Leseprobe "Sagen"

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trud rief ein »Willkommen«, und in die Stube trat die hohe Gestalt des Reiters von der Fähre. Nach dem Unglück auf der Havel war er nicht weitergezogen, sondern mit seinem Diener in einer Herberge eingekehrt, von wo er regelmäßig im Hause des Ratsherrn vorbeigesehen hatte, um sich nach dem Befinden des Kranken zu erkundigen oder ihm gegen das Fieber einen selbstgebrauten Trank zu bringen, der, wie man jetzt sah, Erstaunliches bewirkt hatte. Allein deshalb sah Gertrud ihn gern und aus einem anderen Grund, den sie sich selbst nicht recht zu benennen wusste. Diesmal besuchte er sie, um den Ratsherren zu seiner Genesung zu beglückwünschen, über die man überall in der Stadt sprach. Jener dankte ihm von Herzen und mehr noch Gertud, die davon überzeugt war, dass der dunkle Reiter ihrem Vater mit seinen Heiltränken zum zweiten Mal das Leben gerettet hatte. Von da an kam der Fremde täglich, um seinem Fährgenossen in der Zeit, die er benötigte, um nach der langen Bettruhe wieder zu Kräften zu kommen, Gesellschaft zu leisten. Seine übliche Besuchszeit war der späte Nachmittag, wenn der Ratsherr von einem erquickenden Mittagsschläfchen aufgestanden war. Dann tranken die beiden Männer Bier oder Wein und plauderten, bis es draußen dämmerig wurde und der Reiter sich verabschiedete, um in seine Herberge zurückzukehren, was Gertrud jedes Mal unglücklicher machte. Nicht nur, weil sie die Anwesenheit des großen Mannes mit den funkelnden Augen, die sich immer häufiger mit den ihren trafen, vermisste, sondern auch, weil über diese Herberge, ein schäbiges, dunkles Haus am Rande der Stadt, unter der Dienerschaft

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