FREQUENZ 1/2014

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28 Physiotherapie

Den (chronischen) Schmerzen

auf der Spur

Prof. Dr. Amir Tal, Leiter Master of Science in Physiotherapie (MScPT) amir.tal@bfh.ch

Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten begegnen in der Praxis sehr häufig Patientinnen und Patienten mit chronischem Schmerz. Wieso kann Schmerz, der uns vor Gefahren warnen soll, chronisch werden? Gibt es überhaupt Behandlungsansätze, wenn die Schmerz­situation aussichtslos scheint?

Erneut ist Frau B. mit sehr heftigen Schmerzen erwacht. Seit über zehn Jahren leidet die Pflegefach­ frau tagtäglich an heftigen Rücken- und Kopf­ schmerzen. Am Anfang ihrer Leidensgeschichte steht ein Sturz, dessen Folge eine Fraktur im linken Fuss war. Nach mehrfach misslungenen Opera­ tionen spürt die Patientin erst Rückenschmerzen, später migräneartige Kopfschmerzen. Bei der Arbeit werden einfachste Tätigkeiten für sie zur Qual. Die

Das Gehirn reagiert wie ein gestörtes Alarmsystem. Hausarbeit kann sie nur zeitweise erledigen und Freizeitaktivitäten bereiten ihr aufgrund der Schmerzen keinen Spass mehr. Oft kann Frau B. nicht schmerzfrei liegen. Ihr Sozialleben versucht die heute 49-jährige Frau so gut wie möglich wahr­ zunehmen. Wenn die Schmerzen aber dominieren, muss sie Termine und die Teilnahme an diversen Anlässen absagen. Nach vier Jahren Leidensge­ schichte mit chronischem Schmerz und vielen Ar­ beitsabwesenheiten muss Frau B. ihren Job aufge­ben und ist seitdem von der Invalidenversicherung abhängig. Auf der Suche nach einer Erlösung von den Schmerzen nimmt die Patientin unzählige The­ rapien ambulant und stationär in Anspruch. Aber nichts scheint nachhaltig gegen ihre Schmerzen zu wirken. Verzweifelt fragt sich Frau B., weshalb die modernste Medizin ihr keine Lösung anbieten kann. Um diese Frage zu beantworten, müssen weitere Fragen gestellt werden: Was ist (chronischer) Schmerz BFH frequenz Juni 2014

und woher kommt er? Ist Schmerzfreiheit ausschlag­ gebend für eine hohe Lebensqualität?

Die Botschaft des Schmerzes

Die Schmerz-Definition der IASP (International Association for the Study of Pain) lautet: «Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das im Bezug mit einem tatsächlichen oder mögli­ chen Schaden steht.» Studien zeigen, dass ca. jeder vierte Arztbesuch in Deutschland wegen chroni­ scher Schmerzen erfolgt, insbesondere wegen Rü­ cken- und Kopfschmerzen. Die häufigste Diagnose, die von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten in Deutschland gestellt wird, lautet Rückenschmerzen. Etwa 25 Prozent aller deutschen Erwachsenen las­ sen sich deswegen jährlich behandeln. Chronische Schmerzen gehören zu den häufigsten gesundheit­ lichen ­Störungen. Europaweit liegt die Schmerzquo­ te bei 19 Prozent der Erwachsenen bei mindestens 5 von 10 auf der «Visual Analogue Scale» (VAS). Wir bezeichnen Schmerzen als akut oder chro­ nisch. Chronische Schmerzen bestehen länger als zwei bis vier Monate. Weiter können adaptive von maladaptiven Schmerzen unterschieden werden.

Zu einem erfolgreichen Behandlungsplan gehört ein interprofessionelles Team. Beim adaptiven Schmerz wird unser Alarmsystem aktiv und versucht uns vor einer echten oder einer potenziellen Gewebeschädigung zu warnen. Bei den maladaptiven Schmerzen ist etwas mit dem Alarm­ system falsch, d. h., das Gehirn kann die «Warnung»


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