Zeitfragen

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einer Situation großer Intimität vorzutragen, dann verletzt sie damit die Gesetze von Zeiteffizienz und Kosten-Nutzen-Rechnungen. Und wenn schließlich Daniel Kötter und Hannes Seidl in ihrem Musiktheaterprojekt „RECHT“ die Spekulationsmechanismen an den Finanzmärkten thematisieren, die die Gegenwart zur Geisel einer unbestimmbaren Zukunft machen, dann setzen sie sich explizit mit einer zeitbezogenen Problematik der Gegenwart auseinander. Am unmittelbarsten und eindrücklichsten musikalisch erfahrbar wird das Phänomen Zeit wohl beim Abschluss des Festivals, bei „The Long Now“. Der Titel spricht eigentlich für sich. Als ich das Projekt zu konzipieren begann, nannte ich es „Chronosphäre“ – was mir vorschwebte, war eine Zeitblase, eine Situation, in der sich Zeit selbst entfalten kann, die Wahrnehmung von Zeit sich verändert, in der die Zeit stillsteht, ein Ort, der sich gegenüber der getakteten Welt abgrenzt und an dem man sich verlieren kann. Als ich Dimitri Hegemann und das Kraftwerk Berlin kennenlernte, war sofort klar, dass es dafür keinen besseren Ort gibt. Gemeinsam mit den Kuratoren von Berlin Atonal,

Berno Odo Polzer. Foto: Lucie Jansch

Laurens von Oswald und Harry Glass, haben wir das Projekt dann weiterentwickelt zu einer audiovisuellen Komposition in Raum und Zeit, die den Tages-Nacht-Rhythmus genauso hinter sich lässt wie Stil- und Genregrenzen. Das Projekt beginnt am 28. März um 18:00 Uhr und erstreckt sich bis zum 29. März um Mitternacht. In den dreißig Stunden von „The Long Now“ werden Konzerte, Film- und Klanginstallationen, audiovisuelle und elektronische Live-Acts zu einem langen Moment verschmelzen. Zu den beteiligten Künstlern zählen Morton Feldman und das Minguet Quartett, Phill Niblock, Zinc and Copper Works, Nelly Boyd, FM Einheit, Leif Inge, Thomas Köner, Eric Holm, Mix Mup & Kassem Mosse, Mika Vainio, Actress und andere. Es soll ein Fest der Zeit werden, eine künstlerische Extremerfahrung. Die Besucher sind eingeladen, sich diesem Zeitraum ganz hinzugeben, über Nacht zu bleiben, hier zu frühstücken. Für Feldbetten, Essen von Big Stuff Smoked BBQ und alles weitere ist gesorgt. Das Festival eröffnet am 20. März um 09:42 Uhr. Weshalb diese seltsame Uhrzeit? Genau gesagt sogar um 09:42:38 Uhr – nämlich zum Beginn der partiellen Sonnenfinsternis, die Berlin gegen 11 Uhr zu 75 Prozent verdunkeln wird. Ein schöner Zufall, den wir gleich als Anspielung auf die kosmischen Anfänge menschlicher Zeitrechnung nehmen. In den Zeitraum des Eröffnungsprojekts „Liquid Room“ fällt dann auch der astronomische Frühlingsbeginn am 20. März um 23:45 Uhr. Und am letzten Festival-Tag, während „The Long Now“, findet die Zeitumstellung auf Sommerzeit statt: Am 29. März um 2:00 Uhr werden die Uhren um eine Stunde vorgestellt – eine ganz andere, un-kosmische Manipulation der Zeit. Für manche Projekte von „The 7

Long Now“ stellt dies ein echtes Problem dar, wie z. B. für Leif Inges 24-stündige Klanginstallation „9 Beet Stretch“: Nach welchen Zeitkoordinaten soll man sich richten? Nach der willkürlich-menschlichen Sommerzeitregelung oder nach dem uniformen Weiterfließen der Realzeit?

„Es ist die gelebte Zeit, die in der Musik greifbar und spürbar wird: nicht reduzierbar, nicht komprimierbar, nicht objektivierbar.” Eine Manipulation wie die Sommerzeit bringt auch das Politische von Zeit nochmals schön zum Ausdruck. Genau. Die Sommerzeit ist ein Relikt des Ersten Weltkriegs und wurde aus kriegsökonomischen Überlegungen heraus erstmals im Jahr 1916 eingeführt, um Energie zu sparen bzw. mehr Energie in den Krieg investieren zu können. Allgemein eingeführt wurde diese Regelung dann in den Ländern der damaligen Europäischen Gemeinschaft ab 1977 als Reaktion auf die Ölkrise von 1973. Die kurios schöne Formulierung der Bestimmung zur erstmaligen Einführung im Deutschen Reich ist es wert, zitiert zu werden: „Der 1. Mai 1916 beginnt am 30. April 1916 nachmittags 11 Uhr nach der gegenwärtigen Zeitrechnung.“ Es darf bezweifelt werden, dass dies auf Anhieb geklappt hat. Aber der Krieg ging trotzdem weiter.


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