Behörden Spiegel November 2019

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Fakten, Hintergründe und Analysen für den Öffentlichen Dienst

ISSN 1437-8337

Nr. XI / 35. Jg / 45. Woche

Berlin und Bonn / November 2019

G 1805

www.behoerdenspiegel.de

Demokratie lebt von Entscheidungen

Digitale Technologien im Rettungsdienst

Der Selfmade-Naturschützer

Dr. Uwe Brandl über Kommunalpolitik im Wandel ������������������������������������������������ Seite 20

Randolf Stich zu Verbesserungen in der ­notfallmedizinischen Versorgung �������������� Seite 41

Herbert Schnabel über seine Arbeit im ­Biosphärenreservat.................................... Seite 47

Mehr Freizeit statt Geld

(BS/kh) Für einen Großteil der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst ist es wichtig, die Wahl zu haben, sich für mehr freie Zeit oder für mehr Geld zu entscheiden. Das gaben 92 Prozent der Befragten einer Arbeitszeitstudie der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) an. An der Befragung nahmen rund 210.000 Bedienstete aus Bund, Ländern und Kommunen teil. Wenn sie die Wahl bereits hätten, würden 57 Prozent von ihnen die tariflichen Gehaltssteigerungen tatsächlich zur Verkürzung ihrer Arbeitszeit eintauschen; Frauen mit 58 Prozent eher als Männer mit 55 Prozent. In der Alterskohorte zwischen 51 und 60 Jahren würden sogar 60 Prozent der weiblichen Beschäftigten ihre Tariferhöhungen gegen mehr freie Zeit tauschen. Besonders eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit käme für die meisten der Befragten infrage. Dafür sprachen sich 60 Prozent der Männer und 55 Prozent der Frauen aus.

Mobilfunkinfrastrukturgesellschaft geplant (BS/stb) Die Bundesregierung strebt die Gründung einer Mobilfunkinfrastrukturgesellschaft an. Diese soll dort, wo weder ein eigenwirtschaftlicher Ausbau stattgefunden hat noch Fördermittel greifen, den Ausbau passiver Infrastruktur selbst beauftragen können. Mittel sollen aus dem Sondervermögen Digitale Infrastruktur bereitgestellt werden. Der Vorstoß ist Teil der geplanten Mobilfunkstrategie, zu der die Bundesregierung Eckpunkte vorgelegt hat. Vorgesehen ist demnach außerdem, im Schulterschluss mit Ländern und Kommunen öffentliche Gebäude und Flächen als Standorte für Funkmasten zu nutzen. Außerdem sollen Genehmigungsverfahren beschleunigt werden.

Verschuldete ­Kommunen (BS/ah) Der sächsische Städteund Gemeindetag (SSG) fordert eine Aufstockung des kommunalen Finanzausgleichs um 200 Millionen Euro für den Gestaltungsspielraum der Kommunen. Darüber hinaus habe eine Dynamisierung der Landespauschale für die Kinderbetreuung, die unter dem Niveau der meisten Bundesländer liege, zu erfolgen. Denn laut Gemeindefinanzbericht 2018/2019 schreibt derzeit jede dritte Gemeinde rote Zahlen. Dahingegen verbuche das Land Einnahmeüberschüsse von 13 Milliarden Euro. In diesem Zusammenhang kritisiert der Geschäftsführer des SSG, Mischa Woitscheck, dass Kommunen trotz vorhandener Ländergelder auf den Kosten für Kinderbetreuung und Digitalisierung sitzen blieben.

Mehr experimentieren Autonomem Bürokratieabbau vorbeugen / Rechtsetzungskultur weiter verbessern (BS/Jörn Fieseler) Es ist noch gar nicht so lange her, da hieß es bei Gesetzesentwürfen “Kosten: unbekannt” und “Alternativen: keine”. Das hat sich mittlerweile stark verändert. Bereits im Vorfeld (ex ante) werden die Kosten des Normvorhabens ermittelt – der Erfüllungsaufwand für Verwaltung, Wirtschaft und Bürger. Doch das reicht noch nicht. Es gilt, die nächste Stufe auf dem Weg zu einer besseren Rechtsetzung zu erklimmen. Die Messung der Bürokratiekosten für die Wirtschaft mit dem Standard-Kosten-Modell (SKM) hatte einen großen Vorteil: Der Nutzen der Gesetze wurde nicht hinterfragt, nur die sogenannten Informationspflichten erhoben – die Aufwände, die Unternehmen tätigen müssen, um Meldepflichten zu erfüllen. Auch bei der Weiterentwicklung der Messung hin zum Erfüllungsaufwand wurde der Nutzen ausgeklammert. Aber: In einer komplexeren Welt steige auch die Komplexität von Regelungsinhalten. Im Gegenzug fehle oftmals der Raum für eine sorgfältige inhaltliche Vorbereitung von Gesetzen und deren Prüfung durch den Nationalen Normenkontrollrat (NKR), es würden Fristen verkürzt, um ein Gesetz schnellstmöglich zu verabschieden. “Bei einem solchen Vorgehen fällt vieles zur Praxistauglichkeit der Gesetze unter den Tisch”, kritisiert der NKR-Vorsitzende Dr. Johannes Ludewig. Dabei sollte in der Gesetzgebung Gründlichkeit vor Schnelligkeit gehen, ansonsten sei die Gesetzesqualität ernsthaft infrage gestellt. Zudem: Deutschland ermittelt zwar sehr umfangreich im Ex ante-Verfahren die Bürokratiekosten, nicht jedoch ex post. Dabei hat die Runde der Staatssekretäre auf Bundesebene einen Beschluss gefasst, dies umzusetzen. Getan hat sich seitdem

Wie im Labor soll auch bei der Erarbeitung von Gesetzen mehr experimentiert und es sollen Wirkungen im Vorfeld diskutiert und im Nachgang gemessen werden – so der Vorschlag des NKR. Foto: BS/Looker_Studio, stock.adobe.com

wenig. “Der NKR ist in dieser Sache handlungsfähig, wir können einen Beschluss fassen”, unterstreicht Ludewig. Überhaupt müsse der Nutzen stärker in den Fokus rücken, Gesetze wirksamer und praxistauglicher werden. Hier besteht dringender Handlungsbedarf, wie eine Studie des Instituts für Mittelstandsforschung (ifm) Bonn zeigt. Jedes vierte Unternehmen baut au-

tonom Bürokratie ab und entscheidet, welche gesetzlichen Pflichten nicht erfüllt werden, beschreibt Prof. Dr. Friederike Welter, Präsidentin des ifm Bonn, die Ergebnisse einer Unternehmensbefragung. Und Ludewig konstatiert: “Praktische Alltagserfahrungen von Bürgern und Unternehmen werden von Politik und Verwaltung immer noch ungenügend berücksichtigt, wenn neue Re-

gelungen konzipiert oder alte überarbeitet werden.” Deshalb sei der Gesetzgebungsprozess zu verändern. Anstelle eines juristischen Gesetzestextes, der als Referentenentwurf den übrigen Ministerien und Verbänden zur Stellungnahme zugeleitet wird, sollte erst ein erweitertes Eckpunktepapier erstellt werden. Dieses sei anschließend umfassend mit Betroffenen und Vollzugsbehörden zu diskutieren.

Kommentar

Die große Chance – digitale Schule (BS) Fünf Milliarden wollen Bund (90 Prozent) und Länder (zehn Prozent) in digitale Infrastrukturen deutscher Schulen stecken. Es geht um Vernetzung der Schulen, Server, WLAN, Portale, Cloud und pädagogische ­Kommunikations- und Lernplattformen. Eine gute und sinnvolle Idee, jetzt kommt es in Zukunft darauf an, das Ganze nicht zu vergeigen. Doch die Gefahren, dass das Projekt in Kleinteiligkeit zerfällt, sind groß, denn die Länder haben sehr unterschiedliche Ansätze entwickelt. Die Kommunen müssen es umsetzen und vor allem sollen sie für den technischen Support zuständig sein. Und letztlich müssen die Pädagogen es meistern. Anträge durch Schulen können in den meisten Ländern bereits gestellt werden. Bund und Länder halten digitale Portale zur Unterstützung vor, etwa das Bundesministerium für Bildung und Forschung unter www. digital­paktschule.de . Doch Schulen und Schulträger sind zuvorderst gefordert, Medienkonzepte und -entwicklungspläne zu erstellen. Daran hakt es vielerorts noch. Dennoch ist das Ganze ein großer Wurf von Bund und Ländern.

Wenn aber absehbar bleibt, dass die Lehrkräfte für den technischen Support und die Umsetzung ihrer Lehrinhalte ins Digitale am Ende verantwortlich sein werden, sind Zweifel am Erfolg angebracht. Es ist ja kein Geheimnis, dass die Schüler im Gegensatz zu ihren Lehrern Digital natives sind. Das ganze Vorhaben kann nicht darin enden, dass der Umgang der Schüler mit Technik besser wird. Es geht doch bei der Schule um Lehrinhalte. Eine Digitalisierung des Unterrichts führt nicht zwingend dazu, bisherige oder womöglich mehr Erkenntnisse der Schüler zu fördern. Nach Ansicht etlicher Pädagogen verhält es sich sogar umgekehrt. Schüler könnten dazu verführt werden, durch Internethäppchen diese für Wissen zu halten.

Trotz aller Kritik am bisher nicht Vorhandensein einer breiten pädagogischen Antwort für die Inhalte eines digitalisierten Unterrichts ist die Initiative, die Schulen infrastrukturell in die Lage zu versetzen in diesem Zeitalter auch digitale Medien für ihren Unterricht einzusetzen, mehr als sinnvoll. Das Vorhaben muss gelingen, denn Deutschland hat sich hier einmal eindeutig zur Digitalisierung an der Stelle bekannt, wo es sinnvoll und notwendig ist – in der Schule. Da dies auch aus Sicht der Redaktion ein wichtiges Thema ist, haben wir ihm auf den Seiten 14 bis 17 dieser Ausgabe in einem Sonderteil mit diesem auseinandergesetzt.

R. Uwe Proll

Neigungstendenzen

An dieser Stelle bindet der NKRVorsitzende explizit die Länder und Kommunen mit ein. Dabei setzt er auf die Erfahrungen zur Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG). Bund, Länder und Kommunen hätten noch nie so gut zusammengearbeitet wie in den Digitallaboren bei der OZG-Umsetzung, schwärmt Ludewig. Diese Erfahrungen gelte es in den allgemeinen Gesetzgebungsprozess zu überführen. Der Vorschlag stößt im Bundeskanzleramt auf offene Ohren. Dort hat man zwei Neuerungen auf den Weg gebracht. Zum einen würde an einer Plattform gearbeitet, in der im Rahmen eines Gesetzgebungsprozesses alle Gesetze zur Diskussion gestellt werden, erläutert der Chef des Bundeskanzleramtes, Prof. Dr. Helge Braun. Zum anderen sei die KI-Strategie der Bundesregierung nach einem Dialog auf Basis eines Eckwertebeschlusses erarbeitet und öffentlich diskutiert worden. “Das haben wir jetzt auch bei der Änderung der Strafprozessordnung vor”, sagt Braun. Bei diesen Einzelbeispielen darf es nicht bleiben. Die ganze Rechtsetzungskultur ist zu ändern. Dazu ist jeder Referent in jedem Ministerium aufgerufen. Im Bund genauso wie in den Ländern. Und auch bei der Kostenerhebung gibt es noch Verbesserungspotenzial (siehe Seite 3).


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