A New Divan - Celebrating 200 Years of Goethe's West-Eastern Divan

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Anmerkungen des Komponisten Goethes „Wo hast du das genommen?” ist ein in jeder Hinsicht zutiefst mystisches Gedicht. Es beginnt mit der Offenbarung einer unbeantwortet gelassenen Frage, führt uns zu einer Wiedergeburt im Ozean der Sterne, an der Hirten Hügel und den schauerlichen Nächten vorbei, bis zum Streif erlogener Meere: eine Reise, deren Ziel wieder der eigene Beginn ist, wodurch ein ewiger Kreis entsteht. Goethe beschreibt mit schönen Worten die furchtbare Beschaffenheit unserer Existenz, unser Exil aus dem Paradies – Hauptthema der mystischen Tradition sowohl im Westen als auch im Osten. Bei Hafis lautet ein Vers: „Denn des freien Willens Pforte blieb so mir wie dir verschlossen.“ Der Streif, die Pforte, „unsers Daseyns Kaisersiegel“ – wie Goethe es später im Divan benennt – stehen für die Grenze des menschlichen Verstands, an der Engel hin und her wandern, wie Linienrichter bei einem Fußballspiel. In meiner Vertonung wird die Vorliebe Hafis’ und Goethes für die Kreisform durch ständige Sequenzen ausgedrückt, in denen das Einfügen neuer Töne die sukzessive Erweiterung des harmonischen Raums zur Folge hat. Die eingangs erwähnte unbeantwortete Frage wird ebenso wie der „Ozean der Sterne“ durch die Abwesenheit eines klaren Grundtons dargestellt, so dass, wenn dieser schließlich erklingt, niemand mehr weiß, ob es sich um den Beginn oder das Ende handelt, ob Ruhe oder Anspannung erzeugt wird.

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