MAX JOSEPH #2 Vorsicht Bumerang!

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WAS FOLGT …

Wie die Zahnräder eines Uhrwerks müssen die Abläufe einer Opernaufführung ineinandergreifen. Nur so kann gelingen, was organisch und mühelos wirken soll. In dieser Spielzeit blickt MAX JOSEPH auf einzelne Abläufe im Räderwerk, die dem Zuschauer sonst verborgen bleiben.

Zeichen, Magie und ein unsichtbarer Engel – mit diesen Motiven aus Sergej Prokofjews Der feurige Engel lässt sich auch die Tätigkeit der Inspizientin beschreiben, die von ihrem Pult hinter der Bühne aus, die Partitur vor sich, den Ablauf der Aufführung koordiniert. So auch die vielen Vorgänge einer der kompliziertesten Verwandlungen des Bühnenbildes. Wir steigen im 2. Akt der Oper ein, kurz vor Ende des ersten Bildes: Die Bühne verdunkelt sich. Der unheimliche Buchhändler Jakob Glock ist soeben aus den aufgetürmten Kissen des prächtigen Hotelbetts hochgefahren. Ruprecht, der Geliebte der obsessiven Renata, hält ihn für eine Erscheinung und bedroht ihn mit einer Pistole. Zur selben Zeit hinter der Bühne: Die Inspizientin schickt per Funk ihre Kommandos – bühnensprachlich „Cues“ – an die Technik („Rückwand schnell zurückfahren“) und dann an die Auftrittstür („Tür auf, Auftritt acht Damenstatisten“). Schnitt. Das luxuriöse Hotelzimmer, in dem Renata und Ruprecht logieren (Rebecca Ringst hat es entworfen), vergrößert sich nach hinten. Glock zieht ein Buch aus der Jackett-Tasche, es ist ein Traktat des Magiers Agrippa von Nettesheim. Ruprecht schlägt es begierig auf. Er scheint nicht zu bemerken, wie hinter ihm acht Kammerzofen nacheinander hereintrippeln und um ihn, Glock, und die verzweifelte Renata herum das gesamte Mobiliar der Suite in eine Ecke im Hintergrund des Zimmers räumen und dort aufeinandertürmen. 15 Sekunden später verschwinden die Zimmermädchen wieder, wie sie gekommen waren. Wie berauscht lässt Ruprecht sich aufs Bett fallen. Glock stellt ihm ein Treffen mit Agrippa in Aussicht, mit dessen Hilfe er Renatas Dämonen bezwingen will. Schnitt. Hinter der Bühne gibt die Inspizientin nun parallel verschiedene Kommandos. Sie sendet per Knopfdruck Lichtzeichen Nr. 6 an die Techniker der Obermaschinerie auf der Galerie, wo zeitgleich ein Schalter aufleuchtet und mehrere Abläufe in Gang gesetzt

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werden: Plafond und Passepartout* sollen auf neun Meter über dem Bühnenboden hochgefahren werden. Die Videoabteilung muss zur selben Zeit im exakt gleichen Tempo, in dem das Passepartout größer wird, den projizierten Leuchtrahmen vergrößern, der das Passepartout weiß aufleuchten lässt. Und schon geht der nächste Cue per Funk an die Auftrittstür: „Auftritt 18 Tänzer!“ Schnitt. Aus dem Orchestergraben erklingt jetzt das furiose Zwischenspiel. Die Bühne wird hell erleuchtet. Die 18 männlichen Tänzer und Statisten kommen zur Verwandlungsmusik in Ballkleidern durch die Auftrittstür und besetzen in unheilvoller Verzückung langsam den Raum. Von der Galerie aus bringen nun innerhalb von 33 Sekunden 13 Züge** die Bühnenteile in die neuen Positionen. Damit der Plafond hochgefahren werden kann und kein Spalt dabei sichtbar ist, muss zuvor per Zug auch der Kranz*** abgefahren werden. Wenn alle Teile angekommen sind, leitet die Inspizientin auch schon die nächste Verwandlung ein. Während nun das technische Räderwerk auf Hochtouren läuft, tritt auf der Bühne Agrippa durch die Tür. Erschüttert beobachtet Ruprecht den Magier und sein bedrohliches Gefolge. Schnitt. Gleichzeitig geht jetzt Lichtzeichen Nr. 7 an die Techniker. „Roter Vorhang ab!“ Per Funk erhält die Galerie das Kommando „Kranz auf!“ Die Züge 115 und 116 fahren den Kranz nach oben, es entsteht eine Lücke, die den Weg freigibt für den schweren roten Vorhang. Zugleich geht ein Funksignal an den Bühnenmeister: „Bett und Wand in Ausweichstellung!“ Schnitt. Auf der Bühne schreitet Agrippa weiter Richtung Vorderbühne, ihm folgen weitere Tänzer und Ruprechts Blick. Da ergießt sich ein roter Vorhang wie ein Schwall Blut auf ganzer Bühnenbreite die hohen Wände herab und gleitet exakt zwischen Baldachin und Bett zu Boden. Der Raum gehört jetzt Agrippa. Beginn Zweites Bild.

* Rahmen, der den Bühnenausschnitt verkleinert oder vergrößert ** computergesteuerte Stangen mit Seilen, um Bauteile und Requisiten zu bewegen *** eine Art beweglicher Rahmen, der die obere Lücke zwischen Wänden und Plafond schließt oder freigibt, je nach benötigter Höhe


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