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City

an dieser Stelle noch ganz anders aus. Das wenig hübsche Kratzquartier war solid ummauert vom äussersten Gürtel der Stadtbefestigung, hinter der sich 1799 die französischen Revolutions- und Besatzungstruppen gegen die Russen und Österreicher verteidigten und dank der 1802 Zürich von der Erstürmung durch die Truppen unter dem helvetischen General Andermatt verschont blieb. EIN EPOCHALER DISPUT

Nur dreissig Jahre später lagen diese spektakulären Ereignisse bereits in einer anderen Zeit. Es herrschte Frieden, und die Landbevölkerung verlangte nach Gleichstellung mit der Stadt – und damit nach einem Abbruch der Schanzen, wie die massiven Bollwerke genannt wurden. Es entbrannte ein wilder Streit: Die Schanzen seien ein überholtes Machtsymbol, sagten die einen, unterstützt von denen, die darin eine Behinderung des Handels sahen, der sich durch die wenigen Tore zwängen musste. Andere befürchteten, die Stadt würde ohne Mauern in «ein offenes Dorf» verwandelt. Es war ein buchstäblich epochaler Disput. Schliesslich wurden die Schanzen geschleift. Einzig der Schanzengraben ist übriggeblieben. Sein gezackter Verlauf zeigt noch heute, wo die kantigen Bollwerke einst standen. So machte Zürich den ersten Schritt zur Weltoffenheit und erlebte einen unvergleichlichen Aufbruch: Durch die Aufschüttungen am Seeufer mit Material der ehemaligen Schanzen wurde Bauland gewonnen, übrigens exakt 216 256 Quadratmeter, und die radikale Umgestaltung des Kratzquartiers nahm ihren Anfang: 1864 entstand durch die Zuschüttung des Fröschengrabens die Bahnhofstrasse, 1887 wurden die neuen Quaianlagen eingeweiht, die der höchst umtriebige Stadtingenieur Arnold Bürkli geplant und verwirklicht hatte. So war von der Enge bis zum Riesbachquartier eine durchgehende Promenade

Damals hiess er noch Stadthausplatz: Das Prunkstück 1893, kurz nach der Einweihung. entstanden, mit Alleen, Wiesen, Parks und dem glanzvollen Herzstück, dem Stadthausplatz mit seiner Terrasse direkt am See. Am 2. und 3. Juli 1887 fand ein grosses Einweihungsfest statt, mit «Freiconcerten an den Quaiufern» und «Bombardement zur See», wie das «Programm der Festlichkeiten» verkündete. 1908, fünfzehn Jahre nach Bürklis Tod, wurde der Platz ihm zu Ehren in Bürkliplatz umbenannt. Eine Fotografie aus dem Jahr 1893, aufgenommen aus dem Grandhotel Bellevue, erzählt, wie der Platz damals ausgesehen hat: Auf der neuen Quaibrücke herrscht reger Verkehr – vier Gespanne und zwei Trams – und im Hintergrund ist der weitläufige und fast leere Bürkliplatz zu sehen, umgeben von vielen Bäumen. Ein Radfahrer hat ihn gerade überquert, und eine Frauengestalt im bodenlangen Rock spaziert zu seiner Mitte hin. Es liegt viel Ruhe in diesem Bild. Weil der Platz so leer ist, weil er so offen ist und so weit. Weil er eben noch ein richtiger Platz ist, wie man es heute nicht mehr kennt – ein kleines Tor zum Himmel.

PLÄNE FÜR DAS BUNDESHAUS Als am 12. September 1848 die Schweizer Bundesverfassung verkündet wurde, wollte Zürich auf dem Gelände des heutigen Bürkliplatzes das Bundeshaus errichten. Hochtrabende Pläne wurden in Auftrag gegeben (Bild). Doch Bern erhielt den Zuschlag, und das bitter enttäuschte Zürich durfte dafür die ETH bauen.

Aquarell von Jakob Suter. Quelle: Zentralbibliothek Zürich.

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