Francis Kirps: Die Klasse von 77 (Roman)

Klasse 77 umschlag 9783945715772 Sonntag, 7. August 2016 13:40:49

Francis Kirps

Die Klasse von 77 Ein Punkrock-Roman

Leseprobe

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Francis Kirps Die Klasse von 77 Ein Punkrock-Roman Umschlaggestaltung: Karsten Weyershausen Satz/Layout: Andreas Reiffer Foto S. 7 u. S. 159: Bartek Ambozik Lektorat: Lektorat-Lupenrein.de und Anselm Neft 1. Auflage 2016 Š Verlag Andreas Reiffer Druck und Weiterverarbeitung: CPI books, Leck ISBN 978-3-945715-77-2 (Print) ISBN 978-3-945715-49-9 (Ebook) Verlag Andreas Reiffer, Hauptstr. 16 b, D-38527 Meine www.verlag-reiffer.de www.facebook.com/verlagreiffer

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Probleme Bislang hatte Musik in meinem Leben keine große Rolle gespielt. Vor Cousin Iggys Punk-Kassette, war die rebellischste Musik, die ich kannte, die von Gunter Gabriel im Autoradio gewesen, wenn mein Vater zu »Hey Boss, ich brauch mehr Geld« oder »Papa trinkt Bier« entfesselt mit dem Kopf wackelte und seine Koteletten schüttelte, bis meine Mutter die Musik leiser drehte und, spätestens bei »Baby gib Gas« wieder Howard Carpendale einlegte.

Meine eigene Plattensammlung war überschaubar. Neben Hörspielen und Standards wie dem »Biene-Maja-Lied« oder »Wickie und die starken Männer« war meine letzte Errungenschaft eine Kassette mit Schlumpfmusik. Die Schlümpfe wurden als der neuste heiße Scheiß aus Belgiens nimmermüden Comicschmieden gehandelt. Doch nachdem ich die Ramones gehört hatte, kamen mir die Schlümpfe wie eine Boygroup aus der Retorte vor. Mir wurde mit einem Schlag klar, wie kalkuliert und glatt ihr Material eigentlich klang, quasi wie Erwachsenenmusik. Und dieser Helium-Gimmick war einfach nur albern. Zudem wurde unter aufgeklärten Grundschülern gemunkelt, dass die Schlümpfe ihre Platten gar nicht selbst einspielten, sondern das von Studiomusikern übernehmen ließen. Die Ramones dagegen waren real existierende Comicfiguren. Das waren keine blauen Plüschkostüme, in denen Erwachsene steckten, die nichts Gescheites gelernt hatten, Pausenclowns, die ihr Geld damit verdienten, Kinder zu infantilisieren.

Diese piepsigen Blaulinge aus Belgien waren nicht der real deal. Punk war das wahre Schlumpf. Waren die Ramones vielleicht die echten Schlümpfe?

Joey, Johnny, Dee Dee und Tommy Schlumpf. Die vier New Yorker klangen, wie die Schlümpfe klingen würden, wenn es

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sie wirklich gäbe. Wie Coca Cola intravenös und Brausepulver durch die Nase. Warum hatte ich das nicht früher gemerkt? Da gab es Künstler, die vollkommen kindgerechte Musik machten, doch man enthielt sie uns vor, fütterte uns stattdessen mit seriellem Kinderpop, der unsere jungen Hirne gefügig und weich machen sollte, bereit für die alltägliche Indoktrination bei Arbeit, Sport und Spiel.

Die Ramones wurden von nun an unser täglicher Begleiter.

Ralphie hatte sich eine Kopie der Kassette gemacht, ebenso wie ich. Dem Original durfte auf keinen Fall etwas passieren, deshalb hatte ich es in einem Geheimversteck im Inneren meines ausgestopften Wiedehopfs deponiert.

Wenn wir keine Schule hatten, hielt ich mich zumeist bei Ralphie auf. Da seine Mutter den ganzen Tag arbeiten ging, war man bei ihm zuhause ungestört. Soweit ich wusste, war es der einzige Fall dieser Art in unserer Ortschaft, wenn man mal von Robert Schmidt absah, der bei seiner verrückten Oma hauste. Bei mir war die Lage nicht so günstig, neben anderen erwachsenentypischen, moralischen Defiziten litt meine Mutter nämlich auch unter krankhafter Neugier. Wann immer ich Besucher empfing, platzte sie in den unpassendsten Momenten mit Keksen und Limo ins Zimmer. Deshalb wurden konspirative Sitzungen und historische Schlachten in der Regel bei Ralphie zuhause abgewickelt. Meine Mutter hieß zwar nicht gut, dass Ralphies Mutter arbeiten ging (warum suchte sie sich nicht einfach einen neuen Mann, dann hätte sie zuhause bleiben können, wie alle normalen Frauen?), dafür vertraute sie Ralphie und hielt ihn für verständiger und erwachsener als mich. Ralphie war ziemlich gut darin, meiner Mutter schön zu tun, manchmal sprachen die beiden über mich, als sei ich gar nicht anwesend, so wie Erwachsene über Kinder redeten. Na, zumindest hatte das den Vorteil, dass

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meine Mutter mich nie daran hinderte, zu Ralphie zum Spielen zu gehen. »Du hüpfst nicht im Rhythmus«, sagte Ralphie. »Nein, du hüpfst nicht im Rhythmus«, entgegnete ich.

Wir sprangen auf Ralphies Bett zur Ramonesmusik auf und ab. »Du musst auf der Eins und der Drei landen, nicht auf der Zwei und der Vier«, sagte Ralphie. Ich betrachtete Ralphies Bettdecke von oben, aber da waren keine Einsen und Dreien aufgemalt, nur Comicfiguren. Ich landete auf einem Tweety und schoss wieder in die Höhe. »Viel höher als du«, sagte ich. »Du springst falsch«, nervte Ralphie. »Du bist nicht im Takt. Du musst unten ankommen auf der Basstrommel und den höchsten Punkt bei der Snaredrum erreichen.« Der wollte sich bloß wichtigmachen. Seine Mutter hatte ihn letztes Jahr an der Musikschule von Herrn und Frau Eich angemeldet, damit er zumindest zeitweise unter Aufsicht stand, während sie arbeiten ging. Ich hielt das für keine gute Idee und hatte es ihr auch deutlich zu verstehen gegeben. Im Musikkurs war er schlechten Einflüssen – also anderen als meinen – ausgesetzt und das war seiner Persönlichkeitsentwicklung nicht eben förderlich: Ständig protzte er mit diesem nutzlosen Fachwissen. Notenlesen, wer brauchte sowas? Gab es etwa Romane, die in Noten geschrieben waren? Doch wohl eher nicht. Außerdem hatte ich niemanden zum Spielen, wenn Ralphie im Musikkurs war.

Ich gab ihm einen Schubs und wir plumpsten beide gleichzeitig auf die Bettdecke. Es krachte. Das Bettgestell hatte wieder mal nachgegeben, diese Sprungfedern leierten immer so schnell aus. Echte Wertarbeit war das nicht gerade. »Nicht schon wieder«, stöhnte Ralphie.

Mit Nägeln zwischen den Zähnen und einem Hammer in der Rechten machte er sich daran, das Bett wieder instand

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zu setzen. Mittlerweile konnte er das ziemlich gut, musste ich neidlos anerkennen. Meine Stärken lagen mehr im schöngeistigen als im handwerklichen Bereich, deshalb hielt ich mich aus den Reparaturarbeiten raus.

Um Ralphie zu unterhalten, las ich ihm aus Cousin Iggys Brief vor, der heute Morgen eingetroffen war. Er habe es ohne nennenswerte Probleme nach London geschafft, schrieb Iggy, und sei bei einer gastfreundlichen Rasta-Familie in Notting Hill untergekommen, für die er sich als Küchenhilfe und Maskottchen verdinge. Im Briefumschlag hatte ich neben dem Schreiben eine C60-Kassette mit Liedern von Bands mit Namen wie The Stooges und Radio Birdman gefunden, außerdem ein zerfleddertes Paperback: »Day of the Triffids« von John Wyndham. Laut Klappentext ging es um eine mutierte Pflanzen-Spezies, die Menschen fraß. Sehr cool. Ich freute mich schon darauf, Heinz-Rudolf III. aus dem Buch vorzulesen.

Die Adoptivfamilie stünde seinen Plänen eine Punkband zu gründen sehr aufgeschlossen gegenüber, schrieb Iggy, und sein neuer Bruder Bad Rudie ließe ihn sogar auf seiner Gitarre üben, bis er genug Geld für eine eigene zusammen habe. »Das sollten wir auch machen«, sagte Ralphie und hämmerte den letzten Nagel ein. »Uns von Rastas adoptieren lassen?« »Eine Punkband gründen. Das wäre ein Ausweg aus dem öden Trott hier, das Sprungbrett aus dem Mief der Provinz.

Auf dem Bett herumspringen, wird uns auf lange Sicht nicht weiterbringen.« »Aber es macht Spaß«, gab ich zu bedenken. »Eine Punkband, das wäre das Richtige für Rebellen wie uns. Und dein Cousin wird Augen machen, wenn er unsere erste Platte hört.« »Okay«, sagte ich, »dann gründen wir halt eine Band.« Hundertprozentig leuchtete es mir immer noch nicht ein.

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Musste man wirklich extra eine Punkband ins Leben rufen, um nach London auszureißen? Andererseits: Es klang gut. Es klang richtig. Meiner Mutter Sohn als Leader einer Punkband. Cousin Iggy wäre stolz auf mich.

Am Abend, während ich mit meinem Transistorradio unter der Bettdecke lag und versuchte, die John-Peel-Show reinzubekommen, die Cousin Iggy mir empfohlen hatte, dachte ich lange über Ralphies Idee nach. Der neue Sound aus New York, der über Cousin Iggy den Weg in mein Kinderzimmer gefunden hatte, wirkte wie ein Weckruf. Da draußen war eine bunte, laute, gefährliche Welt, die, wenn nicht besser, so doch zumindest komplett anders war, als die Welt daheim. Mein Heimatstädtchen Piggeldingen, ein 3000-Einwohner-Kaff in der luxemburgischen Provinz, war längst zu klein für mich geworden. Ich kannte jede Ecke, jede Straße, jeden Kaugummiautomaten, jeden dicken Polizisten, jeden Regenwurm beim Namen. Langeweile bestimmte meine Tage, wie der ewige Regen das Wetter.

Nicht erst seit gestern stellte ich das System in Frage, namentlich das Schulsystem. Und daran waren erstens Rechnen und zweitens Französisch schuld. Mit Rechnen hatte ich nie ein Problem gehabt. Das sollte sich ändern, als Frau Rousseau, unsere nette sommersprossige junge Lehrerin diese neuen spielerischen Lernmethoden an uns ausprobierte. Zahlen wurden durch »lustige« Bilder dargestellt, das sollte unseren kindlichen Gemütern den Eintritt in die von den Pädagogen als bedrohlich empfundene Welt der Ziffern und der Logik erleichtern. Die Kollision der neuen Methode mit den bodenständigen Psychen von uns Landkindern war eine traumatische Erfahrung. Wo vorher schöne klare Zahlenformationen auf dem Blatt gestanden hatten, tummelten sich jetzt groteske Halbwesen. Auf einmal war die Zwei ein Schwan, die Vier ein Segelschiff, die Acht ein fetter, psychopathisch grinsender

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Schneemann und die Eins ein einarmiges Strichmännchen.

Das brachte mich ohne Ende durcheinander. Was war aus meiner aufgeräumten, verlässlichen Rechenwelt geworden?

Wieso geisterten da jetzt diese Mutationen herum und verfolgten mich bis in meine Träume? Ich glaube, die Sechs war tatsächlich ein Delphin und irgendeine andere Zahl sogar ein Clown. Wahrscheinlich die Dreizehn. Und kaum war dieser Schock verdaut, kamen sie uns mit dieser welschen Gangstersprache: Französisch. Da hatte man gerade schön auf Deutsch lesen und schreiben gelernt, und nun konfrontierten die da oben uns mit einer Sprache, die alle Regeln der Orthographie und des gesunden Menschenverstands auf den Kopf stellte.

Da war das U ein Ü, Ou war U, Au war O, und die Nase wurde vom Riech- zum Sprechorgan degradiert.

Das Rechnen hatten die Franzosen offenbar auch nach spielerischen Methoden gelernt. 80 war bei ihnen vier-zwanzig, und 70 hieß sechzig-zehn. Wie beknackt war das denn bitte?

Konnten die etwa nur bis 60 zählen?

All das ließ mich den Sinn der Regeln, die mich bislang sicher durch mein junges Leben geleitet hatten, in Frage stellen. Was, wenn es wirklich ein Land gab, in dem zwei mal zwei gleich fünf war, wie in diesen überkandidelten Pippi-Langstrumpf-Klamotten, die eskapistische Erwachsene sich so gern reinzogen? Wenn die Sieben eine Fritte war und die Drei ein Spiegelei und das U ein Ü, wo führte das alles hin? Wo hörte es auf ? Waren in einer Welt, die vom Subjonctif regiert wurde, vielleicht die Panzerknacker die Guten? Existierte Gott möglicherweise doch?

Als ich der Lehrerin unsere von der ganzen Klasse unterzeichnete Petition gegen die Französisierung des Unterrichts vorlegte, meinte sie nur müde, sie sehe nicht, wo das Problem läge. Wir hätten schließlich auch keine Schwierigkeiten mit der Umstellung von Luxemburgisch auf Deutsch gehabt. »Ja

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schon«, erwiderte ich, »aber Luxemburgisch und Deutsch sind ja auch eine Familie. Die verhalten sich zueinander wie Mammut und Mastodon. Sie können gemeinsam auf der grünen Wiese grasen und fröhlich trompetend miteinander scherzen. Und dann kommt dieser baskenmützige T-Rex namens Französisch aus einer längst vergangenen Zeit herangetrampelt und stört das friedliche Beisammensein, indem er vorsintflutliches Kauderwelsch brabbelt und dabei mit seinen lächerlich kurzen Armen fuchtelt.« Frau Rousseau sah mich nach dieser kleinen Rede nachdenklich über ihre Brille hinweg an: »Das hast du mal wieder schön gesagt, aber dennoch finde ich traurig, dass du so wenig offen für Neues bist. Ein wacher Kopf wie du sollte es als Chance ansehen, Französisch lernen zu dürfen.« Nicht offen für Neues? »Ich lese jeden Tag ein neues Buch, manchmal sogar zwei«, widersprach ich. »Du flüchtest dich in Bücher«, sagte Frau Rousseau. »Abenteuerromane, die in einer vergangenen Zeit spielen.

Intellektuelle Herausforderungen, die deine eingefahrenen Denkstrukturen in Frage stellen, machen dir Angst.« Selber Denkstrukturen, dachte ich und sagte: »Mit Verlaub, aber Sie lesen doch auch immer die gleichen Bücher. Den ›Blauvogel‹ haben Sie schon mindestens dreimal durch.« Ich deutete auf das eselsohrige Taschenbuch auf dem Pult, »Blauvogel – Wahlsohn der Irokesen« von Andrea Müller-Tannewitz, hinter dem sie sich immer versteckte, wenn wir ihr über den Kopf wuchsen. »Das ist was anderes«, sagte sie schnell und tat mir sogar den Gefallen leicht zu erröten. »Das sagen immer alle«, antwortete ich.

Zur Teestunde überbrachte ich die Nachricht im Schulhof, dass wir auch weiterhin unsere wertvolle Zeit mit Französisch vergeu-

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den müssten. »Oh, my gosh, wie außerordentlich bedauerlich«, sagten die Mädchen vom Enid-Blyton-Club und schüttelten betrübt die Köpfe über so viel Unvernunft. Die kleine Pause am Nachmittag war von dem politisch recht einflussreichen EnidBlyton-Club durch die Teestunde ersetzt worden. Wie wir überhaupt die Anglisierung unserer Schule tatkräftig vorantrieben und Posh-Englisch längst wie selbstverständlich in die Umgangssprache eingesickert war. Im Gegensatz zum Französischen war das Englische nämlich komplett harmlos, es war ein putziger maltesischer Zwergelefant, der sich problemlos zwischen die anderen germanischen Dickhäuter einfügte, wo er Schutz vor den Angriffen des gallischen Raubsauriers fand.

Andere Britannisierungsversuche waren allerdings an der Betonköpfigkeit der herrschenden Klassen gescheitert. Unsere Petition für die Einführung von Schuluniformen nach englischem Vorbild war von der Direktion rundweg als zu teuer abgelehnt worden. Den Schulbus, den wir uns gewünscht hatten, ein roter Doppeldeckerbus, für den die ganze Klasse zusammengelegt hatte, bekamen wir ebenfalls nicht. Mit dem fadenscheinigen Argument, unser Schulweg betrüge doch nur ein paar hundert Meter, war dieses Anliegen ebenso abgeschmettert worden, wie unser Wunsch nach einem Internat, wie in den Internatsbüchern. Die ahnungslose Frau Rousseau hatte gar vorgeschlagen, wir sollten uns doch ein Baumhaus bauen. Dabei wusste jedes Kind, dass Baumhäuser ein moderner Mythos waren und nur in Entenhausen existierten. Und Entenhausen war zwar real, lag allerdings in einer Raumzeitfalte, der sogenannten »Entenfalte«, am Rande des bekannten Universums und war mit den technischen Mitteln unserer Spezies momentan nicht erreichbar. Aber erklär das mal einer Grundschullehrerin.

Zu diesen Problemen mit den Autoritäten kam hinzu, dass ich im Herbst ’76 zum ersten Mal in meinem Leben mit einem

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schweren persönlichen Verlust umgehen musste. Meine Freundin Mausi war jäh und sinnlos aus dem Leben gerissen worden.

Mausi war die Katze unseres Nachbarn und in der Dämmerung eines kalten grauen Oktobertages vom Kleinlaster des Milchmanns überrollt worden, dabei hatte ich ihr immer eingeschärft, vorsichtig im Straßenverkehr zu sein, wo sie doch so schlecht hörte und nur noch ein Auge hatte. Der Milchmann und ich waren untröstlich, doch unser Nachbar, der Barbar, kratzte sie einfach mit der Schaufel, die er immer benutzte, um Maulwürfe zu erschlagen, vom Asphalt und knöterte irgendwas von Sauerei und Schadenersatz. Dann warf er die arme Mausi in die Grube neben dem Misthaufen zu den zahllosen Maulwurfskeletten, während ich mit gebrochenem Herzen daneben stand und ein ordentliches Begräbnis einforderte. Stattdessen bekam ich eins mit der Schaufel übergebraten. So waren die Erwachsenen: vollkommen gefühlskalt, wenn es um reale Dinge ging, aber zu »Tränen lügen nicht« schnäuzten sie ihre großporigen Riesennasen und heulten gelben Rotz und grünes Wasser in ihre leichentuchgroßen rotweißkarierten Taschentücher.

Spätestens da war mir klar geworden: Ich wollte niemals erwachsen werden. Ich würde für immer ein Mensch bleiben.

Die Schule hatte mir nichts mehr zu bieten, die Lehrerin verstand mich nicht, es war wirklich höchste Zeit, dass das System und ich getrennte Wege gingen. Ich hatte in jedem Fach (außer Basteln, Singen, Ordnung, Turnen, Medizinball und Schönschrift) schon mal eine Eins Plus gehabt, und es fühlte sich immer gleich an. Irgendwie hohl. So, als müsse da noch was kommen, aber da kam nichts. Ich hatte genug Fleißbienchen gesammelt, um einen florierenden Fleißbienenstock zu gründen. Die Schulbibliothek hatte ich durch bis hoch zur sechsten Klasse, und die Schulbibliothekarin hatte mittlerweile Angst vor mir.

Oder wie sonst sollte ich mir ihre panischen Blicke und den

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Griff zum Baldrianfläschchen erklären, sobald ich mit meiner vielseitigen Bücherliste im Anmarsch war?

Seit dem zweiten Schuljahr war mein Leben in erschreckend eingefahrenen Bahnen verlaufen. Was war aus dem misanthropischen Kindergartenkind geworden, dem unbequemen Erstklässler?

Ohne es zu bemerken war ich alter Revoluzzer Teil des Establishments geworden. Ich war in tausend Klubs und Vereinen.

Ich war Gegenklassensprecher mit doppelt so vielen Stimmen wie der offizielle Klassensprecher. Ich war Präsident des Linkshänder-Klubs, Vize-Präsident des Anti-Schachklubs, Gründungsmitglied der Joan-Aiken-Gesellschaft, das einzige NichtMädchen im Enid-Blyton-Klub, Vorstandsvorsitzender der »Freunde von Mark Twain«, stellvertretender Schatzmeister des Aktionsbündnisses »Gerechtigkeit für Long John Silver«, Generalsekretär der »Jungen Paläontologen«, Hauptmann dritten Grades beim lokalen Räuber-Hotzenplotz-Chapter, Oberster Puppenwart der Ameisenzüchtergilde und einziges Mitglied der elitären Kapitän-Ahab-Loge.

Und mit dem »Kolumbusfalter«, den ich Cousin Bumsti gestohlen hatte, damit das verzogene Gör endlich lernte, auf seine Sachen achtzugeben, war meine Lustige-Taschenbücher-Sammlung auch komplett. Was also hielt mich noch hier? Meine Eltern würden mich nicht vermissen, die hatten mehr als einmal den Wunsch geäußert, mich loszuwerden, beziehungsweise gegen ein weniger anstrengendes Kind, ja, warum nicht Cousin Bumsti, einzutauschen? Nun, dem Wunsch konnte Folge geleistet werden, dachte ich. Sollte Bumsti doch in mein Zimmer einziehen, dann konnte er auch ein Wiedersehen feiern, mit all den Sachen, die ich ihm im Laufe der Jahre geklaut hatte.

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Das Meeting Nun, da unsere Band beschlossene Sache war, galt es, den Traum in die Realität umzusetzen. Wen sollten wir einweihen, wer konnte uns weiterhelfen? Cousin Iggy auf jeden Fall, ich hatte ihm bereits einen Brief geschrieben, in dem ich unseren Plan darlegte. Allerdings hätten wir nicht wirklich Ahnung, wie man bei so einer Bandgründung vorgehen solle, wir wären also für jeden Tipp dankbar, ebenso wie für inspirierende neue Musik und krassen Lesestoff.

Ralphie saß auf dem Mäuerchen, das unseren Schulhof abgrenzte. Er hatte sein Rechenheft auf dem Schoß und kritzelte hinein. Ich stand vor ihm und schirmte ihn möglichst unauffällig vor neugierigen Blicken ab. »Instrumente brauchen wir«, sagte Ralphie und notierte: »1. Instrumente«. »Einen Bandnamen«, ergänzte ich. »Etwas Cooles, Punkmäßiges.« »Punk, hm?«, erklang eine Stimme hinter mir. »Damit kenne ich mich zufällig bestens aus. Ich habe alle relevanten Musikzeitschriften aus London abonniert.« Ohne dass ich es bemerkt hatte, war jemand hinter mich getreten und hatte uns belauscht. Es war Jean-Baptiste, der vielleicht bizarrste Junge unserer Klasse. Ralphie klappte das Heft zu und starrte ihn misstrauisch an: »Was willst du?« »Ich will gar nichts. Ich habe ja alles.« Das stimmte wohl.

Jean-Baptiste entstammte der reichsten Familie in Piggeldingen. Sogar auf seinem Schulranzen prangte das Lacoste-Krokodil.

Ich glaubte ihm das mit den britischen Musikzeitungen sofort, denn er konnte perfekt Englisch, sein Vater hatte es ihm schon als Dreijährigem beibringen lassen. Mit vier sprach er

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es besser als sein Vater, mit sechs besser als sein Englischlehrer, deshalb lernte er jetzt Japanisch. Sein Vater war überzeugt, dass in zwanzig Jahren Japan die Welt wirtschaftlich beherrschen würde, und da müsse man gut vorbereitet sein, wenn man mithalten wolle, am Ende des Tages. Jean-Baptiste war für ein neunjähriges Kind schon ziemlich verkorkst. Wobei »Kind« eine nicht ganz zutreffende Bezeichnung für jemanden wie Jean-Baptiste war, »Projekt« traf es da schon eher, denn das war definitiv das, was seine Eltern in ihm sahen. Und er selbst möglicherweise auch. »Ich möchte keineswegs aufdringlich erscheinen«, sagte Jean-Baptiste und knotete die Ärmel des lachsfarbenen Pullovers, den er um die Schultern trug, über seinem Hemd zusammen, »aber mir war so, als hörte ich euch über die Gründung einer Punkband beratschlagen.« »Und was geht dich das an?«, fragte Ralphie angriffslustig. »So einiges«, sagte Jean-Baptiste, »schließlich bin ich selbst ein bisschen Punk. Die ungezügelte Energie, das wilde Anarchische üben einen großen Reiz auf mich aus. Und nicht zuletzt das kommerzielle Potential. Vielleicht sollten wir uns zusammentun. Meine exzellenten Kontakte nach London und mein großes Fachwissen wären euch bestimmt von Nutzen.« Warum eigentlich nicht? dachte ich. Reden konnte der Junge wie ein Großer. Kompetenzen schien er auch zu haben. Und zwei Leute reichten für eine Band nicht aus, das war sogar mir klar. »Ein bisschen Punk«, sagte Ralphie abschätzig. »Entweder ist man Punk oder man ist es nicht.« »Eine vorbildliche Einstellung«, sagte Jean-Baptiste und bohrte seinen Zeigefinger in Ralphies Brust. »Authentisch, idealistisch, straight in your face. Das sorgt für street credibility, die brauchen wir, und mit der kann ich in der Tat nicht dienen. Ich komme einfach aus einem zu guten Stall.«

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»Mach das nie wieder«, zischte Ralphie und stieß JeanBaptistes Hand weg.

Ich setzte mich neben Ralphie auf das Mäuerchen: »Und wenn wir ihm eine Chance gäben? Wir können nicht ewig als Duo weitermachen.« Ralphie überlegte kurz, während er Jean-Baptiste skeptisch beäugte. »Hast du heute Nachmittag Zeit?«, fragte er dann.

Jean-Baptiste zog einen Terminkalender aus der Tasche und blätterte darin: »Vor drei Uhr nicht, da begleite ich Maman zu einer Kammermusik-Matinee.« »Dann treffen wir uns um halb vier bei mir«, sagte Ralphie, »und da sehen wir weiter.« »Meeting mit der Band um 15:30«, murmelte Jean-Baptiste während er in seinen Taschenkalender schrieb. »Und kein Wort zu niemandem, klar?« »Diamantenklar«, sagte Jean-Baptiste verschwörerisch und legte einen Finger auf den Mund. Schalk blitzte in seinen Augen auf, und für einen kurzen Moment wirkte er wie ein ganz normales Kind. Dann ertönte die Klingel und wir machten uns auf den Weg zurück in unsere Klasse.

Jean-Baptiste galt als ziemlich arrogant, aber er wurde respektiert. Wie alle Reichenkinder hatte er gelegentlich mit Diskriminierung und Mobbing zu kämpfen, allerdings wusste er sich zu wehren. Wenn man sich mit Jean-Baptiste anlegte, kam es meistens gar nicht bis zur körperlichen Auseinandersetzung.

Ich hatte einmal mit angesehen, wie er dem gefürchtetsten Schulhofrüpel so gemeine Sachen über dessen Mutter gesagt hatte, dass der heulend weggelaufen war. »Was wissen wir schon über den Typen? Kann er überhaupt ein Instrument spielen?«, fragte Ralphie. »Ist das ein Muss? Ich kann schließlich auch keins«, antwortete ich.

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Die Türklingel unterbrach unser Gespräch. »Das wird er sein«, sagte ich. »Zeig dich von deiner besten Seite.« Ralphie lief nach unten, um zu öffnen. Mit JeanBaptiste im Schlepptau kam er zurück. Dieser hatte eine dicke Ledertasche unter dem Arm. Er setzte sie ab, befreite sich aus seinem Lodenmantel und blickte sich suchend um: »Wo ist die Garderobe?« Ralphie zeigte auf den Steinbockschädel an der Wand, den ich ihm aus dem letzten Schweizurlaub mitgebracht hatte. »Sehr stilvoll«, sagte Jean-Baptiste. Er hängte den Mantel an einem Bockshorn auf. »Selbst geschossen?« »Er starb an Altersschwäche. Sein Name war Urs«, antwortete ich an Ralphies Stelle. »Wir sind beide überzeugte Jagdgegner.« »Verweichlichte Kinder der westlichen Dekadenz«, sagte Jean-Baptiste. Er nahm seine Baskenmütze ab und schleuderte sie wie ein Frisbee auf das andere Horn. Seine knapp schulterlangen Haare waren mit einer Spange zu einem Zöpfchen gebunden. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Viele Teenager und einige Erwachsene trugen ja diese hippiemäßigen Pferdeschwänze, aber das hier war etwas anderes. Jean-Baptistes Zöpfchen sah eher wie das Ringelschwänzchen eines Ferkels aus. In der Schule hatte ich ihn noch nie mit diesem Ding gesehen.

Er bemerkte, dass ich auf den Zopf starrte. »Das ist ein Kreativzöpfchen«, erklärte er, »es kanalisiert die zerebralen Ströme zu einem steten Fluss an positiver Energie.« »Warum trägst du es denn nie in der Schule?«, fragte ich.

Jean-Baptiste lachte kurz auf: »Seit wann braucht man in der Schule Kreativität?« Stimmte auch wieder.

Ralphie sah aus wie jemand, der kurz davor war, die Geduld zu verlieren: »Könnten wir vielleicht zur Sache kommen …?«

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Jean Baptiste nickte: »Ganz recht. Zeit ist Geld.« Er öffnete seine Tasche und entnahm ihr ein dickes Bündel Zeitschriften, die er vor uns auf dem Boden ausbreitete. »Hier ist der erste Schwung Material für den Theorieteil. New Musical Express, Melody Maker, Sounds, Rolling Stone … alles Wissenswerte über die Populärmusik der Gegenwart …« »Erstmal der praktische Teil«, unterbrach ihn Ralphie. »Kennst du die Ramones?« »Aber klar«, sagte Jean-Baptiste. »Minimalistischer Punk der ersten Stunde. Das Beste aus dem Garagenrock der Sixties und trashigem Bubblegum-Pop.« »Du hast sie also schon mal gehört. Wie gefallen sie dir?« »Also so direkt gehört … eigentlich noch nicht. Aber ich hab alles darüber gelesen.« »Na dann«, sagte Ralphie, »bekommst du jetzt deine erste Punklektion.« Er drückte auf die Playtaste seines Kassettenrekorders und »Blitzkrieg Bop« schmetterte aus dem kleinen Kasten. Jean Baptiste reagierte sofort: Beim ersten Drumbeat sprang er auf und begann auf den Zehenspitzen zu tänzeln. Er drehte windschnelle Pirouetten durch das Zimmer und machte Hüpfer, die mich an ein durchgedrehtes Pferdchen erinnerten.

Sein Gesichtsausdruck war entrückt, die Lippen in einer Art manischer Konzentration fest zusammen gebissen. War das diese Epilepsie, von der meine Mutter behauptete, man bekomme sie, wenn man zu viel Paulchen Panther im Fernsehen guckte?

Ich sah Ralphie an: »Ein epileptischer Anfall. Wir brauchen einen Arzt.« »Das nennt man Ballett«, flüsterte Ralphie. «Keine Krankheit sondern Kunst. Also stör ihn bloß nicht, er macht das richtig gut. Und pass auf, wie er immer korrekt auf der Eins und der Drei landet.« Ich schüttelte den Kopf, während Jean-Baptiste radschlagend durch das Zimmer fegte.

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Zu »Beat on the Brat« wechselte er den Stil und tanzte freier, weniger akrobatisch, dafür sah es noch bescheuerter aus: Er schnitt Grimassen, warf seine Arme jubilierend in die Höhe, wirbelte auf der Stelle um sich selbst. Das Kreativzöpfchen schien über seinen Kopf zu wandern, mal war es ganz oben, mal lugte es über seine Stirn, wie bei einer Ponyfrisur, mal schaute es hinter dem Ohr hervor.

Ich stieß Ralphie in die Rippen. Das hier war aber ganz sicher Epilepsie, kein gesunder Mensch würde sich so aufführen. »Ausdruckstanz«, sagte Ralphie. »Frau Eich hat es uns mal vorgeführt, aber er hier macht es besser. Deutlich weniger peinlich.« Diese Musikschule wurde mir immer unheimlicher.

Nachdem Jean-Baptiste uns ein sehr expressives »Judy is a Punk« vorgetanzt hatte, stoppte Ralphie die Musik. »Eine unkonventionelle, aber sehr überzeugende Vorstellung«, sagte er anerkennend zu Jean-Baptiste. »Irgendwo in dir drin wohnt tatsächlich ein Punk.« Jean-Baptiste rückte sein Zöpfchen wieder an die richtige Stelle: »Astrein. So gut hab ich das P und das U noch nie getanzt. Ich hatte mir die Ramones viel poppiger vorgestellt, nicht so … energetisch.« »Wo hast du denn gelernt, so zu tanzen?«, fragte Ralphie.

Er wirkte tatsächlich beeindruckt von diesem Gehopse. Auf dem Schulhof würde Jean-Baptiste damit allerdings kaum Punkte sammeln, dachte ich bei mir. »Maman hat mich in den Ballettunterricht gegeben, als ich fünf war«, sagte Jean-Baptiste »Sie hat sich immer ein Mädchen gewünscht, das ihre alten Püppchenkleider tragen kann.

Papa hat dem Arzt aber viel Geld gegeben, damit es ein Junge wird.« Ich hatte noch nie gehört, dass jemand im Neutrum von sich selber sprach.

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»Wir konnten den Tanzunterricht zwei Jahre lang vor Papa verbergen, dann kam er uns auf die Schliche. Und zur Strafe hat er mich im Fußballverein eingeschrieben. Maman wollte daraufhin ein zweites Kind, ein Mädchen diesmal, aber Papa hat auf den Tisch geschlagen und gesagt: nein. Das gibt am Ende nur Erbschaftstreitigkeiten, besser das Familienvermögen bleibt in einer Hand.« »Seit wann ist Fußball eine Strafe?«, fragte ich. »Ach, ich hab mich mittlerweile dran gewöhnt und ganz gut im Team eingefügt. Ihnen hat sowieso ein Torwart gefehlt.

Und Maman und Papa sind froh, dass ich endlich einen Sport gefunden hab, der mir Freude zu bereiten scheint. Dressurreiten war ein Reinfall, Pferde mögen mich irgendwie nicht. Und Geräteturnen erinnerte Papa zu sehr an Ballett.« »Welches Instrument spielst du denn?«, fragte Ralphie. »Ich bekomme Geigenunterricht. Aber es macht mir keinen großen Spaß. Das Tanzen fehlt mir doch ein wenig …« »Einen Geiger brauchen wir aber nicht«, sagte Ralphie, »Du musst auf etwas Punkmäßiges wie E-Gitarre umsatteln.

Oder Sänger werden. Kannst du singen?« »Moment, Moment, da haben wir uns eventuell falsch verstanden«, sagte Jean-Baptiste. »Ich interessiere mich eigentlich für den Posten des Bandmanagers. In einer Punkband mitspielen, das geht nicht, wie sieht das nachher in meinem Lebenslauf aus? Aber als erste Etappe in meiner Karriere als Manager, das hat was. Wenn ich euch erstmal riesengroß gemacht habe, wird mein Marktwert ins Unermessliche steigen.« Jetzt war Ralphie verwirrt. »Was macht ein Manager denn?

Wozu brauchen wir so jemanden?« »Ein Manager, na, der managt die ganzen geschäftlichen Sachen.« Jetzt wo das Gespräch sich von Tanz und Musik wegbewegte und um die realen Dinge des Lebens drehte, bekam ich wieder Oberwasser.

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»So ist es«, nickte Jean-Baptiste mir zu. »Ich kümmere mich um das Geschäftliche: Verträge, Plattenfirmen, Booking, Promo. So habt ihr hab den Kopf frei für die kreativen Belange.

In die ich mich natürlich nicht mischen werde, außer wenn ihr das möchtet. Oder wenn ich das Gefühl hab, ihr begeht kommerziellen Selbstmord.« »Ja, dann ist das doch wohl eine gute Sache, so ein Bandmanager«, sagte ich und blickte mich hilfesuchend nach Ralphie um. Der zuckte nur die Achseln. »Der Businesskram interessiert mich nicht. Ihr könnt das von mir aus regeln, wie ihr wollt.« »Dann sind wir im Geschäft«, sagte Jean-Baptiste. »Ich verspreche euch, ihr werdet es nicht bereuen. Ich hab schon mal die Verträge vorbereitet.« Er zog drei dicke Bündel zusammengeheftete Blätter aus seiner Ledertasche. »Ihr braucht das nicht alles durchzulesen«, sagte er beruhigend. »Vor allem nicht das Kleingedruckte. Ist halt so Juristenlatein. Ihr müsst bloß hier hinten euren Krakel …«. Er blätterte die Stelle für uns auf.

Ich machte einen Krakel, Ralphie auch. »Aber nein«, lachte Jean-Baptiste auf, »keinen richtigen Krakel. Krakel ist Geschäftssprache und bedeutet Unterschrift.« Wie gut, dass Jean-Baptiste den Businesskram für uns in die Hand nahm, dachte ich. Unbedarft wie wir waren, wären wir sonst bestimmt dem erstbesten windigen Geschäftemacher auf dem Leim gegangen. »Und was sollen wir jetzt tun?«, fragten wir unseren neuen Manager. »Erstmal braucht ihr ein drittes Mitglied«, meinte er. »Alle großen Punkbands sind Trios.« »Alle außer den Ramones«, wagte ich einzuwenden. »Es muss heißen, alle außer die Ramones«, sagte Jean-Baptiste, bedachte mich mit einem strengen Blick, und ich schwieg.

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Als neues Mitglied gewannen wir einen streichholzdünnen, orangehaarigen Jungen, den alle Krusti nannten und der sich als notorischer Schulschwänzer ein gewisses Renommee erarbeitet hatte. Er kam aus dem verrufensten Viertel unserer Gemeinde, aus der Gossengasse in Nieder-Piggeldingen. Neben seiner untadeligen Reputation war es nicht zuletzt auch Krustis kranker Look, der ihn für die Mitgliedschaft in unserer Band empfahl: Seine Zähne waren kaputter als Tobruk nach zwei Jahren Belagerung, echt beeindruckend.

Die Auswahl an möglichen neuen Bandmitgliedern war allerdings nicht eben groß gewesen. Tatsächlich war Krusti der einzige, der sich auf unsere Anzeige am schwarzen Brett der Schule gemeldet hatte.

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Foto: Ricardo Silva

Francis Kirps lebt und arbeitet in Lintgen/Luxemburg, tritt seit 2003 regelmäßig auf Lesebühnen und Poetry Slams im deutschsprachigen Raum auf. Er ist Organisator der einzigen Lesebühne Luxemburgs und festes Mitglied der Bonner Lesebühne »Ferkel im Wind«. Mitbegründer der von 2005 bis 2015 erscheinenden Literatur-Zeitschrift EXOT. Seit Ende der 1990er zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien. Sein erstes Buch »Planet Luxemburg« erschien 2012 im Verlag Andreas Reiffer (Erweiterte Neuauflage Anfang 2016). Ab 2014 schreibt er regelmäßig Kolumnen für die Satireseite der taz. »Die Klasse von 77« ist sein erster Roman.

Dieses Buch spielt in Piggeldingen, einem fiktiven 3000-Einwohner-Städtchen in der luxemburgischen Provinz. Ähnlichkeiten mit einem real existierenden Städtchen in der luxemburgischen Provinz wären zufällig und nicht beabsichtigt. Alle handelnden Personen sind frei erfunden (außer der Opa und die Oma). Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt und wären reiner Zufall.

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Klasse 77 umschlag 9783945715772 Sonntag, 7. August 2016 13:40:49