Schubert-Woche 2022

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Von Goethe überhört Schuberts Erlkönig und Mignon-Lieder Goethe bevorzugte das einfache Strophenlied, während das „Durchcomponieren“ nach seinem Verständnis „den Eindruck des Ganzen durch vordringende Einzelheiten zerstören“ würde. So hätte er das ihm nach Weimar geschickte Liederheft Schuberts wohl eher irritiert zur Kenntnis genommen. Im Programm dieser Schubert­-Woche sind nicht nur einige der populärsten Goethe-­ Vertonungen des Komponisten wie Erlkönig und die Lieder der Mignon aus Wilhelm Meisters Lehrjahre enthalten, sondern auch ­weniger Bekanntes wie Meeres Stille. Die „vordringenden Einzelheiten“, die Goethe monierte, brechen sich in ihnen radikal ­erschütternd Bahn. Als selbst die Freunde beim ersten Hören des ­Erlkönig über eine „mehrmals wiederkehrende Dissonanz“ ­diskutierten, erklärte ihnen der alte Hoforganist Wenzel Ruzicka, „sie auf dem Klavier anschlagend, wie selbe hier notwendig dem Text entspreche, wie schön sie vielmehr sei“, berichtet Spaun. Die Sicherheit, mit der der 18-jährige Schubert die Fieberphantasien des Kindes und die einschmeichelnde Verführungskraft des Erlkönigs in einem wahren Höllengalopp erfasste, ist geradezu spektakulär. Immer höher schraubt sich angstvoll der Gesang, immer lockender tänzelt der Rhythmus des Erlkönigs, bis die in Triolen dahinrasende Bewegung des nächtlichen Ritts zum plötzlichen Stillstand kommt. Ein fast lakonisches Rezitativ kündet vom Tod des Kindes und zieht den brutalen Schlussstrich. Die unerhörte, dramatisch durchgeformte Struktur der Ballade überholt die Zumsteeg’schen Vorbilder mit Siebenmeilenstiefeln. Selbst Mignons so harmlos beginnendes Strophenlied Kennst du das Land wird plötzlich von der eigenen, sehnsüchtigen Emphase hingerissen: „Dahin, dahin!“ wiederholt sie unablässig, sich selbst in visionärer Entrückung den Weg weisend, in der dritten Strophe in Moll abgedunkelt. An Mignon erinnert in seiner rollenden Sechzehntel-Bewegung und der Führung der Sing­ stimme zunächst an das viel später komponierte Lied Am Feierabend („Hätt ich tausend Arme zu rühren“) aus der Schönen Müllerin, ­verlässt anders als dieses die Strophenform aber nicht. Dafür wird die scheinbar gleichmäßige Gestaltung mit Tonartenwechseln und harmonischen Ausweichungen unterlaufen, wird das ausdrucksvolle Mitleiden der „Schmerzen im Herzen“ musikalisch umgesetzt. Die beiden Lieder der Mignon Heiß mich nicht reden und So lasst mich scheinen beleuchten den unergründlichen Charakter des Mädchens aus Wilhelm Meister: Sparsam und intim in der Faktur, im konzent23


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