Musikfest Berlin 2017 – Magazin

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heutigen Zuhörern nicht bewusst. In einer Zeit, in der das Gefühlsleben des Menschen zu einem Thema allergrößter Faszination wurde – in der Philosophen und Dramatiker die Rolle der Leidenschaften für das Schicksal der Menschen ausloteten und so unterschiedliche Maler wie Velázquez, Caravaggio und Rembrandt sich bemühten, das Innenleben von Männern und Frauen abzubilden – , war Monteverdi mit seiner konsequenten Auslotung und Weiterentwicklung der musikalischen Themen „Imitatio“ und „Repraesentatio“ anderen Komponisten seiner Zeit weit voraus. Heute bezeichnen wir L’Orfeo als Oper und sehen darin das früheste Beispiel dieser Gattung. Das liegt jedoch nur daran, dass wir sie zurückblickend betrachten, im Spiegel der Werke von Verdi oder Wagner. Für Monteverdi selbst war es eine „favola in musica“, eine „vertonte Fabel“: Das Überraschende für den zeitgenössischen Hörer war, dass „alle Schauspieler ihre Rollen zu singen hatten“, wie Carlo Magno 1607 schrieb – und damit eingestand, dass er nicht recht wusste, wie er den neuen Stil des „recitar cantando“, des „singenden Erzählens“, beschreiben sollte.

Sir John Eliot Gardiner 2013

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Monteverdi erkannte, dass das bislang ungenutzte Potential der „neuen Musik“, wie die Florentiner sie nannten, darin lag, dass sie es ermöglichte, die Stimme des Sängers frei über einer instrumentalen Basslinie schweben zu lassen, die ihr genau das richtige Ausmaß an harmonischer Stütze und Erdung verlieh. Melodielinien und rhythmische Muster waren so nicht mehr auf das Korsett einer starren polyphonen Struktur angewiesen. Vor L’Orfeo hatte niemand diesen potenziellen Manövrierspielraum erkannt oder für expressive auf- und absteigende Linien der Sänger genutzt, die für spontane, unvermittelte Bewegung sorgen, indem sie mal vorauseilen, mal zurückbleiben und sich so am Metrum und den regelmäßigen Akkorden der gezupften Continuoinstrumente reiben. Mit L’Orfeo gelang Monteverdi der entscheidende kreative Quantensprung von einem nicht durchgängig gesprochenen, sondern gesungenen Schäferspiel zu einem Musikdrama voller von der Musik hervorgerufener und intensivierter Emotionen. Nicht nur der Text wird hier dramatisch verarbeitet, dem Drama der gesungenen Rede wachsen nun musikalische Flügel. Indem er Anleihen bei der Florentiner Camerata nahm, zeigte Monteverdi schonungslos deren Schwächen auf. Die ganze Radikalität des L’Orfeo ist vermutlich auch


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