BioTechnologie Kursbuch N o 36
DAS JAHRBUCH
Die Deutsche Biotech-Branche
OECD: Dedizierte Biotech-Firmen in D Biopharma-Standort DACH-Region
KI revolutioniert Wirkstoffforschung
Was lernen wir aus der Pandemie?
Biodiversität und Biotechnologie
Die Fossilwirtschaft im Wandel Michael Carus im Gespräch
Zukunft zellfreie Bioproduktion
Fachkräfte verzweifelt gesucht
Interviews: Vier Einblicke
Neue Videos: Vier Biopioniere
ISBN 978-3-928383-88-2 | 30 € | 33 SFr.
Inserentenverzeichnis
Investitionsklima?
It‘s the economy, stupid!
Die gute Nachricht vorneweg: Die deutsche Biotechnologie-Branche wächst weiter! Wie Sie, verehrte Leser, auf den Seiten 11ff ausführlich lesen können, geht es kontinuierlich weiter aufwärts – wenn auch nicht mit so einer Wachstumsrakete wie in den Corona-Jahren. Der klassische Indikator, die Zahl der dedizierten Biotech-Unternehmen – bewegt sich langsam, aber sicher auf die Zahl 1.000 zu. So weit, so positiv. Aber ist das die industrielle Revolution, die uns 1985 auf der weltersten Biotechnik-Messe in Hannover versprochen wurde? Nö, ist man versucht, den wenig bis nichts (-) sagenden Bundeskanzler zu zitieren. Aber wer sein Brot und vielleicht sein Heil in der Biotechnologie verdient beziehungsweise sucht, ist ja grundsätzlich ein Optimist.
Andreas Mietzsch HerausgeberDie aktuell größte Krise dieses Jahrhunderts lässt die Menschheit mit höchster Dringlichkeit nach Lösungen suchen: die Klimaerwärmung und ihre Folgen für den Planeten. Da ist es doch eigentlich unfassbar, dass ausgerechnet die Biotechnologie in der aktuellen politischen Diskussion so gut wie gar keine Aufmerksamkeit mehr bekommt. Zum Beispiel „grüner Wasserstoff“ – was soll denn an schnöder Elektrolyse bitteschön grün sein? Jahrzehntelang wurde behauptet, es sei vor allem der niedrige Ölpreis, der die Biologisierung der Industrie verhindere. Jetzt, da klar ist, dass das Verfeuern all des schönen Öls das Ende unserer Zivilisation bedeuten würde, müsste es doch endlich losgehen mit der industriellen Revolution. Stattdessen wird gelabert, taktiert, und der CO2-Ausstoß wächst noch immer.
Wenn man ehrlich ist, haben auch frühere Revolutionen immer ihre Zeit gebraucht, bis sie wirkten. Hoffentlich haben wir diese auch diesmal. Und Demokratie ist nun mal anstrengend: Lieber ein unwürdiges Gezerre um Wärmepumpen als ein „Führer“ à la Putin mit seinen „Spezialoperationen“ oder einen Erdogan, der dekretiert, dass man Infation mit Zinssenkungen zu bekämpfen hat. Was aber nicht bedeutet, dass man in Deutschland nicht den Finger in die strukturelle Wunde legen darf: Die Mehrheit der insgesamt alternden Bevölkerung hat
sich vollkommen von der Vorstellung verabschiedet, dass man Wohlstand (und Nachhaltigkeit) auch verdienen muss. „It‘s the economy, stupid!“ rief schon Bill Clinton. Bei uns erstickt heute die Wirtschaft in einer wuchernden Bürokratie, während die Jungen im Home Offce ihre Work-Life-Balance zelebrieren. Im Staatsrundfunk dreht sich alles nur noch um Gender- und Sozialfragen. Die Alten wollen vorderhand ihre Renten-Jahrzehnte in Ruhe genießen. Die Regie rungsparteien raufen sich nur noch quid pro quo zusammen. Alles überspitzt und vereinfacht, das gebe ich zu. Aber lachen sich nicht die jungen, hungrigen Länder ein Loch in den Bauch über die angeblich so schlauen und feißigen Deutschen, die mit Nullwachstum abgehängt sind und nix mehr gebacken kriegen? Dazu passt, dass nach einer Umfrage der Familienunternehmer 44% derselben eine neue Firma nur noch im Ausland gründen würde.
Um das Maß voll zu machen, gibt es auch noch einen wissenschaftsfeindlichen Trend, der durch die Kakophonie im allumfassenden Internet gefördert wird. Das Nichtwissen fördert nicht nur eher harmlosen Unsinn wie die Homöo pathie oder Angebote für angebliche Penisvergrößerungen, sondern leitet auch Fördermittel fehl: In diesem Jahr hob die prominenteste Untote, die Kernfusion, wieder ihr grausliches Haupt. Wen interessiert, dass wir schon einen funktionierenden Fusionsreaktor haben, der uns in einer Stunde (!) mit dem gesamten Energiebedarf der Menschheit für ein ganzes Jahr versorgt?
Trotzdem geben wir zig Milliarden dafür aus, die Sonne im Miniaturformat nachzubauen. Warum schaffen die Fusions-Lobbyisten das, während von jenen der Biotechnologie wenig bis nichts zu sehen und zu hören ist?
Die CO2-Bepreisung ist unser Booster
Bei dieser Gemengelage ist es kein Wunder, dass zahlreiche Firmen über Finanzierungsprobleme klagen. „Wirtschaft ist zu 50% Psychologie“, befand schon Ludwig Erhardt. Um das Investitionsklima steht es nicht zum besten. Und doch gibt es reichlich Grund für Optimismus. Einige Beispiele: Biopharmazeutika haben sich auf breiter Linie durchgesetzt – nicht erst seit den mRNA-Impfstoffen in der Corona-Pandemie. Die Personalisierung der Medizin schreitet fort. Im Ernährungssektor werden neuartige Lebensmittel aus der Präzisionsfermentation nicht nur das Klimaproblem dämpfen, sondern auch die furchtbare Massentierhaltung zurückdrängen. Biofuels der nächsten Generation werden Flugzeuge und Schiffe antreiben. Der Joghurtbecher wird aus Bioplastik sein, das nur vier Wochen länger hält als der Inhalt. Mikroorganismen werden helfen, Rohstoffe im Kreislauf zu halten und neue Quellen zu erschließen. Und so weiter und so fort. Das Beste daran ist, all dies gibt es schon. Es ist schon auf dem Markt oder kurz davor. Findige Wissenschaftler, Förderer und mutige Investoren haben dies möglich gemacht. Die CO2-Bepreisung wird unser Booster sein. Was die deutsche Biotechnologie-Branche jetzt aber endlich lernen muss, ist, sich besser zu verkaufen. Wir brauchen dringend Konsumgüter, auf denen auch steht, dass Biotechnologie drin ist. Ein Siegel gibt es schon seit 2019.
Ein Kugelschreiber aus im Garten kompostierbaren Biopolymeren trägt das europäische Biotech-Siegel. www.biotech-label.net
Die deutsche BiotechnologieBranche wächst weiter
Der seltene Fall eines Kollateralnutzens: Die verheerende Corona-Pandemie katapultierte die deutsche Biotechnologie-Branche in die Wahrnehmung von Öffentlichkeit und Kapitalmärkten. Der von der Mainzer Biontech SE entwickelte mRNA-Impfstoff erwies sich als hochwirksam und ebnete den Weg für breit angelegte Impfkampagnen auf der ganzen Welt – nur so war es möglich, die Seuche zu überwinden. Die Pandemie stärkte das Bewusstsein für die Bedeutung der biotechnologischen Forschung, Entwicklung und Produktion, was die Investitionstätigkeit ankurbelte und zu einem beschleunigten Wachstum der Biotech-Branche führte.
Im Jahr 2022 felen die Investitionen zwar wieder deutlich geringer aus als im Vorjahr, denn durch das Abklingen der Pandemie und damit einer deutlich geringeren Nachfrage nach dem COVID-Impfstoff Comirnaty brach auch der Branchenumsatz ein, allerdings weniger stark als erwartet. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung stiegen auf eine neue Rekordhöhe. Insgesamt 3,33 Mrd. Euro investierten die Biotech-Unternehmen – allein drei Milliarden Euro fossen aus dem Gesundheitssektor in die Erforschung neuer Wirkstoffe, Technologien und Produkte beziehungsweise in die Verbesserung bestehender Innovationen.
Aber auch in anderen Tätigkeitsfeldern wird die Rolle der Biotechnologie immer deutlicher, etwa wenn es um die Nahrungsversorgung einer wachsenden Weltbevölkerung geht. Im Bereich nachhaltiger Materialien bieten biotechnologische Anwendungen ebenso innovative und klimafreundliche Lösungen wie beispielsweise bei Waste-to-Value-Ansätzen in einer Kreislaufwirtschaft.
Nicht nur die Investitionen in Forschung und Entwicklung sind enorm gestiegen, auch konnte eine große Zahl weiterer qualifzierter Mitarbeiter akquiriert werden, und trotz des schwierigen wirtschaftlichen Umfelds nahm auch die Gründungsdynamik an Fahrt auf. All das spricht für das starke Selbstbewusstsein und die große Innovationsfreude der Branche.
Dies belegen die Ergebnisse der Biotechnologie-Firmenumfrage 2023 der BIOCOM AG, die im Frühjahr die Kennzahlen des Jahres 2022 erhoben hat. Seit 37 Jahren analysiert BIOCOM die Entwicklung der Biotechnologie-Branche in Europa. Seit 2005 werden die jährlich erhobenen wichtigsten Kennzahlen der deutschen Biotechnologie-Unternehmen nach den Kriterien der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) international vergleichbar gemacht. Lediglich 2020 wurde die Datenerhebung aufgrund von COVID-19 ausgesetzt. Die im Folgenden genannten Zahlen und Grafken beziehen sich auf solche Firmen, die von der OECD als „dedizierte“ Biotech-Unternehmen defniert werden (mehr Informationen zur Methodik siehe Seite 24).
Umsatzrückgang –moderater als erwartet
Die Biotechnologie-Branche in Deutschland hat in den vergangenen Jahren ein kontinuierliches Wachstum erzielt. Wie erwartet, konnte der Umsatz des Jahres 2021 jedoch nicht weiter gesteigert werden. Durch das Abklingen der Pandemie und der damit einhergehenden geringeren Nachfrage nach dem COVID-19-Impfstoff wurden bereits im Vorfeld deutliche Umsatzeinbrüche prognostiziert. Tatsächlich musste Biontech einen Umsatzrückgang um 1,5 Mrd. Euro hinnehmen. Die Umsatzkurve der Branche fel somit das erste Mal seit 2013 wieder etwas ab (-4%). Verglichen mit 2021 ist der Umsatz der 776 dedizierten Biotech-Unternehmen im Jahr 2022 also auf 25,4 Mrd. Euro gesunken.
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