Biorama #52

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35 dische Gruppen zu einer sesshaften, agrarischen Gesellschaft geworden sind. Und dann noch einmal, als die natürliche Grenze der landwirtschaftlichen Produktivität überwunden wurde – durch ein neues Energiesystem, basierend auf fossilen Brennstoffen. Diese zweite »große Transformation« der Geschichte haben wir in Europa seit ein paar Hundert Jahren hinter uns. In den reichen, industrialisierten Ländern des globalen Nordens vergisst man deshalb oft, dass ungefähr zwei Drittel der Weltbevölkerung in den Ländern, die nach westlichen Standards noch nicht entwickelt sind, diesen Umbruch gerade erst durchlaufen, während wir schon von der dritten großen oder sozialökologischen Transformation sprechen – einem Wandel in die Zukunftsfähigkeit.

WORÜBER WIRD NOCH GESTRITTEN? Die Notwendigkeit einer umfassenden Veränderung ist von Wissenschaftlern wie politischen Beratern weitgehend anerkannt. Die ökologische bzw. multiple Krise ist allgegenwärtig, es muss etwas getan werden. Aber wie soll das genau aussehen? Drei Fragestellungen zur Transformation:

duktivitätsbegrenzung in der Landwirtschaft nur indirekt. Als globaler Umbau der Gesellschaft war keine dieser Entwicklungen geplant. Doch jetzt müsste ein Wandel verstandesgemäß, demokratisch legitimiert und gesteuert erfolgen – etwas, das noch nie dagewesen ist. Es ist unklar, ob so eine international koordinierte Veränderung überhaupt geplant durchgeführt werden könnte, und wenn ja, von welchen Akteuren.

WELCHE WERTE SIND ZUKUNFTSFÄHIG? Besonders die Frage, ob eine Transformation innerhalb unseres kapitalistischen Wertesystems möglich ist, gibt Diskussionsstoff. Andreas Novy, Leiter des Institute for Multi-Level Governance and Development, zweifelt daran: »Ich bin überzeugt, die Transformation muss über den Kapitalismus hinausgehen. Die Erfolgsfaktoren des Kapitalismus machen sie ja erst nötig. Kapitalismus ist nicht böse. Aber seine Logik der Expansion und Ausgrenzung sind ein Gefahrenpotenzial für die Zivilisation. Die Herausforderung ist, ihn zu überwinden, obwohl er Vorteile hat.«

WO STEHEN WIR?

Wenn es darum geht, ein Zukunftsbild für alle zu entwerfen, müssten auch die Meinungen aller Völker zählen. In wirtschaftsstarken, historisch gewichtigen Nationen wird das gern vergessen und im Alleingang an einem Idealbild gebastelt. Die brasilianische Aktivistin Moema Miranda sieht das als Problem der Kolonialisierung, die in vielen Köpfen noch immer festsitzt: »Es ist für Europa bequem zu denken, dass es eine Entwicklung vorlebt, die für alle gut ist. Dieses Narrativ der Erleuchtung aller ist sehr stark, aber wirklich nicht wahr.« Können wir das planen? Zur Sesshaftwerdung hat sich die Menschheit nicht aktiv entschlossen, auch zur Auflösung der Pro-

Komplex ist das Ganze also, vielschichtig und langwierig. Wir wissen, es gibt Probleme, humanitäre und ökologische. Wir wissen, es ist dringend. Wir kennen umwelt- und entwicklungspolitische Bewegungen, die jeden Tag für unsere Zukunft kämpfen. Noch besser kennen wir wahrscheinlich die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die Wandel blockieren. Wie schaffen wir es, eine Transformation zu erwirken, die mehr Nachhaltigkeit und mehr soziale Gleichheit bringt? Ein Redner bringt es auf den Punkt: Für vieles haben wir heute keine Lösung. Aber zumindest das Bewusstsein wächst. Das muss es auch, wenn nicht »neben uns die Sintflut« kommen soll, wie Stephan Lessenich sie schon in einem Buch beschrieben hat.

INDUSTRIELLE REVOLUTION (VOR CA. 250 JAHREN)

SOZIALÖKOLOGISCHE TRANSFORMATION

In der agrarischen Gesellschaft wird Ernte mittels Arbeitskraft und Materialien erzielt. Output wird über die Arbeitskraft gesteigert. Produktivität ist nun nicht mehr natürlich begrenzt. Durch ein neues Energiesystem, auf fossilen Brennstoffen wie Torf und Kohle, später Öl und Gas basierend, wird diese Grenze überwunden.

Der nachhaltige und weltweite Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft soll Produktion, Konsummuster und Lebensstile verändern. Ein gutes Leben für alle soll in einer nachhaltigen, zukunftsfähigen Gesellschaft möglich sein. Es wäre die erste geplante und gesteuerte große Transformation der Menschheitsgeschichte.

WOHIN WOLLEN WIR?

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