sondern Grundlagen unseres Lebens in konzentrierter Gestalt formuliert. In ihren Objekten, ihren Zeichnungen und ihren Videoinstallationen ist Evelina Cajacob immer präsent, ohne sich selbst in Szene zu setzen. Im Zusammenhang ihres bisherigen Œuvres wird die Intensität der Auseinandersetzung spürbar. Wer sich darauf einlässt, ist fasziniert von der Eindringlichkeit dieses stillen Schaffens und der Weite der Gedankengänge, die davon ausgehen.

Vielleicht ist es symptomatisch für die künstlerische Haltung von Evelina Cajacob, dass sie erst jetzt eine Überblicksausstellung in einem Museum bekommt, obwohl ihr Werk sich mit bewundernswerter Kontinuität über bald 30 Jahre entwickelt hat: symptomatisch für ein konzentriertes und bewusstes Arbeiten, das sich nicht in den Vordergrund drängt und sich nicht ablenken lässt. Vielleicht ist es auch symptomatisch für einen Kunstbetrieb, der auf vermeintliche Selbstbescheidenheit oft zurückhaltend reagiert und wenig Mut zeigt, weil er den Anspruch verkennt, der in einem Werk wie demjenigen von Evelina Cajacob liegt. In Graubünden aufgewachsen, hat Evelina Cajacob den Ausbruch gesucht und ihre künstlerische Ausbildung in Barcelona absolviert. Da realisiert sie erste heute noch gültige Arbeiten: Objekte aus verschiedenen Materialien, die sie handwerklich verarbeitet und zu Räumen in Beziehung bringt, auch zum eigenen Körper. Sie zeigt dabei ein besonderes Interesse an den Eigenschaften der verwendeten Materialien und eine Sensibilität im Umgang mit ihnen. Schon allein die präzise Präsenz dieser fragilen Installationen im Raum offenbart die Entschlossenheit, etwas Feines und Fragiles selbstbewusst zu exponieren. Dass Evelina Cajacob schon zu Beginn ihres künstlerischen Schaffens formuliert, was sie bis heute beschäftigt, zeigt den klaren Impetus, mit dem sie ihr Werk angeht. Nach der Rückkehr in die Schweiz 1993 lebt und arbeitet Evelina Cajacob in Graubünden und hat hier zahlreiche Möglichkeiten für ausgewählte Werkpräsentationen oder Beteiligungen an Gruppenausstellungen, in denen ihre künstlerische Arbeit hohe Wertschätzung und Anerkennung erfährt. Der Schritt aus der lokalen Rezeption gelingt ihr 2010 mit der Videoinstallation HandArbeit, die sie für das Projekt Arte Hotel Bregaglia entwickelt (Abb. S. 77). Gerade die Beiläufigkeit dieser Arbeit hat es in sich: Der kleine Tisch mit den sorgfältig darauf gestapelten Geschirrtüchern ist in seiner Alltäglichkeit leicht zu übersehen – wäre da

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nicht die Filmprojektion, die zwei Hände zeigt, wie sie unentwegt Tuch um Tuch sorgsam zusammenfalten und dabei nie zu einem Ende kommen. Man bleibt fasziniert davor stehen, als ob man das noch nie gesehen hätte. So bewusst hat man jedenfalls diese Arbeit noch nie ausgeführt und vielleicht auch noch nie die meditative Qualität der immer gleichen Hausarbeit erkannt. Dieses Werk hat ikonische Bedeutung bekommen. Wer es gesehen hat, kann es nicht mehr vergessen. Es gibt künstlerische Arbeiten, die allein für ein ganzes Werk stehen können. Das gilt auch für die HandArbeit von Evelina Cajacob. Susanne Breidenbach, die Leiterin der Galerie m in Bochum, sieht die Arbeit im Bergell und erkennt ihre Qualität. Sie kontaktiert die Künstlerin, die sie zuvor nicht kannte, und lädt sie ein, das Werk an der Art Basel zu zeigen, wo es grosse Beachtung findet. Der Kunstpreis der Somedia, der Evelina Cajacob 2013 verliehen wird, die damit zusammenhängende vom Bündner Kunstmuseum herausgegebene erste monografische Publikation sowie der Beginn der Zusammenarbeit mit der international tätigen Galerie m sind schliesslich entscheidend für die weitere Rezeption ihres Werks. Das alles bestätigt und bestärkt die Künstlerin in ihrer Arbeit und trägt zu einer breiteren öffentlichen Wahrnehmung auch ausserhalb Graubündens bei. Die HandArbeit ist dennoch eingebunden in den Gesamtzusammenhang des Werks von Evelina Cajacob. Das Schaffen der Künstlerin in den letzten 30 Jahren zeigt überhaupt eine bemerkenswerte Kontinuität. Auch der Einsatz verschiedener Medien ist durchgängig, obwohl Evelina Cajacob mit Objekten und Installationen begann und heute die räumliche Arbeit als ihren Ausgangspunkt beschreibt. Zeichnungen tauchen bereits früh auf, das Video verwendet sie erst ab 2010. Heute aber steht alles selbstverständlich nebeneinander, greift so sehr ineinander, dass man nicht auf die Idee kommt, Werkgruppen nach Medien zu trennen. Die Themen sind verwandt, und die Sensibilität für die Materialien zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Werk. Es ist deshalb besonders reizvoll für die Ausstellung und die Publikation, die verschiedenen Arbeiten zusammenzustellen und auch die chronologische Reihenfolge immer wieder zu durchbrechen. Auffallend ist lediglich, dass der Aufenthalt in Gastateliers in Paris (1998), Potsdam (2006) und Wien (2017) jeweils zu intensiver Beschäftigung mit der Zeichnung führt und innerhalb einer Werkschau deshalb kleine, aber wichtige Inseln entstehen lässt. Das beginnt im Pariser Atelier, wo um 1998 eine erste dezidierte Zuwendung zur Zeichnung zu beobachten ist, die wohl damit zusammenhängt, dass die Künstlerin an diesem Ort weniger Platz zur Verfügung hat. Sie ist aber vielleicht ebenso aus der Möglichkeit geboren, konzentriert an einem Ort etwas zu schaffen, das für sich

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stehen muss und nicht für spezifische Räume gedacht ist, wie das Evelina Cajacob zuvor länger praktiziert hat. Auffallend ist in diesem Zusammenhang eine Poetisierung der Bildsprache, wenn aus dichten zeichnerischen Strukturen nicht nur bewegte Flächen wie Felle oder Pelze oder Gewebe wachsen, sondern sich quasi unter der Hand körperliche Wesen bilden. Diese sind so auf der Bildfläche angeordnet, dass sie zu schweben scheinen. Figur und Grund bleiben unverbunden und verstärken auf diese Weise den Eindruck einer geradezu surrealen Fremdartigkeit (Abb. S. 49–63). Das fällt vor allem im Vergleich zu einer anderen Werkgruppe auf, die gleichzeitig entsteht und in der die gezeichneten Linien nicht mehr als Strukturelement im Innern einer Figur kenntlich sind, sondern einen eigenen Wert bekommen: Knoten, Schlaufen, Geflechte geben den Linien immer neue Orientierung. Evelina Cajacob macht sich in diesen Zeichnungen erstmals den Bildraum zu eigen, der von den Linien und Linienbündeln umspielt wird (Abb. S. 45–47). Die neu entdeckte Räumlichkeit der Zeichnung manifestiert sich in der Folge in immer grösseren Formaten, auf denen Linienbündel wie Stoffbahnen oder Haarstränge tanzen, sich in Falten legen, um in anderer Richtung weiterzuziehen. Die Linien machen keinen Halt mehr an den Rändern des Blattes, sondern scheinen auf beide Seiten weiterzuverlaufen und damit Teil einer grossen, unendlichen Bewegung zu sein (Abb. S. 67–71). Es ist deshalb naheliegend, dass Evelina Cajacob das Papier als Träger verlässt und direkt auf die Wand und in den Raum zu zeichnen beginnt, um sich auch hier über alle Beschränkungen hinwegzusetzen und alles in Bewegung zu bringen und im Fluss zu halten: Stoffe, Falten, Landschaften, Dünen, Wellen, Meere … Als Betrachtende tauchen wir ein und schwingen mit, wenn wir die Bewegung der Linien mit den Augen nachvollziehen (Abb. S. 72–73). Die Zeichnung hat ihr angestammtes Gebiet verlassen – Evelina Cajacob dehnt sie in den Raum aus. Sie spricht von Zeichnungsinstallationen (vgl. Ausstellungsverzeichnis) und schlägt damit eine Brücke zu ihren früheren räumlichen Arbeiten. Die Zeichnung kann dabei zu einem Bindeglied ins Imaginäre werden. So erscheint sie zum Beispiel während der Ausstellung Arte Hotel Bregaglia in Promontogno erinnerungshaft wie ein Schattenbild über dem Bett (Abb. S. 118–119) oder belebt Galerie- und Museumswände mit pflanzlichen Motiven (Abb. 109, 117). Auf diese Weise weitet Evelina Cajacob den Raum nochmals in andere Dimensionen und eröffnet eine neue Zeitlichkeit, denn im Bereich des Imaginären gelten andere Gesetze. Raum und Zeit sind entscheidende Kategorien in der Konzeption der Videoarbeiten von Evelina Cajacob. Der Durchbruch gelingt ihr, wie erwähnt, mit der HandArbeit,

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die sie 2010 in einem Gang des altehrwürdigen Hotels Bregaglia entwickelt. An diesem Ort wird die Erinnerung an Vergangenes verstärkt, zugleich bleibt die Handlung in der ewigen Wiederkehr des Gleichen höchst gegenwärtig. Auch das kontinuierliche Aufrollen des Wollknäuels, das endlose Kneten des Teigs, das ritualisierte Waschen der Mangoldblätter für die traditionellen Capuns, das schicksalhafte Reissen und wieder Zusammennähen des Stoffes beschwören Hausarbeiten als archaische Gesten (Abb. S. 77–87). An spezifischen Orten wie dem alten Hotel, einem getäferten Zimmer, einer Berghütte oder in der völligen Dunkelheit des Ausstellungsraums finden diese Werke eine narrative Einbettung. Sie sind aber nicht daran gebunden und stehen auch autonom für sich, weil das, was sie zeigen, jenseits klarer Zuschreibungen in Raum und Zeit funktioniert. Das machen nicht zuletzt die beiden Videos WechselSpiel (2016) und BergZeichen (2017) deutlich, in denen die Künstlerin mit Bällen oder Seilen agiert, um in einer weitgehenden Reduktion eine Vielzahl von Beziehungen und Konstellationen zu erreichen. Wie in allen Videoarbeiten von Evelina Cajacob erscheint die Zeit darin nicht mehr als linearer Ablauf. So wie sie stattdessen zyklisch wahrgenommen werden kann, dehnt sie sich zuweilen gar ins Unendliche: Im Kneten des Teigs, im Waschen der Blätter, im Spiel mit den Kugeln und in der endlosen Anordnung der Bergseile gibt es keinen Anfang und kein Ende. Evelina Cajacob zielt damit nicht auf eine Reflexion abstrakter Kategorien, sondern sie knüpft immer an Vertrautem an und bindet ihre Arbeiten an ihre eigenen Erfahrungen, erdet sie. Was wir alle nachvollziehen können, regt uns an, das Alltägliche zu transzendieren. Wir erkennen darin Metaphern für das Leben und Modelle für unser Eingebundensein in die Welt – so nahe und so weit sie uns auch erscheint. Evelina Cajacob folgt dem Naheliegenden: Ihre Herkunft, das von Frauen geprägte häusliche Umfeld, der eigene Garten, der vertraute Wald und die Landschaft sind immer wieder Bezugspunkte ihrer Arbeit. Dabei findet sich nichts, was an Selbstbescheidenheit oder Selbstbeschränkung gemahnt, im Gegenteil: Evelina Cajacob öffnet die Räume nach innen. Wenn sie unseren Blick ganz nahe führt, zeigt sie uns zugleich, wie weit wir dadurch sehen können: Die Pusteblumen mit ihren äusserst feinen Samenständen verdichten sich zu einer unendlichen Kosmologie; der Blick ins Dickicht verfängt sich in einer Überlagerung verschiedener Strukturen, die uns immer wieder neu Distanz nehmen lassen; und wenn schliesslich in Uaul selvadi Positiv und Negativ ineinanderspielen, sind wir ganz auf der Bildebene angekommen, wo das Abbild nur eine weit entfernte Erinnerung bleibt und die Zeichnung eine eigene Realität schafft (Abb. S. 100–107).

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Das führt Evelina Cajacob wieder weg von den Naturbildern und lässt sie 2017 in Wien eine ganz eigene Poetologie entwickeln, in der alles enthalten ist, was sie bisher in ihren Zeichnungen beschäftigt hat. Man stelle sich die Künstlerin vor, die sich in einer leeren Wohnung an einen Tisch setzt und ihr Werk noch einmal neu erfindet: Blatt für Blatt. Sie hängt alle Zeichnungen auf, Wand für Wand füllt sie den Raum, den Korridor, vom Boden bis zur Decke (Abb. S. 142–143). In der Folge trägt sie die Zeichnungen in einem Buch zusammen: alles nichts besonders (2017/18). Wer diesen Atlas betrachtet, entdeckt, wie vielfältig Evelina Cajacob Zeichnung betreibt, was die Linien vermögen, wie sich Konstellationen bedingen. Man erkennt darin auch die unerhörte Liebenswürdigkeit, mit der Evelina Cajacob immer wieder neuen Ausdruck findet für feine Beobachtungen und alltägliche Gesten, die das Leben lebenswert machen: Bilder der Natur klingen an, Wachstumsformen, Nervenbahnen, Wasserwirbel, Zärtlichkeiten, aber auch freie Erfindungen. Das Spiel der Linien bewegt sich in die eine oder andere Richtung. Doch was ist die Linie? Auch sie wird immer wieder neu erfunden, sodass alles nichts besonders letztlich zu einem doch besonderen Buch über das Zeichnen geworden ist: nicht eine Gebrauchsanweisung, sondern eine assoziative Reihe formaler und inhaltlicher Möglichkeiten. Diese Zeichnungen wirken so eindringlich, weil sie so intim bleiben; sie wirken so stark, weil sie so unterschwellig sind. Das gilt für das ganze Konvolut wie auch für jedes einzelne Blatt, das für sich steht und zugleich auf den Kontext verweist, dem es entstammt. Den Abschluss unserer Publikation bilden neue grossformatige Zeichnungen. Sie knüpfen an die Raumzeichnungen von 2003/04 an und sind ein letzter Höhepunkt im bisherigen Schaffen der Künstlerin. In kaum zu übertreffender Feinheit schweben sie auf der Bildfläche und durchdringen sie zugleich. Sie schaffen einen Bildraum, der sich in der Auflösung erst konstituiert. Es gibt kein Hinten und kein Vorn, alles ist hier und dort zugleich, alles ist in Transparenz aufgelöst. Der durchsichtige Vorhang erscheint hier geradezu sinnbildlich: Er unterteilt nicht, er schützt nicht, er verbirgt nicht, sondern zeigt das eine im anderen und macht den Raum als Kontinuum erfahrbar. Die Zeichnung wird dabei fast unsichtbar und macht etwas sichtbar, das ausserhalb ihrer selbst liegt. Auf diese Weise gelingt es Evelina Cajacob einmal mehr, in radikaler Reduktion ein Maximum zu erreichen. Sie bleibt ganz bei sich und ihrem Medium und nimmt zugleich teil an einem grossen Ganzen, das zu erahnen unsere Aufgabe bleibt. Stephan Kunz

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Evelina Cajacob absolvierte ihre künstlerische Ausbildung 1988–1993 an der Escuela superior de Bellas Artes «Escola Massana» in Barcelona. Ihre frühesten Arbeiten sind geprägt von der Beschäftigung mit verschiedenen Materialien. Stofflichkeit und Taktilität sind dabei ebenso wichtig wie das Wechselspiel von Verdichtung und Ausdehnung. Hier entwickelt die Künstlerin Grundmotive ihrer Arbeit, die sie in ihren Objekten und in ihren Zeichnungen gleichermassen weiterverfolgt.

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Der einfache Holztisch mit darauf ausgebreiteten Geschirrtüchern und einer Videoprojektion arbeitender Hände macht die Künstlerin in weiten Kreisen bekannt. Diese Arbeit steht am Anfang einer Reihe von Videoinstallationen, in denen alltägliche Verrichtungen vorgeführt werden und im stillen Nachvollzug endlos wiederholter Bewegungen unser Dasein in der Welt reflektieren: Woher kommen wir, wer sind wir und wohin gehen wir?

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