Wenn das die Grimms wüssten! Anthologie

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Von Einer, die auszog und das Fürchten lernte Petra Schmidt

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enn du gern anderen Menschen zuhörst, sei es um dein Gegenüber kennenzulernen oder einfach nur, um dir die Zeit zu vertreiben, dann setz dich zu mir, mach es dir bequem und lausche meinen Worten. Vielleicht kann ich dich überraschen, vielleicht stehst du anschließend auch auf und sagst: „Kenn ich, wohnt gleich nebenan.“ Angefangen hatte es schon, als ich noch ein kleines Kind war. Ich hatte vor nichts Angst. Und das machte umgekehrt meiner Mutter Angst. Ich rannte über die Straße, ohne nach den Autos zu schauen. Wozu auch, die hatten doch Bremsen. Kletterte auf alles, was ich ohne Hilfsmittel besteigen konnte. Sprang von allem herunter, was mir meine Mutter nicht schnell genug verbieten konnte. Schon als ich vier oder fünf Jahre alt war, erzählte mir später meine Mutter, legte ich mich mit den größeren Jungs an, die meiner Freundin im Sandkasten das Spielzeug klauten. Obwohl ich viel kleiner als die Jungs war, hatte ich mich auf sie gestürzt und zu Fall gebracht. Während der Schulzeit war ich nicht besser. Anfangs verhaute ich nur die Schüler, die meine Freunde ärgerten. Später machte es mir einfach nur Spaß, mich zu prügeln und zu sehen, wie andere Angst vor mir hatten. Meiner Mutter gefiel diese Entwicklung nicht. Aber was wollte sie machen? Bei uns gab es noch nicht „Die strengsten Eltern der Welt“, sie musste mit mir allein klarkommen. Mein Erzeuger hatte sich aus dem Staub gemacht, als ich ein paar Monate alt war. Mein Respekt Erwachsenen gegenüber und Männern im speziellen, hielt sich sehr in Grenzen. Das zeigte ich den wenigen Typen, die meine Mutter sich traute mal mit nach Hause zu bringen, auch sehr deutlich. Die Pfeifen waren selten lange da. Anfangs bedauerte ich meine Mutter noch, wenn sie 361


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