Reihe mi 2015 filmbildung

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Filmbildung – Bildung?

• Dass dann der in manchen Rezeptionslinien zu beobachtende Verzicht auf die Analyse der zugrundeliegenden Machtstrukturen zu problematischen (und möglicherweise folgenreichen) Fehlannahmen führt, sei nur mit einem Beispiel angedeutet: Natürlich stellt sich die Frage, ob nicht Filmbildung und visuelle Kompetenz in unserer heutigen mediatisierten (und damit auch bebilderten) Gesellschaft ein wertvolles Kapital (im Sinne kulturellen Kapitals bei Bourdieu) ist. Spätestens beim Eintritt in das Bildungssystem wird aber deutlich, dass innerhalb von diesem schriftsprachliche Kompetenzen nach wie vor einen wesentlich höheren Tauschwert haben. Die Akkumulation von illegitimen kulturellem Kapital kann hier (siehe PISA) noch immer einen Malus darstellen. • Der Verweis auf die Kapitalstrukturen nach Bourdieu erinnert daran, dass Horst Niesyto schon vor geraumer Zeit (2007) darauf hingewiesen hat, dass die Rezeption von kulturellen Artikulationen und das jeweilige Medienhandeln keineswegs unabhängig von akkumuliertem Kapital (wie auch der Position im sozialen Raum) erfolgt. Das gilt für das Postulat der Wahlfreiheit bei der Medienauswahl wie auch – und hier in besonderem Maße – für die insbesondere von Stuart Hall postulierte Chance, verschiedene Lesarten zu realisieren. Die Daten meiner Studien zur Medienkompetenz und zum medialen Habitus (Kommer 2010) zeigen sehr eindrücklich, dass gerade oppositionelle oder subversive Lesarten keineswegs voraussetzungslos sind. Der im Rahmen der individuellen Mediensozialisation stattgehabte (oder eben nicht erfolgte) Kompetenzerwerb ist hier mehr als folgenreich – und noch immer milieuspezifisch. Dies zeigt sich auch in anderen Studien. Folgt man z.B. Göttlich et al. (2001) und den Befunden zur Rezeption von „Daily Soaps“, so wird deutlich, dass oppositionelle und subversive Lesarten – wie auch ironische Rezeptionsweisen – bei denjenigen, die über ein umfangreicheres kulturelles Kapital verfügen, signifikant häufiger zu beobachten sind. Theorietechnisch sei hier dann auch noch einmal daran erinnert, dass auch Judith Butler, der ja insbesondere im Genderdiskurs die Annahme hochgradiger performativer Konstruktion und damit letztendlich fälschlicherweise oft auch der „freien Wahl“ zugeschrieben wird, sich in Repliken auf derartige Lesarten vehement gegen dieses Postulat stellt. • Nicht zuletzt: Bei der Auseinandersetzung mit manchen zentralen Texten der Cultural Studies (beispielsweise im Kontext des encoding/decoding Modells) stellt sich die Frage nach der methodischen Grundierung. So scheint mir hier streckenweise die Vorgehensweise der traditionellen Philologien weitaus näher zu liegen als empirisch (das darf gerne auch qualitativ sein) grundierte Analysen der Sozialwissenschaften. Oder, etwas pointierter formuliert: So manches, was hier als „Studie“ verkauft wird, hat aus meiner (natürlich standortgebundenen) Perspektive eher den Charakter eines aus einer (grundlegend wichtigen) spontanen Beobachtung geborenen Essays. • Besonders deutlich wird dies mit Blick auf die engste Nachbarschaft in Theorie und Forschung: So finde ich bei Bourdieu7 in der Regel eine weitaus gehaltvollere, meist empirisch gestützte Analyse, die zugleich immer auch die eigene Positionierung im sozialen Raum (und insbesondere im Feld der Kultur und der Macht) reflexiv und kritisch mitdenkt. Nicht umsonst verwehrt er sich mindestens einmal gegen eine soziologische Romantisierung der am Ende doch von der „legitimen Kultur“ abgehängten Arbeiter- und anderen Kulturen. Droht diesen am Ende doch – wie auch bei Paul Willis (1977) beschrieben – durch ihr 7 Der in der jüngeren Vergangenheit zunehmend in die Cultural Studies eingemeindet wird. © new academic press


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