Ausgabe September 2015

Page 13

12 8 — A U S G A B E N R . 0 3 . 2 015

Ein Dirigent sollte die Partitur im Kopf haben – und nicht den Kopf in der Partitur.

Aber auch das Hören allein macht noch keinen guten Dirigenten. Erforderlich ist zudem eine hohe Gedächtnisleistung. Dirigenten müssen die Werke gut kennen und in der Lage sein, eine Partitur im Kopf abzuspeichern. »Ein analytisches Herangehen an die Partitur und sehr gute musiktheoretische Kenntnisse erleichtern dabei das Memorieren«, erklärt der Neurologe Alexander Schmidt. So soll schon einst Hans Richter zu dem jungen Dirigenten Siegfried Wagner gesagt haben: »Das freut mich, dass du die Partitur im Kopf hast und nicht den Kopf in der Partitur.« Dabei merken sich die Dirigenten nicht das Notenbild, sondern die musikalische Struktur eines Stückes und die damit verbundene Klangvorstellung. »Aktiviert werden dabei nicht nur musikalische, sondern auch emotionale, visuelle und sensomotorische Gedächtnisinhalte«, erklärt Schmidt. N O N V E R B A L E K O M M U N I K AT I O N

Arturo Toscanini wurde zum Beispiel nachgesagt, dass er Text und Musik von hundert Opern und jede Note für jedes Instrument von etwa 250 symphonischen Werken im Kopf gehabt haben soll. Er dirigierte grundsätzlich ohne Partitur. Grund dafür war zwar wohl seine starke Kurzsichtigkeit, aber das schmälert nicht die große Gedächtnisleistung. Herbert von Karajan wiederum dirigierte in Konzerten häufig mit geschlossenen Augen. Die Noten kannte er auswendig. Für die Orchestermusiker war das allerdings zunächst irritierend. Sind die Augen doch gerade während eines Konzerts, in dem ja eine verbale Kommunikation nicht möglich ist, für viele Dirigenten ein wichtiger Weg, um sich mitzuteilen. Doch zu den Ausdrucksmöglichkeiten eines Dirigenten gehört nicht allein der Blickkontakt. Mit der Kommunikation zwischen Dirigent und Orchester hat sich Wolfgang Hattinger intensiv auseinandergesetzt. Er ist selbst Dirigent, unterrichtet an der Kunstuniversität Graz und hat das umfangreiche Buch »Der Dirigent. Mythos, Macht, Merkwürdigkeiten« verfasst. Dar-

in beleuchtet er die vielfältigen Anforderungen an einen Orchesterleiter. »Schlagtechnik lässt sich relativ rasch lernen, die Kommunikation viel schwerer, manchmal nie«, sagt er. Dabei, so hat der Musikwissenschaftler Clemens Wöllner in einer Untersuchung herausgefunden, habe gerade sie eine große Bedeutung: Orchestermusiker würden nämlich stärker auf die Signale der Körpersprache achten als auf die Schlag­technik. Für die nonverbale Vermittlung spielen vor allem Mimik, Gestik und Körperhaltung eine wichtige Rolle. Es reicht ja nicht, dass der Dirigent die Klangvorstellung in seinem Kopf hat, er muss sie auch eindeutig vermitteln können. Unklare Botschaften können dazu führen, dass die Musiker sie unterschiedlich interpretieren. »Die wirklich großartigen Konzerte unterscheiden sich von den sehr guten ja nur durch vielleicht fünf bis zehn Prozent. Gut spielen können die Profiorchester mit vielen Dirigenten, aber die außergewöhnliche Qualität findet sich nur im Detail und ist eigentlich keine Frage mehr von Technik, eher von gemeinsamem Flow und feinfühligster Empathie«, sagt Hattinger. AUF TRIT T UND AUSS TR AHLUNG

Die Herausforderung für einen Dirigenten liegt darin, das Orchester für seine interpretatorische Auffassung zu gewinnen. Gerade das birgt aber auch Konfliktstoff. »In jedem professionellen Orchester spielen heute sehr gut ausgebildete Musikerinnen und Musiker, die durchaus ihre eigenen Meinungen zur Interpretation der Werke haben, aber dennoch einem Dirigenten in Gestaltungsfragen weitgehend untergeordnet sind«, so Hattinger. Ein Dirigent müsse es schaffen, den Musikern das Gefühl zu geben, dass sich ihr Einsatz lohnt. Doch dazu braucht es Ausstrahlung, Einfühlungsvermögen und Überzeugungskraft. »Nicht jeder ist geboren, vor ein Orchester zu treten«, sagt Alexander Schmidt. Und Fragen zum Auftreten, weiß Hattinger, werden im Studium kaum thematisiert. <

55


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.