MAX JOSEPH 4/2019 | Die Münchner Opernfestspiele 2019

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Claus Georg Stabe Claus Georg Stabes Zeichnungen bestechen durch ihren irisierenden Effekt. Mit handelsüblichen Kugelschreibern zeichnet er vorrangig horizontale Linien auf das Papier. Durch modifizierten Andruck des Stiftes und durch Überlagerungen von verschiedenen Farben entsteht eine Zeilengrafik, die konkrete, verfremdete oder abstrakte Motive in eine rätselhafte Bildsprache übersetzt.

strukturiert und seit der Moderne eine der zentralen Fragen dieser Kunstform geworden ist (bedeutende Choreo­ graph*innen des 20. Jahrhunderts wie Maurice Béjart, Pina Bausch, Mary Wigman und Sasha Waltz haben sich an diesem Werk abgearbeitet): Wie lassen sich im und durch Tanz körperliche Zustände erzeugen sowie auf das Publi­ kum übertragen und diese gleichzeitig choreographisch – also formell – bearbeiten? Was der sogenannte Ausdrucks­ tanz, unter dem der moderne Tanz auch oft firmiert, dabei für die Kunstgattung Tanz erschlossen hat, ist nicht als direkter Ausdruck innerer Zustände zu verstehen. Stattdes­ sen geht es um eine doppelte Logik von Ein­ und Ausdruck: Tanz drückt in Richtung des Publikums Ekstase aus und erzeugt im selben Moment den Zustand beim Tanzenden. Wenn beispielsweise im Schlusssolo des Sacre du printemps (in der Choreographie Nijinskys) in den sich wiederholenden Sprüngen die Tänzerin ihre Verausgabung nicht nur dar­ stellt, sondern auch wirklich zu erleben scheint, fallen die Technik zur Hervorbringung des Zustandes, die echte Emp­ findung und ihre Darstellung ununterscheidbar in eins. Ekstase verkompliziert so die Frage, was Ausdruck oder Darstellung heißt, was Authentizität auf der Bühne sein

Zeichnungen Claus Georg Stabe

Claus Georg Stabe, Day of the Arcane Light III, 2017, courtesy REITER Leipzig | Berlin

intellektuell Fassbaren und lässt dabei auch die Unterschei­ dungen zwischen Fiktion und Realität, Kunst und Wirklich­ keit kollabieren. Eine Ekstase ist intensiv oder sie ist gar nicht; wahr oder falsch lassen sich als Kategorien nicht auf sie anwenden. Aber genau darin liegt ihr Potenzial und ihre Freiheit. Ekstase ist eine physische Evidenzformel und ein Ermächtigungsgestus. Sie eröffnet die Möglichkeit eines gemeinschaftlichen Körpers – in äußerst subjektiver Weise. Während die antike Tänzerin in der Kunsttheorie und im Ballett des 18. und 19. Jahrhunderts noch als Idealmodell von Grazie und maßvoller Schönheit diente, wird sie mit dem Beginn der Tanzmoderne von Künstlerinnen wie Isadora Duncan zur Bacchantin, einer Figur der rasenden Entgrenzung, umgedeutet. Ganz deutlich ist das in den Fotografien von Duncan zu sehen, die 1903 in den Ruinen des frisch freigelegten Dionysostheaters in Athen von ihr aufgenommen wurden. Im geschnürten Peplos, also ei­ nem griechisch anmutenden Kleid, und mit schwunghaf­ ten Bewegungen, den Kopf in den Nacken geworfen oder nach vorn geneigt, reanimiert Duncan antike Mänaden, wie sie sie auf Vasendarstellungen im Museum studiert hatte. Sie setzt damit entfesselte Bewegung und einen ver­ meintlich natürlichen und befreiten Körper gegen die als einengend empfundene, kodifizierte und disziplinierende Ästhetik des Balletts, die die (weibliche) tänzerische Eks­ tase – wie in der berühmten Wahnsinnsszene in Giselle (1841) – als pathologisch markierte. Ähnlich verfährt auch Vaslav Nijinsky, dessen epochemachende Skandalchoreo­ graphien L’Après-Midi d’un faune (1912) und Le Sacre du printemps (1913) den Übergang vom klassischen Ballett zur Ballettmoderne ebenfalls durch Ekstase bereiteten und ästhetische und gesellschaftliche Krisen heraufbeschwo­ ren. Während im – ebenfalls antikisierenden – Faune eine sexualisierte Ekstase im Zentrum steht, die im berühmten masturbatorischen Höhepunkt auf dem Schal der Nymphe kulminiert, erzählt der Sacre du printemps die Volkslegende eines Menschenopfers mit grotesk ausgedrehten Glied­ maßen und abgehackten Bewegungsfolgen: Eine junge Frau wird in einem pseudoarchaischen Ritual von der Gemeinschaft ausgewählt, sich in einem tanzenden Selbstmord für den Frühlingsgott zu opfern. „Ohne Ekstase kein Tanz! Ohne Form kein Tanz!“ Dieser oft zitierte Ausspruch von Tanzikone Mary Wigman bringt ein Paradox der künstlerischen Darstellung von Ekstase auf den Punkt, das auch den Sacre du Printemps


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