HERMANN HERREY
WERK UND LEBEN 1904–1968
RUDOLF STEGERS
RUDOLF STEGERS
HERMANN HERREY WERK UND LEBEN 1904–1968
INHALT
VORWORT 6
1 | KINDHEIT UND JUGEND IN WIEN 1904–1920
Familie Zweigenthal aus Ungarisch Brod / Mutter Therese Zweigenthal, geb. Abelles / Wien in der Ära des Bürgermeisters Dr. Karl Lueger / Schulzeit im Pensionat Sankt Josef in Strebersdorf April 1911 – September 1913 / Schulzeit in der K.K. Staats-Realschule im I. Bezirk Innere Stadt September 1915 – Februar 1920 / Wien im Ersten Weltkrieg 8
2 | KÜNSTLERTRÄUME, WANDERLEBEN, REIFEJAHRE 1920–1922
Ausbildung an der Kunstgewerbeschule Wien Oktober 1920 – Mai 1921 / Franz Cizek als Lehrer / Kinetismus / Illustrationen zu Joseph von Eichendorffs »Aus dem Leben eines Taugenichts« / Vergleich mit Fritzi Löw / Aufenthalt in Den Haag Mai 1921 – Februar 1922 / Matura Juli 1922 12
3 | STUDIUM IN BERLIN 1922–1927
Gebäude und Umgebung der Technischen Hochschule Berlin / Antiquiertes Curriculum der Architektur vom ersten bis vierten Semester 1922–1924 / Unterricht bei den Professoren Daniel Krencker und Friedrich Seeßelberg / Auf Besuch in Wien September–Oktober 1924 / Aufnahme des Portals der Salvatorkapelle mit Egon Eiermann / Hans Poelzigs Seminar »Entwerfen von Hochbauten« 1924–1927 / Diplom Juli 1927 17
4 | LEBEN UND BERUF IN BERLIN 1922–1933
Ankunft in Berlin September 1922 / Zur Miete Königgrätzer Straße, Hohenstaufenstraße, Giesebrechtstraße / Freundschaft mit Dorothee Liepmann / Entwurf zu einem Einband für Carl Spittelers »Prometheus und Epimetheus« / Entstehung und Entwicklung der Gruppe Junger Architekten (GJA) 1926–1928 / Bootsfahrt »Ostpolzug« der Poelzigschüler Juli 1928 / Ausstellung »Hans Poelzig und seine Schule« der Preußischen Akademie der Künste März 1931 / Julius Posener als Sprachrohr der GJA / Konstitution der Generation GJA / Auflösung der GJA ab 1932 26
7 | EINE WOHNUNG IN BERLIN, EIN LADEN IN FRANKFURT 1929–1930
Ambiente für den Schauspieler Lothar Müthel 1929 / Wohnungen für Hermann Vollmer und Erich Schatzki 1930 / Möbel zwischen Unikat und Fabrikat / Egon Eiermanns erste Möbel / Wiener Erbschaft / Einfluss von Adolf Loos / Schuhhaus Jacoby in Frankfurt am Main 1930 / Bedeutung der Kaiserstraße / Laden als Maschine und als Theater / Schließung des Geschäfts 1931 58
8 | KANT-GARAGEN-PALAST BERLIN 1929–1930
Kurt Tucholskys Kritik des Verkehrs in Berlin / Automobil und Garage als Statusymbol / Louis Serlins Projekt einer modernen Hochgarage an der Kantstraße / Engagement von Hermann Zweigenthal und Richard Paulick / Mühsames Entwerfen und Gestalten / Einführung des Prinzips der Wendelrampe / Villa Schultze oder variable Architektur / Amerikanismus in Berlin 69
9 | DAS WACHSENDE HAUS
ODER VON DER LAUBE ZUR VILLA 1932
Ausstellung »Sonne, Luft und Haus für Alle« / Entstehung der Abteilung »Das Anbauhaus« durch Arbeitsgemeinschaft und Wettbewerb / Konzept und Programm in Martin Wagners Buch »Das Wachsende Haus« / Charakteristika der Typen- und Musterhäuser / Kritik von Julius Posener und andern Autoren / Hermann Zweigenthals Wachsendes Haus / Vergleich mit den Bauten von Hugo Häring und von Ludwig Hilberseimer / Scheitern der Verwirklichung durch die Allgemeine Baugesellschaft Lenz & Co 78
10 | STATION IN DER SCHWEIZ, STATION IN ÖSTERREICH 1933–1935
Premiere des »Faust I« am 2. Dezember 1932 / Gespannte Gesellschaft zur Wende von 1932 auf 1933 / Kritik der nationalsozialistischen Theaterkritiker Richard Biedrzynski und Alfred Mühr / Lothar Müthels Verhältnis zum Nationalsozialismus / Flucht aus Deutschland Mai 1933 / Schweizer Korrespondent für »L’Architecture d’Aujourd’hui« in Ascona 1934 / Wohnung Schnitzler in Wien 1935 / Kultivierte Intimität und Neues Wiener Wohnen 88
11 | ARCHITEKTEN UND ARCHITEKTUR IN LONDON 1935–1939
5
| SECHS BÜHNENBILDER 1924–1932
Entwicklung des Bühnenbilds seit den Reformen durch Max Reinhardt / Verhältnis von Bild und Raum / Friedrich Kiesler und Hans Poelzig / Giacomo Puccini »Der Mantel« 26. März 1924 / René Fauchois »Der sprechende Affe« 10. April 1925 / Ferruccio Busoni »Die Brautwahl« 7. Januar 1926 / Jean Cocteau »Orpheus« 5. Januar 1929 / Johann Wolfgang von Goethe »Die natürliche Tochter« 29. August 1931 / Johann Wolfgang von Goethe »Faust I« 2. Dezember 1932 / Bühnenbild aus der Stimmung der Dichtung / Nähe zu Caspar Neher 35
6 | EIN THEATER
FÜR MAX REINHARDT 1926–1927
Konrad Wachsmann bei Max Reinhardt / Diplomprojekt-Thema bei Hans Poelzig / ›Demokratisches‹ Amphitheater und ›aristokratisches‹ Logentheater / Vergleich mit Oskar Kaufmann / Vergleich mit dem Großen Schauspielhaus Salzburg von Hans Poelzig / Rolle der Loge für Theater und Gesellschaft / Engagement der Emil Heinicke AG und Aufgabe des Vorhabens am Lehniner Platz 51
Wohnungen im Londoner Nordwesten / Flüchtlinge in der englischen Gesellschaft / Modernismus in Britannien / Aktivität für die Modern Architectural Research Group (MARS) / Landhaus Scrutton in Virginia Water 1937 / Stadthaus Jolowicz in London 1939 / Entwicklung der drei Entwürfe für Haus Jolowicz / Einfluss von Josef Frank / Vergleich mit Oliver Hill, Berthold Lubetkin, Raymond McGrath / Entstehung, Bedeutung und Gestaltung der Ausstellung »Road Architecture. The Need for a Plan« des Royal Institute of British Architects (RIBA) März 1939 / Drei Entwürfe im Vergleich 99
12 | SZENOGRAPHIE UND ARCHITEKTUR FÜR DAS Q THEATRE BRENTFORD 1938–1946
Theater im West End von London / Bühnenbild Max Catto »They Walk Alone« 21. November 1938 / Bühnenbild William Shakespeare »Julius Caesar« 29. November 1939 / Bedeutung des Q Theatre unter Jack und Beatrice de Leon / Entwurf des Q Theatre als Theater und Klub, als Ort des Ästhetischen und des Sozialen ab 1939 / Vergleich mit Marcel Breuers Projekt des Ukrainischen Staatstheaters Charkow / Lage der Deutschen und Österreicher im London des »phoney war« 1939–1940 / Transit Britannien–Kanada 1940 121
13
| EIN STAATENLOSER IN NEW YORK UND CAMBRIDGE 1940–1945
Heinrich und Olga Schnitzler in den USA / Warnung von Martin Wagner Januar 1941 / Wohnung in Riverdale, Wohnung in Flushing, Leben in New York / Versuch einer Fortführung der Londoner Verkehrsausstellung in New York und anderswo 1941–1942 / Ingenieur der Switlik Parachute Company Trenton 1943–1944 / Entwicklung der Graduate School of Design (GSD) der Harvard University Cambridge unter Joseph Hudnut / Projekt einer Dissertation 1942–1943 / Pläne für Planer an der McGill University Montreal 1944–1945 / Harlow Shapley als »Protektor« 136
14 | GEMEINSCHAFT IN DER KLEINEN UND DER GROSSEN STADT 1942–1944
Thema der Dissertation »Planning for Community Activities. Community Centers« / Rezeption von Lewis Mumfords Buch »The Culture of Cities« / Sigfried Giedions Missverstehen des Community center / Begriff der Gemeinschaft im Diskurs der USA / Debatten und Projekte um Community seit der Progressive Era / Vorträge in Boston November 1943 und Philadelphia November 1944 / Vom Commissioners’ Plan zu Robert Moses / Darstellung, Bedeutung und Kritik des Manhattan Plan 1943–1944 / Elemente eines organischen Urbanismus / Wende bei Walter Gropius und Martin Wagner / Levittown als Suburbia / Kritik des Prinzips Nachbarschaftseinheiten 145
15 | POLITIK FÜR DAS LAND UND DIE WELT 1944–1950
Reise mit John Bland nach Knoxville zur Tennessee Valley Authority (TVA) JuniJuli 1944 / »Cultural and Scientific Conference for World Peace« in New York März 1949 / Freiheit und Frieden oder die Hysterien des Kalten Krieges / Expertenkonferenz »World Security through International Resources Development« über die Politik globaler Entwicklung und Entspannung in Philadelphia Oktober 1949 / Stringfellow Barrs »Let’s Join the Human Race« 1950 / Mähliches Verebben des politischen Engagements 166
16 | PLANEN UND BAUEN AUF LONG ISLAND 1946–1953
Gründung eines Büros in New York 1946 / Vorlesungen über Hausbau am Queens College New York 1946–1947 / Projekt Villa Court Garden Apartments in Hempstead 1947–1948 / Haus Mautner in Massapequa als Neubau 1949–1950 / Vergleich mit Marcel Breuers Haus Robinson / Haus Morgenthau in Lattingtown als Umbau 1949–1950 / Verhältnis zur Bauherrin / Musik der Avantgarde in Haus Morgenthau 1950 / Enttäuschung mit der Nedick’s und der Rudolph K. Waldman Company / Felix Augenfelds Meinung zu New York 178
17 | THEATER IM GARTEN VON HAUS PERTZOFF 1955
Hermann Herrey, Heinrich Schnitzler und das Theater in den USA / Reaktion auf Lothar Müthel in Wien 1946 / Schwierige Aufnahme in die Gewerkschaft der Bühnenbildner 1954 / Gründung der Organisation »Opus« zur Pflege der Künste / Frank Wedekinds Stück »König Nicolo oder So ist das Leben« / Konzeption und Konstruktion des Theaters in Lincoln 1955 / Nähe zu Caspar Neher / Bühnenbilder aus dem Geist der Malerei / Meinung der Kritik 196
18 | PLANEN UND BAUEN FÜR BERLIN 1956–1958
Versuchsweise Rückkehr nach Deutschland August–Dezember 1955 / Zinsloses Darlehen vom Entschädigungsamt Berlin / Wohnen im alten Westend und im neuen Hansaviertel / Geschichte und Bedeutung des Wettbewerbs Hauptstadt Berlin 1957–1958 / Hermann Herreys Entwurf im Kontext des Städtebaus der 1950er Jahre / Wettbewerb Haus der Jüdischen Gemeinde Berlin 1957–1958 / Hermann Herreys Entwurf im Kontext der Architektur der 1950er Jahre 206
19
| REGIE UND SZENE KLASSISCHER STÜCKE 1956–1958
Lage des Theaters in Westdeutschland / Darmstädter Gespräch 1955 / Friedrich Lufts Unmut / William Shakespeare »Der Widerspenstigen Zähmung« St. Gallen 18. April 1956 / Thomas Wolfe »Herrenhaus« Konstanz 26. März 1958 / Henrik Ibsen »Hedda Gabler« Wuppertal 5. November 1958 219
20 | REGIE UND SZENE ABSURDER STÜCKE 1957–1959
Lage des Theaters in Berlin West / Bedeutung des Absurden Theaters / Eugène Ionesco »Die Stühle« Berlin 22. September 1957 / Jean Genet »Die Zofen« und Eugène Ionesco »Jacques oder Der Gehorsam« Berlin 1. Oktober 1958 / Wolfgang Hildesheimer »Landschaft mit Figuren« Berlin 29. September 1959 / Pläne für ein Theater des Realismus 230
21 | EIN THEATER FÜR TRIER 1959–1960
Aufbau und Neubau westdeutscher Theatergebäude 1948–1960 / Konflikt zwischen Variabilität und Repräsentation / Hilfe bei Wettbewerben um neue Theatergebäude in Bonn und Düsseldorf / Brauchbarkeit, Lesbarkeit, Örtlichkeit im Kontext des Trierer Theatergebäudes / Schwierigkeit des Entwerfens zwischen Skizze und Modell / Hans Poelzigs Erbe / Theaterinneres vom Eingang zur Bühne / Drei Verlierer des Wettbewerbs / Versagen des Preisgerichts unter Otto Ernst Schweizer und Hans Schwippert Februar 1960 248
22 | AN DER FREIEN VOLKSBÜHNE BERLIN 1959–1960
Theaterpreis 1958/59 des Verbands der Deutschen Kritiker / Aufsatz »ShakespeareInterpretation auf der Bühne« / Verein Freie Volksbühne unter Siegfried Nestriepke / Erste Bewerbung um die Künstlerische Leitung des Theaters am Kurfürstendamm Februar–April 1959 / Meinungsmacher im Konflikt um Rudolf Noelte / Zweite Bewerbung um die Künstlerische Leitung des Theaters am Kurfürstendamm durch Regie und Szene William Shakespeare »Macbeth« Berlin 7. Mai 1960 / Verrisse und Verrisse / Haltung von Walther Karsch und Friedrich Luft / Rückzug aus Berlin 268
23 | BAUEN IN BROOKLINE, PLANEN FÜR BOSTON 1961–1964
In New York und in neuer Lage / Gründung der Herrey Development Corporation durch Antony Herrey 1961 / Wohnungsbau in den USA der 1960er Jahre / The Peabody Apartment House in Brookline 1963–1964 / Urban renewal und das »Neue Boston« / Government Center Redevelopment Plan / Projekt eines Wolkenkratzers am Rathaus 1964 / Engagement von Pier Luigi Nervi und Kelly & Gruzen / Scheitern an Cabot, Cabot & Forbes 285
24 | EINE VISION FÜR MANHATTAN 1965–1968
Städtische Entwicklung New Yorks in den frühen 1960er Jahren / Pläne von Investoren und Politikern für die Wasserseiten Lower Manhattans / Kritik zweier Publizisten am Zustand New Yorks 1965 / Wiederaufnahme der Siedlungs- und Verkehrspläne für Manhattan / Ausdehnung Manhattans an seinen Ufern / Communities als landschaftliche Städte an den Rändern der Stadt / Neue Ordnung der Verkehre auf Straßen und Schienen / Gleichzeitigkeit großer Projekte und großer Proteste / Julius Poseners Kondolenz Oktober 1968 293
SECHS BÜHNENBILDER
1924–1932
Als Hermann Zweigenthal im Herbst 1922 nach Berlin kam, war die Hauptstadt des Deutschen Reiches eben dabei, sich zur stärksten Stätte eines neuen, jungen, kulturell und politisch avancierten Theaters zu machen, das sich vor allem mit den Namen von Regisseuren und Intendanten wie Leopold Jessner und Erwin Piscator verband, dem aber auch ein Max Reinhardt noch wichtige Impulse geben konnte. Zwar lag dessen große Leistung, das heißt die Reform des Schauspiels und der Bühne, damals schon gut anderthalb Jahrzehnte zurück; doch blieben weite Teile der Fachwelt dem Traditionellen und Konventionellen treu, mochten sich von Pomp und Plüsch in Weiß-Rot-Gold nicht trennen. Ja, selbst Kritiker aus den Feuilletons zahlloser Berliner Zeitungen sprachen noch in den späten zwanziger Jahren oft nicht von Bühnenbild oder Bühnenraum, sondern von »Dekoration«, als ob es in der Republik um den Festschmuck einer höfischen Gesellschaft ginge. Dabei hatte Reinhardt das Theater der Meininger längst von Grund auf reformiert, hatte ihre textilen Prospekte, Kulissen, Soffitten von der Bühne geräumt und durch einen psychologisch raffinierten Realismus, etwas zugleich Artifizielles und Illusionäres ersetzt: zum Beispiel durch die echten Bäume auf Gustav Kninas und Karl Walsers Bühne für eine Inszenierung der Komödie »Ein Sommernachtstraum« von William Shakespeare; zum Beispiel durch das depressive Interieur auf Edvard Munchs Bühne für eine Inszenierung des Dramas »Gespenster« von Henrik Ibsen. Die Intensität dieser beiden sehr verschiedenen Bühnenräume, der erste 1905 im Neuen Theater, der zweite 1906 in den Kammerspielen des Deutschen Theaters, war ein Durchbruch. Seither galt bei Reinhardt der Satz »Un paysage quelconque est un état de l’âme« – den der Genfer Autor Henri Frédéric Amiel Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in sein »Journal Intime« notiert hatte – auch für die Szenographie. Von nun an wirkte eine Bühne am besten, wenn sie dem Innersten der auf ihren Brettern Fühlenden und Handelnden zu entsprechen versuchte, wenn sie die Psychologik der dramatis personae Bau und Ding werden ließ.
Friedrich Kiesler, Hans Poelzig und andere Einflüsse
Diese Art der Synergie des darstellenden und des gestaltenden Mediums auf dem Theater trat bei Teilen der Avantgarde während der zwan-
ziger Jahre in den Hintergrund. Dafür gewann deren Bühne, auf dem Weg vom Bild zum Raum, ein Eigenleben ohnegleichen. Hölzerne oder eiserne Versatzstücke, Treppen, Leitern, Rampen, Brücken und Podeste ersetzten alles nur Flächige und nur Bemalte. Man mochte das Verzerren, also Verkürzen oder Verlängern der Perspektive, mochte die Aktivität von Apparaten, als ob man die Worte des Direktors aus dem Vorspiel des »Faust« – »Drum schonet mir an diesem Tag / Prospekte nicht und nicht Maschinen« – auf neue Weise schätzen gelernt hätte. Der Herbst 1924 sah den Architekten und Szenographen Friedrich Kiesler im Konzerthaus Wien die von ihm besorgte »Internationale Ausstellung neuer Theatertechnik« eröffnen. Ob Zweigenthal von der Schau seines Landsmannes wusste? Er hätte dort aus Russland konstruktivistische, aus Italien futuristische, aus Deutschland expressionistische, dadaistische, kubistische Beiträge bewundern oder verachten können. Kiesler selbst hatte im Mozartsaal des Konzerthauses seine kreisrunde »Raumbühne« installiert und in dem auch typographisch dezidiert modernen Katalog eine Polemik publiziert, die unter dem Titel »Debacle des Theaters« die Nachteile des guten alten Guckkastens genau beschreibt.
Ob Zweigenthal auf der »IAT« die Bauhausbühne von Oskar Schlemmer und die Merzbühne von Kurt Schwitters bestaunt hätte? Sicher ist nur, dass der Student von kaum zwanzig Jahren – dessen Neigung in Richtung nicht allein der bauenden, sondern auch der bildenden Künste ging und der das Theater als ein Amalgam von Medien liebte – in Wien das expressive, ja phantastische Modell des Festspielhauses Salzburg von Hans Poelzig studiert hätte. Dessen Bühnenbilder aus dem Berlin der Jahre 1923 und 1924 waren Zweigenthal wohl nicht entgangen. Ob es die Szene für Wolfgang Amadeus Mozarts »Don Giovanni« in der Preußischen Staatsoper Unter den Linden, für William Shakespeares »König Lear« im Großen Schauspielhaus, für Georg Kaisers »Gilles und Jeanne« im Dramatischen Theater war, die Poelzigschen Entwürfe wollten Räume voller Rhythmus und Melos. Die oft schmucken Blätter, mit ihren leuchtenden Farben und lodernden Formen den Bildern strahlender Feuerwerke und glühender Wunderkerzen verwandt, waren Paraphrasen dramatischer Phantasien im graphischen Medium.
Hermann Zweigenthal, Bühne »Der Mantel«, in einer Zeichnung Egon Eiermanns, 1924
das Drama zwischen Marcel, Henri und Georgette kaum zu wirklicher Anschauung bringen können. Ohne Antwort bleibt auch die Frage, wie Zweigenthal mit der riesigen Anlage des Theaters umging. Das Parkett und die drei Ränge des Deutschen Opernhauses Charlottenburg fassten immerhin 2300 Zuschauer; als 1912 die höhere städtische Gesellschaft in diesem Bau die erste Premiere zelebrierte, war dessen Bühne mit einer Breite von achtundzwanzig Meter, einer Tiefe von zwanzig Meter und einem Portal von dreizehneinhalb Meter die größte der Welt. Für eine Kammeroper vom Typus »Der Mantel« nicht die beste Stätte. Zweigenthals Bühnenraum borgt den Stil – wie schon die Kritiker ein oder zwei Tage nach dem 26. März 1924 bemerkten – nicht bloß von der teils ironischen, teils idyllischen, immer leise kritischen Kunst Heinrich Zilles und Hans Baluscheks. Er ist ebenso mit der Darstellung Berliner Werktage bei Gustav Wunderwald und Otto Nagel verwandt. Auch der junge Werner Heldt, mit dem übrigens Zweigenthal und Eiermann das Geburtsjahr teilen, malte ähnlich. Die meisten Bilder der Baluschek und Wunderwald, der Nagel und Heldt aus dem Berlin der
zwanziger Jahre sind erzählfreudig. Doch erscheint jede Farbe wie unter einem grauen oder braunen Schleier. Der Ort wirkt oft dunstig und diesig, wie kurz vor oder nach starkem Regen. Hinter dem Pittoresken und Romantischen der sozialen Realität derer ›da unten‹ lauert die kollektive Depression.
»Vortrefflich« hieß es im »Berliner Tageblatt«, »vorzüglich« in der »Deutschen Zeitung«, »vorbildlich« im »Vorwärts«. Für die Inszenierung Georg Paulys waren die meisten Feuilletons voller Lob, auch wenn sie Puccini, ob seiner Gefühligkeit und Gefälligkeit, nicht alle mochten. Hier und da wurde auch Zweigenthals Bühnenraum beschrieben, seine Formen und Farben freilich nie so genau in Worte gefasst wie auf Eiermanns Darstellung gezeichnet. In Bezug auf die Beleuchtung aber sind zwei Texte von Belang. Im »Vorwärts« meinte Heinrich Maurer, von der ersten zur letzten Note habe Zweigenthal den Ort »in ein halb mitleidiges, halb blutdürstiges, aufgewühltes Dämmerlicht gehüllt«. In der »Deutschen Zeitung« nannte August Püringer den Lichtfall »meisterhaft feinstufig«. Und dann: »So dient die Szene der Stimmung.« – Ja,
»Stimmung« war wohl der rechte Begriff für den Abend in der Oper. Die klanglichen und bildlichen, darstellenden und gestaltenden Künste fanden dort für eine gute Stunde zu einer Synästhesie, die Zweigenthal durch seine Arbeit bereichert hatte. Er sah den Stadtraum mit den Augen der Schiffer, machte die Szene zu einem Konstrukt ihrer Psyche. Das Ufer der Seine war ein Seelenzustand.
»Der sprechende Affe« Nichts, so scheint es, haben das erste und das zweite Bühnenbild von Zweigenthal gemein. Obwohl beide Geschichten – »Der Mantel« von Giacomo Puccini und »Der sprechende Affe« von René Fauchois – vom Lieben und Leiden kleiner Leute handeln und im Paris des frühen zwanzigsten Jahrhunderts spielen, ist das je erdachte Geschehen zu verschieden, als dass die beiden Stücke und ihre Orte zu weiteren Vergleichen lockten. »Der Mantel« wirkt stets real, eine quälende Tragödie; »Der sprechende Affe« wirkt stets fiktiv, eine tändelnde Komödie. Wer Zweigenthals Bühnenbild für dieses leichte Schauspiel verstehen, womöglich würdigen möchte, muss das mentale und physische Umfeld des Entwurfs in Betracht ziehen. Dazu gehörten nicht allein das Werk des Autors Fauchois, sondern auch Reinhardts Gebaren und Geschäfte sowie die Anmutung des Innenraums jenes neuen, beinahe intimen Theaters, das heißt der Komödie im Neuen Westen von Berlin, während deren erster Spielzeit 1924/25 Zweigenthal verpflichtet wurde.
Theater am Boulevard ist seit je eine Kunst raschen, süßen Verzehrs. Namen wie Fauchois und Titel wie »Der sprechende Affe« geraten bald ins Vergessen, sofern sie nicht das Zeug zum Klassiker haben. Dabei hatte der Schauspieler und Schriftsteller Fauchois – dramatisierte Biographien standen am Beginn der Karriere des Franzosen – mit »Le singe qui parle« zunächst durchaus Glück. Zwischen Herbst 1924 und Herbst 1925 wurde seine eben verfasste »comédie en trois actes« der Reihe nach in Paris, Brüssel, Genf, Berlin, Prag und London auf die Bretter gebracht; gedreht nach zentralen Motiven des Stücks, würde 1927 in den USA unter der Regie von Raoul Walsh der Stummfilm »The monkey talks« entstehen. Thema sind Erfolg und Missgunst, Liebe und Verrat, Treue und Rache im Zirkusmilieu. Zwei Artisten finden großen Anklang mit einer Nummer, bei welcher einer den Dompteur, einer den Affen spielt und beide das Publikum in der Arena zum Staunen und Lachen bringen. Die Handlung ist, wie so oft im seichten Genre, eine delikate Konstruktion. Was man wünscht, dass es passiert, das passiert: Den falschen, ›menschlichen‹ Affen Faho zu entführen und ihn durch den echten, ›tierischen‹ Affen Adonis zu ersetzen, diese Attacke und Intrige mit stiller Hoffnung auf ein tödliches Finale schlägt natürlich fehl. Ende gut, alles gut. Vorhang. Beifall. Schluss.
Hermann Zweigenthal, Bühne »Der sprechende Affe«, 1925
»Ein Stück für junge Mädchen oder solche, die es werden wollen!« Mit herrischem Rufzeichen versehen, war dies das Urteil des Kritikers Ernst Heilborn in der »Frankfurter Zeitung«. Dass gerade ein Intendant und Regisseur, ja ein Genie wie Reinhardt – bei dessen Namen man gewohnt ist, an die künstlerisch wertvolle Inszenierung großer Dramen klassischen bis modernen Charakters zu denken – sich mit der rührenden Geschichte um den Affen Faho befasste, die der Kritiker Fritz Engel im »Berliner Tageblatt« eine »Tarzaniade« nannte, war aus seinem um die Mitte der zwanziger Jahre starken Interesse für schwerelose Unterhaltung gefolgt. Reinhardt hatte im April 1924 in Wien das Theater in der Josefstadt und im November 1924 in Berlin die Komödie eröffnet, beide Häuser mit Carlo Goldonis »Der Diener zweier Herren«. Anlässlich der Berliner Premiere und nicht ohne eine gewisse Bitterkeit angesichts der jüngeren Entwicklung des Reinhardtschen Theaters hatte der Romancier und Publizist Josef Roth im »Prager Tagblatt« geschrieben, das wirkliche Ereignis des Abends sei nicht die Commedia dell’arte, nicht der Jux um den armen Truffaldino gewesen, sondern das Tête-à-tête der Gesellschaft jener »oberen Zehntausend, die eigentlich nur Vierhundert sind«.
Entworfen von Oskar Kaufmann, der in Berlin schon vor dem Ersten Weltkrieg durch die Bauten des Hebbel-Theaters und der Volksbühne Ansehen erworben hatte, war die Komödie am Kurfürstendamm in Charlottenburg eine durch und durch eklektische Architektur. Im Wechsel konkaver und konvexer Strukturen schwang das verspielte Gebäude ein und aus. Lauter loses Ornament, schwankend zwischen Rokoko und Art déco, zierte Decken und Wände. Der Saal, in Bordeauxrot und Zitrusgelb gehalten, hatte Parkett und zwei Geschoss Logen; das ›Hufeisen‹ bot 469 Zuschauern Platz. Die Brüstungsfelder der Logen hatte der aus dem Schwäbischen stammende Zeichner und Maler Hans Meid in Tempera gestaltet. Unten herrschten das Idyllische, Arkadische: ruhige, südliche Landschaften, wo Xerxes unter einer
EIN THEATER FÜR
MAX REINHARDT
1926–1927
Der junge Mann hatte »Danton« besucht, das Drama der Französischen Revolution, ein Stück von Romain Rolland unter der Regie von Max Reinhardt. Die Vorstellung im Großen Schauspielhaus Berlin, von den Kritikern einhellig verrissen, hatte ihn dermaßen begeistert, dass er sich gleich an die Arbeit machte, ein noch größeres, schöneres, besseres Theater zu entwerfen, als es das vom Häusermeer zwar verdeckte, doch riesige, rötliche Gebäude von Hans Poelzig – ein ›Höhlenbau‹ mit ›Tropfsteinen‹ – in seinen Augen schon war. Die Trennung von Szene und Parkett sollte endlich gelöst werden; sogar Pferde und Autos sollten auf der Bühne stehen können. »Fort mit der bunten Lüge!«, dachte der junge Schwärmer, wandte sich an die Schauspielerin Tilla Durieux und bat sie um einen Termin bei Reinhardt, der sich tatsächlich einen Augenblick Zeit nahm, den Fremden zu hören und seine Skizzen zu sehen. »Nicht schlecht«, sagte der Intendant und Regisseur. »Heben Sie diese Blätter auf, vielleicht reden wir in zehn Jahren noch einmal darüber.«
So schildert Konrad Wachsmann seinen Besuch bei Reinhardt im Mai 1920. Auch wenn die Memoiren des Architekten das kurze Treffen womöglich verklären, bleibt der Vorgang als solcher rührend. Wer sonst unter den Giganten des Berliner Theaters hätte schon einen neunzehn Jahre alten Studenten aus Frankfurt an der Oder in seinem Büro empfangen, um sich dort mit dessen Utopie vom Theater als einem Tempel der Bildung des Volkes zu befassen? Indes scheint es, als ob sich gut sechs Jahre später das Ereignis wiederholt habe. Wieder war es ein Poelzigschüler, der mit Reinhardt ins Gespräch kommen wollte. Aber diesmal war es ein Mann, der sein Können aufgrund von drei Bühnenbildern – 1924 für das Deutsche Opernhaus, 1925 für die Komödie, 1926 für die Städtische Oper – längst unter Beweis gestellt hatte. Vor allem war es ein Mann, der ein größeres Bewusstsein für die Schwierigkeit der Verbindung des Wünschbaren mit dem Machbaren besaß: Hermann Zweigenthal. Für seine Diplomarbeit an der Technischen Hochschule Berlin hatte er sich nicht, wie viele seiner Kommilitonen, mit fiktiven Idyllen abgeben wollen, also nicht mit dem Entwerfen eines Landhauses oder einer Volksschule oder einer
Kassenhäuschen der Reinhardtbühnen auf dem Kurfürstendamm, 1928
Dorfkirche in freundlichster Umgebung. Vielmehr hatte er ein Thema aus der städtischen, ja der Berliner Wirklichkeit gewählt, ein echtes Bauvorhaben mit einer echten Bauherrenschaft.
Arbeit am Diplom
Zweigenthals »Theater für Max Reinhardt« kann nur verstehen, wer den Hintergrund der Aufgabe zu erklären weiß. Mitte der zwanziger Jahre suchte die Geschäftsführung des Reinhardtkonzerns im damals gerade bei betuchten Berlinern beliebten, weil jungen, frischen, schicken Neuen Westen westlich der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche Fuß zu fassen. Gemeinsam mit der Emil Heinicke Aktiengesellschaft hatte man in der Welt des Luxus und der Moden die Komödie errichtet, eröffnet und rasch zum Erfolg geführt. Unterdes war die im Wohnungs-, Laden- und Bürobau tätige Aktiengesellschaft Pächterin einiger Grundstücke geworden, die der Verlegerin Felicia LachmannMosse gehörten. Das Areal umfasste vierzigtausend Quadratmeter; es lag am oberen Teil des Kurfürstendamms, in Höhe des Lehniner
Platzes. Die offenbar auch für die Pächterin Heinicke aktive Wohnhaus-Grundstücks-Verwertungs-Aktiengesellschaft (WOGA) hatte den schon damals – nicht nur wegen der Gestaltung des Verlagshauses Rudolf Mosse im Zeitungsviertel von Berlin – renommierten Architekten Erich Mendelsohn für den Entwurf eines Komplexes mit Wohnungen, Geschäften, Restaurant, Theater und Kino gewonnen. Aus dem Jahr 1926 stammen Skizzen und Pläne, die am Boulevard links ein Café, rechts ein Kino zeigen. Zwischen beiden führt eine neue, von Läden gesäumte Stichstraße auf ein Theater.
In einem gut platzierten Artikel des »Berliner Tageblatts« vom 25. November 1926 heißt es, gebaut würden südlich des Lehniner Platzes dreihundert teils kleinere, teils größere Wohnungen mit allem Komfort. Am Endpunkt der schmalen Straße werde »ein Theater für zweitausend Personen projektiert, das voraussichtlich von einem sehr bekannten Theaterdirektor gepachtet werden wird«. Kenner der Szene mussten nicht raten; sie wussten Bescheid: Es ging um Reinhardt. Unternehmer wie Unterhalter in einer Rolle, dachte der Weltmann an eine Stätte, die sich ebenso wie die übrigen Schau- und Lustspielhäuser seines Konzerns Saison für Saison würde rechnen müssen; an eine Stätte, unter deren Dach auch andere Nutzungen – ein Ballsaal – Raum finden würden; an eine Stätte, die dem Wiener Beispiel der Verbindung des Theaters in der Josefstadt mit den Sträußelsälen folgen würde.
Diesem Programm einer Mixtur von Kultur und Kommerz schuf Mendelsohn ein Gehäuse. Zweigenthal gab dem Bau ein elegantes Interieur. Nicht dass durch seine Grundrisse, Längs- und Querschnitte schon eine detaillierte Architektur vor Augen träte. Wie sollten auch die wenigen schwarzweißen Zeichnungen mehr als ein Gebilde kubischen Charakters und die Verteilung der Nutzungen erkennen lassen, wenn der Körper als solcher einer noch unklaren Vorgabe Mendelsohns zu gehorchen hatte? Jedenfalls plante Zweigenthal ein Theater mit avancierter Technologie: unten eine neunzehn Meter tiefe Wagenbühne mit schieb-, schwenk- und senkbarem Horizont in Form einer halben Kuppel aus Eisen und Rabitz; oben ein Schnürboden mit siebzig Zügen. Er hätte aber auf den Bühnenturm in der Tiefe des Terrains am liebsten verzichtet, weil das Bühnenbild aus dem Malersaal seiner Meinung nach bald durch die Projektion von Dias und Filmen ersetzt werden würde.
Am Wendepunkt der Stichstraße liegen Läden, Büros und die breite, vermutlich gläserne Eingangshalle. Hinter der Kasse folgen die beiden Foyers, die auch als Restaurant mit Galerie fungieren. Allein für das Herzstück des Ganzen, für den Saal mit Parkett und Logen, hatte der Diplomand schon eine genaue räumliche Vorstellung. Das leicht gestreckte Hufeisen nimmt 1900 Zuschauer auf: vorne und hinten das schräge Parkett, gestaffelt in dreiundzwanzig Reihen; hinten und oben
Karl Schulpig, Plakat »Deutsche Theater-Ausstellung« Magdeburg 1927
hundertvierzig Logen, gestapelt in acht Reihen. Jede dieser Kammern bietet vier bis zwölf Gästen Platz; von der runden Brüstung schweift der Blick durch den Saal auf die Bühne. Die vermutlich glatten, weißen, halben Zylinder bilden eine dynamische, so modulare wie uniforme Struktur, die als von Menschen belebter Hintergrund in Erscheinung tritt, nachdem das Parkett in der Versenkung verschwunden und der Ort zum Ballsaal geworden ist.
Zwischen Logentheater und Amphitheater
Zweigenthal fand in Berlin eine reiche theatrale Typologie. Der Student konnte in Hermann Richters Deutschem Theater ein Rangtheater, in William Müllers Kammerspielen des Deutschen Theaters ein Saaltheater, in Max Littmanns Schiller-Theater ein Amphitheater, in Oskar Kaufmanns Komödie ein Logentheater und in Hans Poelzigs Großem Schauspielhaus einen Raum für das quasi kultische Spektakel erfahren. Vermutlich war er mit den wichtigsten Theatergebäuden in Wien und Berlin vertraut; vermutlich kannte er diese Häuser
Hermann Zweigenthal, Amphitheatrales Logentheater, Ansicht mit Logen und Parkett, 1927
Die Botschaft einer Zeichnung
Dass der Examenskandidat Zweigenthal mit dem Projekt Salzburger Festspielhaus vertraut war, steht außer Frage. Obwohl Poelzig seine Rollen als Architekt und Professor scharf trennte und daher nicht wollte, dass sein Werk von Studenten im Seminar auch nur genannt wurde, darf man sicher sein, dass die Schüler die wichtigsten Entwürfe und Gebäude des Meisters gut kannten. Wozu auch das Opern-, Schauspielund Konzerthaus von Hellbrunn in der Hochschule ansprechen, wenn Zweigenthal das Vorhaben – der Bau war Mitte der zwanziger Jahre bereits gescheitert – mühelos publiziert und propagiert finden konnte. Die Kritiker Paul Westheim und Gustav Adolf Platz hatten sich für Poelzigs Sache stark gemacht, so schon 1921 in »Wasmuths Monatsheften für Baukunst« und im »Kunstblatt«, vier Jahre später noch einmal in den Monatsheften aus dem Hause Wasmuth. Sämtliche Bei-
träge zeigten die erwähnte feurige Darstellung von Szene, Parkett und Logen; »Das Kunstblatt« bot seinen Lesern ferner die erwähnte Ansprache vor der Festspielhausgemeinde.
Ähnlich wie Poelzig versucht auch Zweigenthal, die Idee seines Theaters für Max Reinhardt mit wenigen Zeichnungen zu erläutern. Den besten Einblick in die Botschaft des Entwurfs gewährt eine Perspektive von kalkulierter Raffinesse. Zweigenthal träumt, wie seine Augen von weit oben schräg in den Saal wandern. 21,59 mal 22,86 Zentimeter breit und hoch und mit Tusche auf dünnes Papier gebracht, erstaunt die Darstellung den Betrachter, weil die Bühne gar nicht in das Bild kommt, weil das Parkett nur in der Form einer Zunge mit einer Sequenz flacher Kurven zu sehen ist, weil die Logen aber solche Präsenz haben, dass man nicht umhinkann, sie für die Hauptsache des Innenraums zu halten. Die kleinen Kammern reihen und türmen
tät bedachten städtischen Betriebes. Schwer und steif – trotz Sehnen und Schwüngen zwischen Beinen und Lehnen, trotz Flechtwerk für die Flächen hinter dem Rücken und unter den Armen – wirken auch die Sessel, die Eiermann 1930 für das Wohnzimmer des Wohnhauses Adolf Chaskel in Berlin schuf. Erst 1932 gelang ihm ein neuer Ansatz. Für das Haus Carl und Franziska Hesse in Berlin sowie für das Wachsende Haus auf der Berliner Ausstellung »Sonne, Luft und Haus für Alle« entwarf er Möbel zum Sitzen und Liegen, deren Rahmenhölzer längs und quer mit Gurten bespannt sind. Keine Frage, dass diese Designs auch unter dem Einfluss Zweigenthals entstanden, waren doch Eiermann die Fotos der Wohnung Müthel – Ende 1929 in »Die Dame«, Anfang 1931 in »Moderne Bauformen« – sicher nicht entgangen.
In Sachen der Wohnungen Müthel, Vollmer, Schatzki spielte Julius Posener den besten Interpreten. Damals bei solchem Thema noch selten, hat sein Beitrag in Heft 3/1933 der Zeitschrift »Innen-Dekoration« die Form fast eines Interviews. Posener lässt Zweigenthal selber sprechen. Eine Einrichtung, meint der Gestalter, dürfe man »gar nicht merken«. Er wolle sich in einer Wohnung »nach Belieben bewegen« können. Sie müsse »so bequem wie ein guter Anzug« passen. Er wolle keine »Raumkunst«, sondern »große klare Räume«, in die man alles und jedes stellen könne. Sie dürften durchaus »wie Farben auf einer Wiese« wirken. Die vorige Generation habe immer »komponieren« oder »konstruieren« wollen. Dabei sei es das »Dritte«, was zu tun sei: entwerfen jenseits der peinlichen Entscheidung zwischen Kunst und Zweck. Obwohl Posener die Gestaltung Zweigenthals mit einem gewissen Misstrauen betrachtet, weil ihre »nervöse Ästhetik« der gewünschten Einfachheit in die Quere komme, zögert er nicht zu schreiben: »Diese Wohnungen sind gut. Was auffällt, sind sogar Eigenschaften, die man in anderen Interieurs der letzten Zeit nicht noch einmal findet.«
Das Lob galt vermutlich der erwähnten linearen, minimierten, transparenten Konstruktion, der erwähnten fasslichen, nützlichen, kunstlosen Anmutung der Zweigenthalschen Möbel. In der Tat halten
sich die Stücke der Wohnung Müthel von allem fern, was Stil genannt werden könnte; Stil würde sie ja ihrer Eigenheit berauben. Für ihre Art, sich prismatisch und organisch zu geben, als wäre dies kein heilloser Widerspruch; für ihre Art, Holz und Leder in eine zarte Gestalt zu führen, ohne dass eine skulpturale Ambition dem Nutzwerk schadet: Für beides findet man so gut wie keinen Vergleich. Einzig der damals nur in engen Wiener Kreisen bekannte Architekt und Designer Ernst Anton Plischke – geboren 1903 in Klosterneuburg, von 1919 bis 1923 Schüler der Kunstgewerbeschule des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie Wien, von 1923 bis 1926 Student der Akademie der Bildenden Künste Wien – entwarf in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren Einrichtungen, die den Zweigenthalschen Interieurs in mancher Hinsicht nahestehen. In der Wohnung des Fabrikanten Viktor Böhm und in der des Apothekers Friedrich Neubauer etwa gab es Stühle und Sessel mit Sitz- und Lehnflächen aus Lederriemen; ähnlich war dort auch der Umgang mit Farben, mit Glasscheiben und mit Vorhängen zur räumlichen Gliederung.
Auf den Spuren von Adolf Loos
Einem Leser, der den Diskurs des Designs um 1930 kennt, öffnet Poseners Artikel die Tür zu den ›Ahnen‹ der Zweigenthalschen Interieurs. In dieser Folge – nennen wir sie eine potentielle Genealogie –stehen: erstens das »Neue Wiener Wohnen« der zwanziger und zehner Jahre, mit seiner Freude an englischen Wohnweisen und seiner Kultur des Komforts, als deren wichtigste Vertreter Josef Frank, Oskar Strnad und Adolf Loos gelten; zweitens das noch ganz reduzierte ästhetische Vokabular der frühen Wiener Werkstätte, wie es sich im Schaffen Koloman Mosers zeigt, etwa im kubischen Charakter und der Dominanz von Blöcken und Flächen des Schreibschranks für Fritz Waerndorfer oder im filigranen Lineament des Armlehnstuhls aus dem Sanatorium Purkersdorf; drittens das Angebot der Thonetschen wie der Danhauserschen Möbelfabrik, allen voran Michael Thonets
Bugholzstuhl mit dem Namen »Modell 14« oder »Konsumsessel«, der bis 1930 etwa fünfzig Millionen Mal verkauft wurde und in wohl jedem Wiener Café zu sehen war; viertens das englische »Aesthetic Movement« und seine quasi ägyptischen Mobilien, Stühle mit Rahmen aus Holz und Flächen aus Stoff, welcher der Figur des Körpers willig folgt, das Ganze nach Designs von Künstlern wie William Holman Hunt und Ford Madox Brown.
Bei ihrer Kritik der »Raumkunst« und ihrem Vergleich einer Wohnung mit einem »guten Anzug« verweisen Posener und Zweigenthal schon dank ihrer Wortwahl auf Adolf Loos. Unter den zum Teil noch aus der Tiefe des neunzehnten Jahrhunderts stammenden ›Vorläufern‹ der Zweigenthalschen Mobilien spielen Werke dieses Meisters – mehr noch: dessen Haltung – die Schlüsselrolle. Loos war für den Schriftsteller Tristan Tzara, für die Tänzerin Josephine Baker, für den Luxusherrenausstatter Knizˇe tätig; Zweigenthal war für den Schauspieler Lothar Müthel, für den Piloten Erich Schatzki, für den Luxusschuhverkäufer Jacoby tätig. Zweigenthals Arbeiten erschienen in Zeitschriften wie »Die deutsche Elite«, »Die Dame«, »Das schöne Heim« und »Innen-Dekoration«, die sich auch an die gentile Klientel eines Loos wandten. Dessen roter Bugholzstuhl für das Wiener Café Museum stellt die lineare, minimierte, transparente Konstruktion des »Konsumsessels« von Michael Thonet noch in den Schatten, weil der Rundstab im Querschnitt je nach Last dicker oder dünner wird
Hermann Zweigenthal, Schuhhaus Jacoby, Fassade, 1930
und man das Stück mit dem kleinen Finger heben kann: eine Festigkeit und Leichtigkeit, die Zweigenthal vermutlich ideal fand.
Schließlich das Thema Raumkunst. Loos war Gegner jeder Richtung, welche das Interieur ästhetisiert, statt in der Wohnung für das Annehmliche und Behagliche zu sorgen und zwischen den vier Wänden das je Persönliche möglich zu machen. Sein Schmäh galt folglich der Wiener Werkstätte, dem Deutschen Werkbund (DWB), dem Bauhaus Weimar, dem Bauhaus Dessau, dem Stijl und dem Art déco. Und das schon vor ihrer Geburt. In seiner berühmten, im Jahr 1900 im »Neuen Wiener Tagblatt« gedruckten Geschichte »Von einem armen, reichen Manne« geißelt er die Diktatur des Architekten. Dem armen, reichen Manne sagt der Gestalter, er habe seine Einrichtung vollendet entworfen. Sie müsse nun bleiben, wie sie liege und stehe. »Wie kommen Sie dazu, sich etwas schenken zu lassen! Sie brauchen nichts mehr. Sie sind komplett!« Genau diese Order hätte Zweigenthal nicht weniger verachtet, als Loos es tat. Einem Müthel, einem Vollmer, einem Schatzki etwas vorschreiben? Was für eine Vorstellung!
Schuhhaus Jacoby
Wohl nach Abschluss der Arbeit an der Wohnung Müthel, doch vor Abschluss der Arbeit an der Wohnung Vollmer wie der Wohnung Schatzki bekam Zweigenthal Ende 1929 oder Anfang 1930 einen Auftrag, der
KANT-GARAGEN-PALAST
1929–1930
Einen gab es, dem die ganze Richtung nicht passte. Anfang November 1926 – eben hatten Stadtrat Martin Wagner und Stadtrat Ernst Reuter ihre Absicht deutlich gemacht, die Mitte Berlins nach den Wünschen von Geschäftsleuten und Verkehrsfreunden neu zu formen – erschien aus seiner Feder eine Glosse unter dem Titel »Berliner Verkehr«. Leser der Wochenschrift »Die Weltbühne« nahmen durch den Text zur Kenntnis: Der Verkehr mit dem Auto ist eine »fixe Idee«; die »winkenden und turnenden Schutzleute« an den Kreuzungen bieten »amtliche Geschaftlhuberei«; der »Rummel« nährt den »Drang des Neudeutschen«, sich so zu fühlen, wie er Amerika imaginiert. »In einer Stadt zu wohnen, die eine ›Ssitti‹ hat und einen ›Brodweh‹, det hebt Ihnen.«
Der, dem die ganze Richtung nicht passte, hieß Kurt Tucholsky. Seine Wahrnehmung kam der Wirklichkeit nah. Denn das Berlin der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre wollte mehr und mehr Autos auf seinen Straßen sehen, wünschte seinem Zentrum ein Fließen, ja Strömen wie auf dem Grid von New York oder dem Loop von Chicago. Journalisten schrieben den Verkehr herbei. Allein, was Tucholsky nicht erkannte, waren die ökonomischen Interessen der Auto- und Straßenbauer; was er nicht erkannte, waren die realen Prozesse hinter dem »kindlichen Getobe« der Berliner. Die amtliche Statistik der Hauptstadt des Deutschen Reiches zählte Mitte 1925 genau 18 878, Mitte 1927 genau 30 058, Mitte 1929 genau 42 844, Mitte 1931 genau 54 834 Personenkraftwagen. Das war zwar keine kolossale, doch eine evidente Expansion. Die Erfahrung des Zauberlehrlings – »Die ich rief, die Geister, / Werd’ ich nun nicht los.« – würde die städtische Gesellschaft erst ein halbes Jahrhundert später machen.
Ein Privileg der Oberschicht
Trotz der berühmten, auf Tempo bedachten Aufnahmen vom Oval des Potsdamer und Oktogon des Leipziger Platzes, im Vergleich zu heute war Berlin um 1930 eine so gut wie autofreie Stadt. Manchen drückte dennoch die Frage: Wohin mit dem Wagen, wenn niemand am Steuer sitzt? Nach dem fließenden wurde auch der ruhende Verkehr zum Problem. Die Autos standen damals sei es in Ställen, Schuppen oder Höfen, sei es in Flach- oder
Hochgaragen. Man darf diese Bauten – ein neuer Typus wie zuvor das Büro – nicht mit den nüchternen Parkhäusern der sechziger und siebziger Jahre vergleichen. Es ging nicht bloß darum, sein Auto von der Straße zu bringen. Jede bessere Garage war vielmehr ein Ort sozialer Aktivität und sozialer Distinktion. Hier trafen sich die Chauffeure an der Zapfsäule vor der Tankstelle oder in den Werkstätten der Monteure, Lackierer, Polsterer. Hier kauften die »Herrenfahrer« – ein Wort für Renn- und Sportfahrer, das an das Wort »Herrenreiter« denken lässt und auf jeden Fall einen Status markiert – ihre Jacke und Mütze aus Leder, vielleicht auch nur eine Hupe oder einen Wimpel. Wenig später fanden sich die Männer wieder; der Dachgarten oder der Tennisplatz hoch über den Autos lud zum Verweilen und Entspannen. Muss nach solchen Details noch betont werden, dass die Garage ein Privileg der Oberschicht war? In Berlin lag 1930 der Preis für die getrennte Aufstellung des eigenen Kraftwagens, also für die Einzelstatt der Sammelbox, mit weit über vierzig Reichsmark pro Monat so hoch wie der Preis für eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche.
Eine Passion für Garagen als innovativen Architekturen hatten die in Gemeinschaft tätigen Hans Luckhardt, Wassili Luckhardt und Alfons Anker. Im Auftrag der Wender Aktiengesellschaft für Automobilhandel entwarfen sie 1924 eine Großgarage, für die sie in der »Bauwelt« auf gleich fünf Seiten werben durften. Die ungemein gestreckte Anlage, versehen mit Stellplätzen für eintausend Autos, versehen aber auch mit Werkstätten, Geschäften, Hotel und Büros, wäre weit im Westen von Berlin errichtet worden; sie hätte ein Stück nördlich des belebten Kaiserdamms, an der Ecke von Sophie-Charlotten-Straße und Knobelsdorffstraße gestanden. Im Treffpunkt des Ausstellungs- und des Garagengebäudes, das heißt am Graben der Ringbahn, wäre ein Turm in die Höhe geschossen, der dem Turm der Epiphanienkirche auf der andern Seite des Grabens ein starkes Kontra geboten hätte. Profanes gegen Sakrales, der Kritik wäre das Zeichenhafte im Gegenüber beider Bauten keinesfalls entgangen. Mehr noch, sie hätte vielleicht gefragt, welcher Turm welchem Turm auf den Leib rücken würde. Nach Meinung der Architekten herrschte kein Zweifel. Sie sahen den Triumph des Autos kommen. »Arbeitgeber und Arbeitnehmer«, so glaubten sie zu wissen, alle würden bald selber mit dem Auto fahren.
Mühsame Fortschritte
An die höchste Stelle des Grundstücks gerückt, wäre der Turm – in Wirklichkeit ein Versorgungsgebäude – auf solche Weise in Erscheinung getreten, dass ihn von Straße wie Schiene jeder hätte sehen müssen. Mit so prominenter Position kann der Kant-Garagen-Palast nicht dienen. Zwar steht er an der Kantstraße als einer der drei großen Achsen, die von der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche als der Mitte des Neuen Westens Richtung Westen führen; doch steht er brav in Reih und Glied, mag nicht aus der Flucht tanzen, schon gar nicht mit dem schmutzigen Äußeren, unter welchem er seit Jahren leidet.
Eine größere Garage zu errichten war in den zwanziger Jahren eine schwierige Aufgabe. Mit dem neuen Typus hatten Entwerfer und Erbauer noch kaum Erfahrung. Kein Wunder, dass auch die Entstehung des Kant-Garagen-Palasts mit einer an Verwicklung reichen Geschichte verbunden war. Im April 1929 hatte der aus Posen stammende Ingenieur, Grund- und Hausbesitzer Louis Serlin die Grundstücke Kantstraße 126 und 127 samt der dort Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Stil der Renaissance erbauten Villa des Gärtnereibesitzers Carl Schultze erworben. Schon vor dem Kauf hatte Serlin seine Absicht erklärt, auf dem Terrain – bei Erhalt der Villa Schultze – eine moderne Garage mit gleich mehreren Stockwerken zu errichten. Nun bat er ein paar Fachleute um Vorschläge; schließlich nahm er die Architekten Bruno Lohmüller, Oskar Korschelt und Jacob Renker unter Vertrag. Doch als im Juli 1929 Arbeiter mit der Ausschachtung des Geländes begannen, lag dem Bauherrn noch immer kein Entwurf vor, dem er sein Plazet hätte geben können. Dem Büro Lohmüller Korschelt Renker, dessen Architektur aus dem Vokabular der Roten Moderne schöpfte – klinkerne Fassade, plastisches Ornament –, machte vor allem die Erschließung des Gebäudes Mühe. Die Ein- und Ausfahrt der Wagen fand keine rechte Lösung. Das gesamte Vorhaben schien zu stocken.
Wohl um diese Zeit trat der Deutsche Auto-Club auf den Plan. Kaum zwei Jahre alt, dank seinem Bekenntnis zur Weimarer Republik deutlich in Stellung gebracht und in diesem Sinne von seinem Präsidenten Arthur Brandt wie von seinem Geschäftsleiter Adolf Hamburger geführt, hatte der DAC Serlins Projekt schon während seiner ersten Schritte gestützt. Nicht nur, dass der Klub die Einzel- und Sammelboxen des Autohauses pachten und seine Geschäftsräume in die Villa Schultze legen wollte; er ließ auch den Autoverkehr untersuchen und dabei prüfen, an welchen Verkehrsknoten Berlins der Bau von Garagen sich lohnen würde. Diesen Auftrag hatte Hermann Zweigenthal. Der Architekt las die Grundrisse von Garagen, stieß in Georg Müllers Buch »Grosstadt-Garagen« auf die Darstellung eines Patents der Ingenieure Richard Koch und Otto Kienzle: das Schema einer »Wendelrampe«, bei welcher dank doppelter, verschränkter
Richard Koch und Otto Kienzle, Schema einer Wendelrampe
Spiralen eine der beiden Rampen allein der Auffahrt, eine allein der Abfahrt dient. Durch dieses Prinzip, das bis dahin nur bei zwei größeren Garagen – 1925 in Budapest, 1929 in Rom – zur Anwendung gekommen war, wollte Zweigenthal dem Kant-Garagen-Palast aus der Not helfen. Er baute gar ein Modell, wohl weil er unter Beweis stellen wollte, wie faszinierend funktional eine Wendelrampe sein würde. Vielleicht standen sie eines Tages alle um dieses Modell: Brandt, Hamburger, Serlin, Zweigenthal. Vielleicht wusste der junge Mann die Vorteile der Anlage doppelter Spiralen so klug in Worte zu fassen, dass Serlin gar nicht umhinkonnte, den eloquenten Architekten zu engagieren.
Die Arbeit war keine leichte Sache. Zum Glück gewann Zweigenthal mit Richard Paulick einen Partner und mit Fritz Lazarus einen Helfer, auf die Verlass war. Alle drei waren Studenten der Technischen Hochschule Berlin gewesen, hatten gemeinsam das Poelzigsche Seminar besucht und waren gemeinsam diplomiert worden. Aus dem September 1929 gibt es zahlreiche Grund- und Aufrisse, Längs- und Querschnitte des Kant-Garagen-Palasts, jede Zeichnung mit dem Schriftzug »Architekten Lohmüller Korschelt Renker in Gemeinschaft mit Zweigenthal Paulick« versehen. In Wahrheit wurde das Projekt von nun an stärker durch Zweigenthal und Paulick als durch Lohmüller, Korschelt und Renker bestimmt. Das Gebäude wurde um zwei Geschoss höher; die vordere wie die hintere Fassade wurden gläserner. Im Mai 1930 stand der Rohbau fertig. Im Juni 1930 ging die mit der Ausführung betraute Kell & Löser Aktiengesellschaft aufgrund der Wirtschaftskrise in Konkurs. Serlin ließ das Bauwerk »mit äußerster Sparsamkeit« vollenden. Am 1. Oktober 1930 nahm der Kant-Garagen-Palast den Betrieb auf. Die ersten Chauffeure fuhren die Wagen ihrer Herren in das neue Haus.
Hermann Zweigenthal und Richard Paulick, Kant-Garagen-Palast, Ansicht von der Straße, rechts Villa Schultze
Zweigenthal und Paulick konnten Müllers Kritik vermutlich verwinden. Die jungen Herren hatten bei Hans Poelzig studiert, weshalb ihr Interesse nicht allein der Effizienz der Konstruktion, nicht allein der Ratio der Funktion, sondern auch der Architektur als Architektur, um nicht zu sagen der Baukunst galt. Wirft man von hier aus den Blick auf das Geschehen um das Gebäude, so war der größte Fehler, dass Serlin – wie erwähnt – die von Zweigenthal im Verein mit dem Deutschen Auto-Club ins Spiel gebrachte, durch ein Modell anschaulich erklärte Anlage der offenen, mittigen, doppelten Spirale verworfen und das der Erschließung dienende Gebilde erst verschoben, dann verschlossen hatte. Dass im Kern der Wendelrampe auf jedem Geschoss auf dem Grundriss eines Achtecks ein Waschplatz gebaut worden war, hatte dramatische Konsequenzen. Nun konnte einerseits der durch acht Stützen gefasste, zentrale Zylinder nicht mehr von hoch oben bis tief unten mit Taglicht versorgt, anderseits die Trennung von Auffahrt und Abfahrt der Wagen nicht mehr verspürt werden. Mit dem Verlust der Erscheinung der Bewegung, das heißt mit dem Verlust der Transparenz der Funktion – an der vorderen wie der hinteren Fassade vorbildlich
verwirklicht –, litt auch das Behagen der Benutzer. Es war nun, als ob man nicht mehr Herr des Raumes war und sich an mancher Stelle fragen musste: Wo bin ich?
Gewiss waren Zweigenthal und Paulick im Poelzigschen Seminar auch mit der Liebe des Meisters zu Treppen aller Art vertraut gemacht worden. Sie hatten die Windung und Wendung und die Wangen seiner Treppen sogar sehen und nutzen können, etwa im Kino Capitol nahe der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche und dem Romanischen Café, wo die Gruppe Junger Architekten (GJA) sich traf. Der Kant-Garagen-Palast hat drei Treppenhäuser: ein tiefes vorne rechts, ein spitzes etwa in der Mitte, ein freies hinten links. Ort dauernder kreisender Bewegung aber ist seine Wendelrampe. Für diese Treppe ohne Stufen fanden Zweigenthal und Paulick einen Vergleich, den sie ohne die Erfahrung des Poelzigschen Seminars kaum hätten finden und ziehen können. Es war der Vergleich mit der großen Treppe im Donjon von Schloss Chambord an der Loire. Entworfen vermutlich von Leonardo da Vinci und errichtet für König Franz I. von Frankreich, hat diese Treppe zwei Folgen von Stufen, eine Windung hinauf, eine Windung hinab; niemand soll niemand in die Quere kommen.
Teil der gläsernen Rückseite, rechts Fluchttreppe mit Bauschildern
Mit Methoden modernen Marketings – ›Ihr Chauffeur und Ihr Auto im Palast des Königs von Frankreich!‹ – suchten Zweigenthal und Paulick ihrer sachlichen Garage eine Aura von Luxus zu geben. Geschickt trugen sie den Vergleich mit einem Stück prominenter Architektur der Renaissance in die bürgerliche Öffentlichkeit. Ein Journalist des »Berliner Börsen-Couriers« bot ihn seinen Lesern schon Wochen bevor das Bauwerk fertig stand. Auch die Kritiker Ferdinand Eckhardt und Julius Posener, jener in der »Bauwelt«, dieser in »L’Architecture d’Aujourd’hui«, scheuten sich nicht, die Garage durch die Nennung von Chambord zu adeln. Der Vergleich griff nach den Sternen. Aber welcher Architekt hätte das in jungen Jahren nicht getan?
Amerika spielen
Nach dem Willen seiner Schöpfer sollte sich der Kant-Garagen-Palast unter die besten der neuen, funktionalen Architekturen in der Hauptstadt des Deutschen Reiches mischen. Sein historisches Interesse, außen der Bezug auf die typische Fassade des Berliner Mietshauses, innen der Bezug auf Schloss Chambord, war ein schönes Extra. Mehr nicht. Als Zweigenthal und Paulick aufgrund der Verwicklung des Geschehens
an der Kantstraße 126 und 127 im Juni 1930 die Chance hatten, für den rechten Teil des Doppelgrundstücks ein neues Projekt zu unterbreiten, war nur noch das aktuelle Interesse von Belang. Diesen Wandel zeigt nicht allein der Vorschlag, die Villa Schultze, deren äußere Erscheinung ganz und gar der Geschichte verbunden war, zu räumen und zu schleifen, sondern auch die Konzeption und Konstruktion dessen, was dort stehen sollte: statt der steinernen, monofunktionalen Villa die stählerne, omnifunktionale Box. Der Kontrast zwischen Gestern und Morgen hätte sich 1930 kaum schärfer zeichnen lassen. Was Zweigenthal und Paulick – die doch als Poelzigschüler auf Moderates gestimmt worden waren – plötzlich zu einer Architektur standardisierter Radikalität bewog, bedarf einer genaueren Erklärung. Es scheint, als ob ihr Entwurf für einen Neubau an der Kantstraße 126 mit dem Amerikanismus der späten zwanziger Jahre und seinem Einfluss auf die von Wagner und Reuter politisch geführte, urbanistische und architektonische Berliner Entwicklung zu tun habe.
Es waren Schriften wie Erich Mendelsohns »Amerika. Bilderbuch eines Architekten« 1926 und Richard Neutras »Wie baut Amerika?« 1927, die durch ihre schwarzweißen Aufnahmen einerseits der offenen stäh-
Hermann Zweigenthal und Richard Paulick, Kant-Garagen-Palast, Wendelrampe
lernen Skelette, anderseits der gigantischen Vertikalen in New York, Chicago und Detroit die innovativen Architekturen der USA in Berlin bekannt gemacht hatten. Während Mendelsohn auf seinen Fotos die ästhetische Attraktion der Wolkenkratzer bannen wollte, wollte Neutra seine Leser über das Material, die Konstruktion und die Produktion von Architektur in den Metropolen der USA informieren. Am Ende seiner von Sorgfalt geprägten Beschreibung der Entstehung des Hotels Palmer House in Chicago, eines in der Tat riesigen Gebäudes mit hohem Sockel und fünf breiten Türmen, kommt er zu dem Resultat, dass mit der Dominanz des neutralen stählernen Skeletts und des flexiblen räumlichen Programms die Tradition der Architektur auf dem Spiel stehe, dass aber nach »tausend Unsachlichkeiten und Unehrlichkeiten« – gemeint ist wohl die Relation von Tragwerk und Hüllwerk, von innen und außen –die Architektur zu einem neuen »lichten System« finden werde. Nicht dass Wagner um die Wende von den zwanziger zu den dreißiger Jahren in Berlin den Bau von Manhattan skyscrapers empfohlen hätte. Nein, er war Gegner selbst kleinerer Hochhäuser. Was er aber mehr als nur mochte, war das Rationelle, das Effiziente, das auf die
Dynamik des Kapitals Fixierte der urbanen Strukturen in den großen Städten der USA. Seine auf 1928 und 1929 datierten Planungen für den Alexanderplatz sahen diesen Ort als einen Ort der Verkehrsschneisen und Verkehrsschleusen. In der Zeitschrift »Das neue Berlin« sprach er von der »Amortisation« der Bauten binnen fünfundzwanzig Jahren und davon, dass Berlin den »Weltstadtplatz« Alexanderplatz nach dieser Spanne völlig neu planen, völlig neu bauen müsse. Daher dürften die um seine Ränder stehenden Gebäude nicht für die Ewigkeit entworfen werden. Wenig später, in einem Aufsatz aus dem Jahr 1932, würde Wagner so reserviert wie fasziniert von der Kurzatmigkeit und Schnelllebigkeit künftiger städtischer Geschichte sprechen und das Ideal des Variablen mit dem Ideal »wandernder« Gebäude auf die Spitze treiben. Von diesem Leitbild wurden auch Zweigenthal und Paulick bewegt. Statt der Villa Schultze wünschten sie einen kleinen, klaren Körper von zwölfeinhalb Metern Breite und sechzehneinhalb Metern Tiefe. Das »Eisenfachwerk« im Vier-Ständer-System mit zwölf Stützen außen und vier Stützen innen hätte jene »wechselnden« Nutzungen erlaubt, die Zweigenthal und Paulick in ihrer Beschreibung des Gebäudes erwogen:
Wendelrampe zwischen drittem und vierten Geschoss
im Erdgeschoss ein Restaurant oder eine Kantine für Chauffeure sowie ein Laden; im ersten und zweiten Obergeschoss je eine Fünf-ZimmerWohnung mit Mädchenkammer, Küche und Bad; im dritten bis fünften Obergeschoss ein Hotel mit sechs Zimmern pro Etage. Natürlich hätten im Haus Kantstraße 126 auch das Büro eines Anwalts, die Praxis eines Arztes oder der Salon eines Friseurs Raum finden können. Alles hätte sich hinter einer Fassade aus Wand und Loch, aus grauen Verblendern und grauen Dreh- oder Kippfenstern verborgen. Die Reduktion der Architektur auf die Fertigung nicht näher bestimmer Gebäude – ›Container‹ mit mal dieser, mal jener Funktion – entsprach Wagners Gebot, sich dem schnellen Leben der Stadt zu fügen.
Wie gut, dass Berlin doch nicht so schnell wurde, wie Wagner dachte. Vielleicht ist es nur der Dauer im Wandel zu verdanken, dass der Kant-Garagen-Palast noch steht. Auch wenn er das Pathos seines Namens schon vor langem verlor und heute nurmehr nüchtern Kantgarage heißt.
Rundlauftor zur Schließung und Öffnung der Boxen
ARCHITEKTEN UND ARCHITEKTUR IN LONDON
1935–1939
»So schlechter Stimmung ist er nicht immer. Er hat, wie Sie so richtig vermuten, neue Pläne. Einer wird schon mal werden. So leicht geben wir den Kampf nicht auf.« Diese knappen Sätze schreibt Dorothee Zweigenthal im Anhang eines Briefes, den ihr Mann am 10. März 1935 an Fritz Jaenecke richtet, der wie Hermann Zweigenthal nicht allein das Poelzigsche Seminar, sondern auch die Treffen der Gruppe Junger Architekten (GJA) besucht hat.
Im selben Monat erhält Wally von Strakosch-Feldringen – die ihrer Tochter Lilly und ihrem Schwiegersohn Heinrich den Um- und Neubau der Wohnung im Hause Arthur Schnitzlers zur Hochzeit geschenkt hat –von Zweigenthal ein schönes Präsent: eine Mappe aus Pappe und Leinen und Bütten, darin auf zehn beigen Kartons zehn Fotos der neuen Wohnung, von denen manches im August 1935 in der Zeitschrift »Innen-Dekoration« gedruckt werden wird.
Doch da leben die Zweigenthals schon nicht mehr in Wien. Dass sie Österreich verlassen, hat mit der katastrophalen ökonomischen Situation, mit dem Austrofaschismus und mit der durch die Berliner Erfahrung geschärften Wahrnehmung der gefährlichen Lage des Landes zu tun. Via Basel und Paris treffen die Zweigenthals am 11. Mai 1935 in London ein.
Leben in der Fremde: Die persönliche Lage Nach ihrer Ankunft stand die junge Familie nicht allein. Denn schon seit Mitte 1933 lebte Käthe Liepmann, eine der beiden Schwestern Dorothee Zweigenthals, in der Kapitale Britanniens. Käthe Liepmann war es wohl auch, die ihrer Schwester und ihrem Schwager bei den ersten Schritten des neuen Lebens in der Fremde half. Zöge man allein die vier Londoner Adressen der Zweigenthals in Betracht, müsste man glauben, dass der Immigration die Integration binnen kaum drei Jahren gefolgt sei. Die erste Wohnung lag im Haus 17a, Stanley Gardens, Willesden Green, London NW2; die zweite Wohnung lag im Haus 49, Compayne Gardens, South Hampstead, London NW6; die dritte Wohnung lag im Haus 58, West End Lane, South Hampstead, London NW6. Am 21. März 1938 aber zogen die Zweigenthals noch einmal um, diesmal in die linke Hälfte des Doppelhauses 20, Carlton
Tom Eckersley und Eric Lombers, Einband »The Modern House in England«, 1937
Hill, St. John’s Wood, London NW8. Erbaut in einem Vorort, den der Architekturhistoriker John Summerson zu ebenjener Zeit »London’s most humane suburb« nannte, ist die Bausprache des Wohnhauses –kubischer Charakter, Ziegel zwischen Gelb und Braun und Schwarz, matte, beige Gewände von Türen und Fenstern – leicht als Late Georgian oder Early Victorian, das Gebäude leicht als ein Werk der Jahre nach 1850 zu erkennen. Was das Befinden der Zweigenthals betrifft, so zeugte das Pachten eines so herrlichen Wohnhauses mit Keller-, Erd-, Ober- und Dachgeschoss einerseits, mit zwei Wohn- und Empfangsräumen, sechs Schlafzimmern, zwei Bädern und Räumen für das Personal anderseits von der Hoffnung auf eine neue Heimat, wo sich – mit der noch in Ascona lagernden häuslichen Einrichtung –vielleicht sogar auf großem Fuße würde leben lassen.
Ansicht von Nordosten
dem Eigenen. Das ist beim Landhaus Scrutton in Virginia Water so; das ist beim Stadthaus Jolowicz in London so. Im zweiten Fall, um es gleich zu sagen, meistert er das Balancieren zwischen Identität und Alterität auf selten hohem Niveau.
Landhaus Scrutton in Virginia Water
Wiewohl im Britannien der zwanziger und dreißiger Jahre der Siedlungs- und Wohnungsbau für die Mittelschicht weitgehend von Unternehmen wie den Davis Estates beherrscht wurde – in der Londoner Umgebung standen an zig neuen schmalen Straßen neue hübsche Häuser mit nutzbaren Grundrissen unter artigen Walmdächern –, ließen sich doch einige Bauherren auf das Abenteuer der Architektur des Modernismus ein, gaben Mitgliedern der MARS Group den Auftrag zum Entwerfen und Ausführen von Wohnhäusern, die einem Le Corbusier gefallen hätten. Allerdings wird an manchem Beispiel klar, mit wel-
chen Protesten solche Projekte zu rechnen hatten. Allein die Planung von Goldfingers Reihenhäusern 1–3, Willow Road entfachte 1937 stürmische Entrüstung in Zeitungen und Zeitschriften; weshalb es nicht wundert, dass Goldfinger, immerhin ein Architekt mit Renommee, außer den drei kleinen Häusern an der Heide von Hampstead bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nur ein einziges weiteres Gebäude errichten konnte.
Wenn man die Erfahrung Goldfingers zum Maßstab nimmt, dann hatte Zweigenthal Glück. Denn schon nach einem Jahr in London bekam er den ersten Auftrag. Dabei ging es um den Bau eines Hauses für Herrn und Frau Scrutton in Virginia Water. Dank seiner Mischung aus Dorf und See und Park, dank auch seiner Nähe zur Hauptstadt London war Virginia Water im neunzehnten Jahrhundert ein Ort so arkadischer wie romantischer Artefakte geworden. Dort ein Anwesen zu besitzen – vor allem eines unter den Bäumen und Sträuchern der Siedlung Wentworth,
das Olympia 1886, die Empire Hall des Olympia 1929, den Earls Court 1937. Das Medium Ausstellung hatte in der Spanne zwischen den Kriegen enorme Bedeutung, nicht allein unter wirtschaftlichen, sondern auch unter künstlerischen Gesichtspunkten. Die »Ideal Home Exhibition«, die »Building Trades Exhibition« und die »British Industries Fair« fanden alle Jahre wieder statt. Die Aufgabe der Gestaltung von Hallen und Ständen zog mit Misha Black, Joseph Emberton, Ernö Goldfinger, Oliver Hill, Raymond McGrath, László Moholy-Nagy, Basil Spence, Thomas S. Tait und Rodney Thomas die besten Entwerfer an.
Dass sich nun auch Zweigenthal diesem Thema zu widmen begann, folgte aus seinem Kontakt zum Royal Institute of British Architects (RIBA), wo er sich, wie alle immigrierten Architekten, die Erlaubnis zum Arbeiten beschaffen musste. Im Herbst 1935 machte er dort die Bekanntschaft von Ronald A. Duncan. Geboren 1889 und also weit älter als Zweigenthal, hatte Duncan an der Architectural Association (AA) School of Architecture gelehrt, hatte sich um 1930 vom Historismus entfernt – zwei Häuser in Hampstead und Edgware demonstrierten wenig später seine Wendung zu einem moderaten Modernismus –und hatte 1933 ein Buch unter dem Titel »The Architecture of a New
Era. Revolution in the World of Appearance« publiziert, in welchem er das Wohnhaus in Hampstead zwischen Peter Behrens und Le Corbusier in Stellung zu bringen wagte. Als Zweigenthal mit Duncan ins Gespräch kam, war dieser auch im Büro- und Fabrikbau tätig und eben mit dem Entwurf einer zentralen Garage für die Londoner Polizei beschäftigt. Zugleich fungierte der agile Architekt als Honorarsekretär eines Komitees, das die auf Wanderschaft gehenden jährlichen Ausstellungen des RIBA betreute.
Die erste dieser Ausstellungen hatte das RIBA im Herbst 1934 in seinem neuen Haus am Portland Place gezeigt. Wie dessen Architektur durch die feine Mischung von Klassizismus und Art déco auf Äquidistanz zu reinem Historismus und reinem Modernismus ging, so waren auch die dort präsentierten Ausstellungen lange darauf bedacht, ihre Botschaft nur nicht in diese oder jene Richtung zu schärfen, sondern artig in der Mitte stehen zu bleiben. Dass Zweigenthal der Einladung zur Mitarbeit an der Ausstellung »Modern Schools« dennoch ohne Zögern folgte, ja dass er Duncan dankbar war, auf diese Weise mit dem einflussreichen RIBA näher in Kontakt zu kommen, steht außer Frage. Die Schau bot gut 250 Fotos und einige Modelle neuer Schulen in
Britannien, Frankreich, den Niederlanden, der Schweiz, den USA und Palästina. Wiewohl nur vom 12. bis 19. Oktober 1937 zu sehen, zogen die »Modern Schools« mehr als zweitausend Besucher an.
»Road Architecture«: Ausstellung im Entstehen
Am 26. Oktober 1937, eine Woche nachdem die Fotos und Modelle der neuen Schulen auf Wanderschaft gegangen waren, schrieb Zweigenthal an Duncan, er wolle auf seinen alten Vorschlag einer Ausstellung zum Thema Straßenverkehr zurückkommen. Es handele sich um eine »Sache von äußerster Bedeutung«. Man müsse bloß einen Blick in gleich welche Tageszeitung werfen, um zu spüren, wie groß das Interesse der Öffentlichkeit an diesem Problem sei. »Ich möchte«, so Zweigenthal, »lediglich das Aufsehen erwähnen, das der Minister für Transportwesen vor einigen Monaten im Unterhaus erregte, als er seine Absicht kundgab, das Parken von Autos in der Londoner Innenstadt zu verbieten.«
Schon bald nahm das RIBA die Offerte Zweigenthals an. Nach dem Urteil zweier Briefe – einer vom 9. November 1938, einer vom 7. März 1939 – war der Architekt, Designer und Immigrant nicht weniger als
der Urheber der Idee, des Konzepts und weiter Teile des Inhalts der später »Road Architecture. The Need for a Plan« genannten Schau. Sir Ian MacAlister, Generalsekretär des RIBA, dankte Zweigenthal mit den Worten: »Mir ist klar, wie schwierig es ist, das Thema durch eine Ausstellung zu vermitteln. Ich kann daher gar nicht sagen, wie froh wir sind, Ihre Erfahrung nutzen zu dürfen.« Und Derek Lawley Bridgwater, Vorsitzender der Arbeitsgruppe »Road Architecture Exhibition«, hatte keine Scheu, frank und frei zu äußern, das RIBA habe diese Ausstellung allein aufgrund des enormen Engagements von Zweigenthal projektiert: »In der Tat war die Schau Ihr Ding.«
Von den siebzehn, in der Mehrzahl jüngeren Mitgliedern der Arbeitsgruppe hatten die meisten den Beruf des Architekten, darunter übrigens Ward, den Zweigenthal durch die MARS Group kannte. Nicht allein, weil hier die Vorstellung von einer Ausstellung als einer bloßen Folge schöner Fotos und Modelle verlassen, sondern auch, weil hier die Präsentation von Architekturen mit einem klaren Inhalt, ja einer klaren Botschaft verbunden wurde – im »Journal of the Royal Institute of British Architects« ist von der Schau als einer »mutigen Äußerung« die Rede –, hielt das RIBA die »Road Architecture Exhibition« vom März 1939
PLANEN UND BAUEN
AUF LONG ISLAND
1946–1953
In den zehnten Neudruck und die dritte Fassung seines einflussreichen Buches »Raum, Zeit, Architektur« nahm Sigfried Giedion 1954 einen langen Passus unter dem Titel »Walter Gropius in Amerika« auf. Darin gönnt er dem deutschen Architekten die Rolle dessen, der die Architektur der USA – nach den konstruktiven und ästhetischen Höhepunkten der Louis H. Sullivan und Frank Lloyd Wright – vor dem Scheitern in Historismus und Beaux arts bewahrt, ja sie endlich aus dem »merkantilen Klassizismus« des neunzehnten in den Modernismus des zwanzigsten Jahrhunderts geführt habe. Dabei scheut sich der Schweizer Architekturhistoriker nicht, einen großen Vergleich zu wählen. Er meint, auch andere Kulturen hätten einmal der Hilfe von außen bedurft, etwa das Frankreich der späten Gotik durch das Italien der frühen Renaissance.
Dass Gropius den Helden nicht spielte und Giedion mit jenem Passus einen Mythos schuf, haben Forscher längst erkannt. Dass sich auf denselben Seiten des Buches aber auch Sätze finden, die Teilen der Wahrheit der kulturellen Konnexion zwischen Europa und Amerika sehr nahe kommen, wird wegen der Gropius-Legende leicht überlesen. Giedion schreibt, wen es in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in die USA gezogen habe, der sei dort binnen kurzem ein echter Amerikaner geworden. Die Immigranten der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts jedoch seien in den USA, auch mit Pass, ein Leben lang Fremde geblieben, weil der Kontinent zwischen Atlantik und Pazifik mit der Zeit einen durch und durch eigenen Charakter gebildet und auf diese Weise ein Stück seiner früheren Offenheit verloren habe.
Vor allem in Bezug auf die Perspektiven immigrierter Architekten weiß Giedion zu klagen: In Amerika komme für einen großen Auftrag nur eine große Firma mit Hunderten von Kollegen in Frage. Kleine Büros – »wie wir sie gewohnt sind«, fügt der Autor kritisch hinzu – hätten dort »einen schweren Stand«.
Neue Existenz
als Architekt
Auch Hermann Herrey hatte – nach mühsamen Anfängen erst in Berlin, dann in Ascona, dann in Wien, dann in London – in den USA zum fünften Mal wie die Figur auf dem Spielbrett auf ›Los!‹ gehen müssen.
Nach langem Warten war er am 6. Januar 1943 als Architekt mit Erlaubnis zum Arbeiten im Staat New York registriert worden. Aber noch bevor ihm das Papier mit der Lizenz geschickt worden war, hatte Herrey den Neurologen Paul A. Hoefer, Freund seiner Frau aus alten Tagen in Berlin, durch ein längeres, höfliches Bitt- und Dankschreiben wissen lassen, er könne mit dem amtlichen Dokument »zur Zeit praktisch gar nichts machen«.
Nach den beiden Vorträgen über Theater, gehalten an der Graduate School of Design (GSD) der Harvard University in Cambridge, hatten volle zwei Jahre ins Land gehen müssen, bis Herrey in seiner Funktion als Architekt wieder öffentlich hatte erscheinen können. Mit der Autorität des Vorsitzenden der Abteilung Architektur der GSD hatte Gropius Anfang 1943 ›seinen‹ Absolventen Wilhelm Viggo von Moltke und ›seinen‹ Doktoranden Hermann Herrey ersucht, bei einer Medienkampagne zu helfen, die das »Packaged Building« der jungen, kleinen General Panel Corporation in möglichst weiten Kreisen bekannt machen sollte. Moltkes Beitrag steht in Heft 4/1943 der Zeitschrift »Architectural Record«, Herreys Beitrag in Heft 4/1943 der Zeitschrift »The New Pencil Points«. Was die beiden Texte differenziert, ist ihr Engagement. Herrey sucht den Leser schon durch den einer Fanfare ähnlichen Titel für das neue System von Wohnhäusern aus Holzplatten zu gewinnen. Mit der Reihenfolge der Namen – es heißt: »Konrad Wachsmann and Walter Gropius« – würdigt er Wachsmann als den eigentlichen Schöpfer des Entwurfs und kommt dann auf die spezifischen Qualitäten dieser industriell fabrizierten Architektur zu sprechen: Böden und Decken und Wände würden aus nur zehn Typen von Platten montiert; Türen und Fenster seien Teil dieser Platten; als Scharnier zwischen den Kanten von je zwei bis vier Platten diene ein raffiniertes metallisches Objekt; zum Aufbau brauche man nur einen Hammer, zum Abbau nur eine Zange. Ob der in Text und Bild auf Anschauung bedachte Artikel dem Autor irgend nutzte? Ob er zu irgendeinem Kontakt führte? Wohl kaum. Herrey fand erst nach Ende des Krieges die Möglichkeit, ein Büro unter seinem Namen zu gründen. 1946 bezog er Räume in der obersten Etage des Hochhauses unter der Adresse 119 East 57th Street nahe der Ecke
Hermann Herrey, Haus Mautner, Ansicht von Nordwesten
konstruierte, wohl ponderierte, also nicht ganz symmetrische Architektur von drei Flügeln und einem Anbau. Der längere, breitere Westflügel unter dem Schrägdach dient dem Wohnen; der kürzere, schmalere Ostflügel unter dem Flachdach dient dem Schlafen; der Nordflügel dient dem Fassen des Hofes mit Blick auf das Meer und weiteren Nutzungen, die sich aber außen nicht mit derselben Klarheit zeigen wie die Nutzungen des West- und des Ostflügels. Zeichen maritimer Architektur am Kopf des einen wie des andern dieser beiden Flügel – im Westen das Bild des Strandkorbes, im Osten das Bild des Bullauges – weisen wie Etiketten dort auf das Wohnen, hier auf das Schlafen am Wasser. An der Westseite des Westflügels kommt die erwähnte Bereitschaft zu »Ehrlichkeit« und »Sichtbarkeit« zu ihrem schönsten Ausdruck. Links und rechts des Eingangs sollen Stein und Holz und Glas durch ihre mal harten, mal weichen, mal rauen, mal glatten, mal dunklen, mal hellen Oberflächen sowie durch ihre scharfe Trennung das gesamte Gebilde lesbar machen. Beherrscht wird die Westwand von zwei Elementen: dem Kamin und dem Schrägdach. Gleich rechts des Eingangs zieht eine Mauer von Norden nach Süden, ragt an der Stelle mit dem Schornstein weit vor und hoch
auf, führt außerhalb des Gebäudes auf einen Streifen Sandes, knickt nach Osten und gibt auf diese Weise der Terrasse ihre Fassung. Das dank seiner ästhetischen und konstruktiven Autonomie einer Ruine oder einem Stück Land Art verwandte Gemäuer verbindet Innenraum und Außenraum. Dass zu dieser Verbindung auch der ›Strandkorb‹ – will sagen das Vordach des Schrägdachs mit seinen dünnen, schrägen Stützen – einen Beitrag leistet, steht außer Frage. Die 4,16 Meter hohe Kante des Vordachs bricht die lange Steigung des Schrägdachs, das einerseits auf dem Anbau des Hauses, anderseits auf zwei oder drei Paaren von Stützen ruht, von denen außen allein die feschen Rohre unter dem Vordach zu sehen sind. Als Ganzes scheint das Schrägdach zu schweben, da das Klarglas zwischen Wand und Dach nur wie ein Hohl- und Luftraum wirkt.
Aufgrund der starken Präsenz jener Partie, wo der Schornstein ragt und das Schrägdach durch den Winkel seiner Unterseite zum Flugdach wird, braucht der Eingang – will die Haustür nicht der Wahrnehmung entgehen – einen klaren Akzent. Herrey markiert die Stelle auf seine Weise. Er lässt einen Balken aus der Wand fahren und ihn auf einem Baumstamm ruhen, der zwar der mächtigen Erscheinung des Kamins
ein Kontra bietet, doch den naturnahen Elementen der Architektur sich fügt. Balken und Baumstamm sind, konstruktiv betrachtet, ohne Belang. Umso mehr fungieren sie als Zeichen mit der Botschaft ›Komm her, hier geht’s rein‹. Kein Gropius, kein Breuer hätte eine solche Idiosynkrasie gewagt. Allein den beiden Gipsen der Karyatiden des Erechtheion, mit denen Berthold Lubetkin das Vordach des Apartmentgebäudes Highpoint II in London schmückte, eignet etwas ähnlich Fremdes.
Drei Flügel, zwei Flügel
Wer Haus Mautner betritt, betritt mit dem ersten Schritt auf den rauen Platten des Bodens einen kleinen Windfang, von dessen Podest drei Stufen nach rechts in den Vorraum des Wohnraums leiten. Hier schon zielt der Blick durch Scheiben, die vom Boden zur Decke reichen, über ein paar flache Möbel auf den Hof und den Strand. Solche für die Avantgarde der Architektur um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts typische Bewegung erst von außen nach innen, dann von innen nach außen ließ Kritiker immer wieder schreiben, die Bewohner transparenter Architektur stünden wie auf der Bühne und müssten dauernd ein quasi öffentliches
Ansicht von Südwesten
Ansicht von Südosten
Leben führen. Bei einem Architekten wie Herrey aber, dem die Differenz zwischen dem Publiken und dem Privaten wie zwischen dem Privaten und dem Intimen schon beim Entwurf von Haus Jolowicz viel wert war, trifft dieser Vorwurf nicht. Denn alle größeren gläsernen Partien von Haus Mautner weisen in Außenräume, deren privater Charakter dank der Umschließung durch die Flügel des Hauses vor Neugier geschützt bleibt. Auch die Innenräume wissen zu trennen. Wiewohl sie den Eindruck eines spatialen Kontinuums machen, scheiden sie – in langsamer Bewegung von der Spitze des Flügels im Westen zu der Spitze des Flügels im Osten – Tagraum und Nachtraum. Anders, als die Wahrnehmung des Äußeren suggeriert, offeriert das Innere eine Anlage eher von zwei als von drei Flügeln. Diese Gliederung des Gebäudes in eine übereck führende Tag- und eine übereck führende Nachtseite samt der Stufung vom Publiken zum Privaten, vom Privaten zum Intimen wird durch ein Detail forciert, das beim näheren Anschauen des Grundrisses vor Augen tritt: der kleine Vorsprung einer Holzwand, welche die Küche vom Gästezimmer trennt und zugleich die Mittelachse zwischen dem linken und dem rechten Flügel des Ganzen bildet.
ÜBER DEN AUTOR
Rudolf Stegers, geboren 1952, studierte Germanistik und Romanistik in Münster und Berlin. Von 1978 bis 1988 war er Redakteur erst bei der Zeitschrift »Werk und Zeit« des Deutschen Werkbunds, dann bei der Zeitschrift »Ästhetik und Kommunikation«. Seither ist er freiberuflich als Kritiker, Redakteur und Lektor vor allem im Bereich der Architekturpublizistik tätig. In den 1990er Jahren veröffentlichte er zahlreiche Aufsätze über die städtebauliche und architektonische Entwicklung Berlins. Er ist Autor einer 2000 in der Reihe »Bauwelt Fundamente« publizierten Monographie über den Kirchenbauer Rudolf Schwarz, »Räume der Wandlung, Wände und Wege«. Zusammen mit Romana Schneider war er 2002 Kurator der Ausstellung »Glück Stadt Raum. In Europa 1945 bis 2000« der Akademie der Künste Berlin und einer der Autoren des gleichnamigen Katalogs. 2008 erschien von ihm bei Birkhäuser unter dem Titel »Entwurfsatlas Sakralbau« ein Handbuch. 2010 erschien die international orientierte »Bibliographie Sakrale Gebäude. Kirchen, Synagogen, Moscheen, Häuser der Stille, Friedhofsbauten. 1970–2009«.
Hermann Herrey, geboren als Hermann Zweigenthal in Wien, studierte von 1924 bis 1927 mit Egon Eiermann und Julius Posener bei Hans Poelzig Architektur. Bekannt wurde er 1930 als Architekt der Kantgarage in Berlin. Aber es verdanken sich ihm auch Wohnungseinrichtungen sowie Bühnenbilder, darunter 1932 für »Faust« mit Gustaf Gründgens. 1933 emigrierte er und arbeitete – nach Stationen in Ascona, Wien und London – ab 1940 in den USA, wo er als Stadt- und Verkehrsplaner auf sich aufmerksam machte. 1955 kehrte er nach Berlin zurück und trat als Theaterregisseur hervor. Für seine Regiearbeiten erhielt er 1959 den Deutschen Kritikerpreis. Seit 1960 wieder in den USA, baute er in Brookline ein großes Wohnhaus und legte einen visionären Plan für Manhattan vor.
Diese längst überfällige Publikation leistet eine umfassende Darstellung von Herreys Werk und Leben und lädt zur Entdeckung ein. Vielfältige architektonische und künstlerische Verbindungen Herreys werden aufgefächert. Dabei entsteht ein lebendiges Panorama der Architekturund Theaterlandschaft des zwanzigsten Jahrhunderts.