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(8) Ich spüre sein Lächeln in den Knien. Es scheint meine Mundwinkel an unsichtbaren Fäden langsam nach oben zu ziehen. Das Licht im Flur legt sich sanft auf sein Gesicht. Es hat etwas dermaßen Verletzliches an sich, dass es mich berührt, es einfach nur anzusehen. Sanfte Linien, grazile Züge. Unergründliche Augen, tief und weit wie die Nacht. Sie sprechen mit mir und ich könnte ihnen ewig zuhören, ihn ewig ansehen. Sein Gesicht ist zeitlos schön und voller Gegensätze. Auf den ersten Blick schüchtern und unsicher, aber gleichzeitig ist da etwas in diesen Augen. Etwas Selbstsicheres, vielleicht sogar Abgründiges. Wie eine unausgesprochene Aufforderung. Sein kurzes dunkelbraunes Haar ist zerzaust. Scheinbar chaotisch und unwillkürlich. Ich frage mich, wie es sich anfühlt und bei diesem Gedanken kribbeln meine Fingerkuppen. Es ist schon komisch. Manchmal ändert sich monatelang nichts. Jeder Tag ist wie der andere. Und dann ganz plötzlich ändert sich alles in einem Augenblick. Vor ein paar Stunden stand ich noch in der Küche und habe mich selbst bemitleidet. Wegen Christoph. Und jetzt? Jetzt ist es mir egal. Absolut gleichgültig. Und wenn Christoph Kathi in diesem Augenblick die Kleider vom Leib reißen und sie hier direkt vor meinen Augen auf diesem Tisch nehmen würde, wäre es mir auch egal. Denn es gibt ihn. Den namenslosen mit dem schönsten Lächeln, das ich je gesehen habe. Die Musik geht aus, die Lichter an. Bis zu diesem Moment schien der Abend voller Möglichkeiten. Petras Eltern stehen fassungslos im Wohnzimmer und schauen sich um. Nach dieser Nacht werden ihre Eltern sie anders sehen. Sie haben unfreiwillig die dunkle, geheime Seite ihrer Tochter kennengelernt. Nach außen hin ist Petra ein Musterkind. Gute Noten, gute Freunde, außerschulische Aktivitäten. Von manchen dieser Aktivitäten wussten ihre Eltern eben nichts. Es muss ein Schock sein, die Mustertochter auf dem Fußboden mit einem Fremden vorzufinden. Sie hätten wirklich nicht zu einem unglücklicheren Zeitpunkt zu Hause ankommen können. Im Halbdunkel sah das alles eigentlich noch ganz harmlos aus, doch im grellen Licht erinnert diese Szene spontan an den Schulmädchen-Report. Petra auf dem Rücken, fremder Typ zwischen ihren Schenkeln. Hm. Das wird Ärger geben. Und dann fängt er an. Als ihre Mutter lauthals zu schreien anfängt, packen alle hastig ihre Sachen zusammen und verlassen fluchtartig das Haus. Im Augenwinkel sehe ich Christoph und Kathi. Sie rückt ihren Rock zurecht. Ich werfe mir die Tasche über die Schulter und fliehe mit der Herde nach draußen. Einen Moment später lehne ich am Gartenzaun und warte auf Caro. Menschentrauben lösen sich auf und verschwinden in alle Richtungen. Und da ist sie. Hand in Hand mit Kai. Und neben ihm steht er.

… Wir gehen in Richtung Auto. Kai und Caro gehen voraus, Julian und ich hinterher. Ich glaube, ich war in meinem ganzen Leben noch nicht so nervös. Und in diesem Moment weiß ich, dass ich diesen Abend niemals vergessen werde. Niemand spricht ein Wort. Da ist nur die Musik aus dem Radio und die sommerliche Morgenstimmung. Ich genieße den erfrischenden Wind. Mit geschlossenen Augen sauge ich den warmen Geruch des Sommers in mich auf. Ich schaue unauffällig zu Julian hinüber und dann ganz schnell wieder weg. Ich spüre die Wärme seines Arms an meinem. Unsere Haut trennen nur wenige Millimeter. Als wir abbiegen, strömt lauer Wind ins Auto und trägt seinen Duft zu mir. Das, was gerade in mir passiert, habe ich noch nie gespürt. Es ist, als hätte ich mich noch nie wirklich gespürt. So, als würde jede meiner Zellen tanzen. Meine Hände und Füße sind eiskalt und die unsichtbaren Fäden kontrollieren noch immer mein Gesicht. Mein Körper ist mir auf eine wunderbare Art fremd. Ich fühle mich, wie auf Droge. Und meine Droge sitzt direkt neben mir.

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