Forum Albert-Schweitzer-Haus Bonn

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Angelika Krohne stellt Märchen und Geschichten aus aller Welt vor

„Der selbstsüchtige Riese“ von Oskar Wilde Es war einmal ein herrlicher Garten, mit weichem Rasen und prächtig leuchtenden, duftenden Blumen. Es gab Pfirsichbäume, die im Frühling weiß und rosa blühten und an denen im Herbst die süßesten Früchte hingen. In den Bäumen saßen viele Vögel, die ihre Lieder zwitscherten. Es gab auch viele Kinder, die gerne in diesem Garten spielten und dort sehr froh und glücklich waren. Dieser Garten gehörte einem Riesen, der gerade bei einem Freund zu Besuch weilte. Als der Riese nach sieben langen Jahren zurückkam und die Kinder in seinem Garten spielen sah, wurde er sehr wütend und rief: „Was tut ihr hier in meinem Garten? Der Garten gehört mir ganz alleine, und ich erlaube niemandem, in meinem Garten zu sein außer mir!“ Die Kinder rannten erschrocken und voller Angst fort. Der Riese aber baute eine riesenhohe Mauer rund um den Garten. Und dann stellte er ein Schild davor, auf dem zu lesen stand: Eintritt bei Strafe verboten! So war der Riese. Er dachte nur an sich. Er war ein selbstsüchtiger Riese. Die Kinder waren alle sehr traurig. Sie hatten nun keinen Platz mehr zum Spielen. Wenn sie an der riesenhohen Mauer vorbei kamen, hörte man sie sagen: „Wie froh und glücklich waren wir, als wir noch in dem wunderschönen Garten spielen durften.“ Der Frühling kam ins Land, und überall blühten die Blumen, Sträucher und Bäume. Die Vögel sangen ihre schönsten Melodien. Nur im Garten des Riesen blieb es Winter. Es waren ja keine Kinder mehr da. Die Vögel wollten dort nicht singen, und die Blumen, Sträucher und Bäume schliefen einfach weiter. Nur das Eis und der Schnee fühlten sich wohl. Der Schnee deckte alles mit einer weißen Decke zu. Der eiskalte Nordwind tobte mit den prasselnden 04/2012

Hagelkörnern im Garten um die Wette. Der Riese stand am Fenster und konnte nicht verstehen, wo der Frühling blieb. Aber es kam kein Frühling, und es kam auch kein Sommer, und auch der Herbst hatte keine Lust, bei dem selbstsüchtigen Riesen einzukehren. Es blieb Winter… und Hagel, Schnee, Frost und Nordwind vergnügten sich im Garten des Riesen. Aber dann, eines Tages, hörte der Riese leise Musik. Ein kleiner Vogel sang vor seinem Fenster. Wie lange hatte der Riese so schönen Vogelgesang nicht mehr gehört. Und es roch sogar nach Frühling. Der Riese schaute aus dem Fenster. Er staunte nicht schlecht: Durch ein kleines Loch in der Mauer waren die Kinder in den Garten gekrochen. Sie saßen überall in den Bäumen, die vor lauter Freude an den Kindern, ihre Blättchen und Blüten sprießen ließen. Die Blumen steckten ihre Köpfchen aus der Erde, und die Vögel sangen fröhlich ihre Lieder. Wie schön war das alles! Nur in einer Ecke des Gartens, da sah es noch nach Winter aus. Da tobten Schnee und Nordwind über einem Baum, unter dem ein kleiner Junge stand und bitterlich weinte, weil er zu klein war, um die Äste des Baumes zu erreichen und hinauf zu klettern. Als der Riese das alles sah, wurde ihm ganz warm ums Herz. Jetzt wusste er auf einmal, warum der Frühling nicht kommen wollte und wie sehr er nur an sich gedacht hatte. Er ging geradewegs in den Garten und half ganz behutsam mit seinen riesengroßen Händen dem kleinen Jungen auf den Baum, der sofort anfing zu blühen. Der kleine Junge streckte glücklich seine Ärmchen aus, umarmte den Riesen und gab ihm einen Kuss. Der Riese war gerührt. Er nahm eine große Axt und riss die hohe Mauer rund um den Garten nieder. Und zu den Kindern sagte er: „Der Garten gehört ab sofort euch!“

Ausführliche Informationen unter: www.ashbonn.de * Tel.: 0228 36 47 37

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