Martina Bartling: Lokalrunde

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You’ll Never Walk Alone

Martina Bartling Lokalrunde Zu Fuß um Braunschweig auf dem Kleine-Dörfer-Weg Umschlaggestaltung: Karsten Weyershausen Satz/Layout: Andreas Reiffer Lektorat: Lektorat-Lupenrein.de 1. Auflage 2018 © Verlag Andreas Reiffer ISBN 978-3-945715-22-2 Verlag Andreas Reiffer, Hauptstraße 16 b, D-38527 Meine www.verlag-reiffer.de www.facebook.com/verlagreiffer


Inhalt Vorwort ............................................................................... 4

 Etappe 1: »Batterie schwach« ................................. 6 Riddagshausen – Rautheim – Mascherode

 Etappe 2: »Der tut nichts!« ................................... 22 Mascherode – Heidberg – Melverode – Stöckheim – Leiferde – Rüningen

 Etappe 3: Schlaflos in Lamme .................................. 44 Rüningen – Geitelde – Stiddien – Broitzem – Timmerlah – Lamme  Etappe 4: »Sie als Frau wandern allein?« ............... 66 Lamme – Lehndorf – Ölper – Watenbüttel – Völkenrode

 Etappe 5: Fußballgefühle ......................................... 88 Völkenrode – Veltenhof – Rühme – Wenden

 Etappe 6: Der nackte Mann .................................. 100 Wenden – Harxbüttel – Thune – Bienrode – Waggum – Bevenrode – Hondelage

 Etappe 7: Grillen, Schwäne und Gänsehaut ....... 120 Hondelage – Dibbesdorf – Querum – Gliesmarode – Volkmarode – Schapen – Riddagshausen  Zu Fuß um Braunschweigs Stadtkern ................ 132 Hinweise ........................................................................ 154 Bitte beachten Sie die Empfehlungen zur Kartennutzung für dieses Buch auf Seite 156


Standort BLIK-Tafel


Etappe 3 Rüningen – Geitelde – Stiddien – Broitzem – Timmerlah – Lamme 16 km | 24.000 Schritte

Schlaflos in Lamme

D

a ich gestern recht früh in der Falle war, springe ich heute schon um 7.30 Uhr putzmunter aus dem Bett. Um 9 Uhr sitze ich geduscht, mit gewaschenen Haaren, gepamperten Fußblasen und gepacktem Rucksack am Frühstückstisch. Die mobile Bar habe ich aufgerollt und ebenfalls ins Gepäck gequetscht. Vielleicht benötige ich sie ja noch mal. Das Frühstück ist gut. Ich frage mich, in welchem der insgesamt drei Säle wohl damals meine Konfirmation gefeiert wurde. Dann stecke ich heimlich mein obligatorisches Ei und eine Brezel ein und checke aus. Zimmer und Hotel haben mir gut gefallen. Das war ein schöner Aufenthalt hier in Rüningen! Der bisher heißeste Tag des Jahres also. Angesichts dieser erschwerten Bedingungen kehre ich noch einmal in der Tankstelle ein, um Wasser und Schorle nachzulegen. Nichts deutet auf die von mir gestern beobachtete Bluttat hin. Munter und in sehr guter Verfassung marschiere ich die Hauptstraße durch Rüningen entlang und biege nach wenigen Minuten nach Geitelde ab. Jetzt wird es spannend. Eine sehr, sehr kritische Etappe steht unmittelbar bevor. Die Herausforderung: das Geitelder Holz. Werde ich es durchhalten, bis nach Geitelde durch den Wald zu gehen? Im Vorfeld habe ich anhand der Entfernungsangaben und meiner ungefähren Schrittgeschwindigkeit versucht auszurechnen, wie lange dieser Marsch durch die Heimat von Rotkäppchen und dem Wolf etwa dauern wird. Je


nach Rechenmethode kam ich auf einen Wert zwischen zehn und zwanzig Minuten. Ich musste einmal zwanzig Minuten bewegungslos in einer MRT-Röhre liegen. Aushalten kann ich also zwanzig Minuten Horror inklusive dem Gefühl, die ganze Zeit nicht ein einziges Mal zu atmen. Außerdem kamen bei den meisten Rechnereien auch nur zehn Minuten heraus. Aber zehn Minuten lang beinahe von einem Wolf gefressen werden? Ich wage es. Krame mein Pfefferspray raus und kralle mich daran fest. Gleich am Eingang in den Wald konfrontiert mich ein Schild mit Tatsachen, die ich lieber gar nicht so genau wissen möchte: »Bitte denken Sie daran: Der Wald ist die Kinderstube unserer Wildtiere!« Oder so ähnlich. Ich merke mir lediglich: Aus Kindern werden Erwachsene. Und die verschwinden ja nicht mal eben so aus dem Wald. Nach gefühlten fünfzehn Minuten, in Wirklichkeit wahrscheinlich eher nach einer, vernehme ich einen Knacks im Gebüsch. Vermutlich ein Rehkitz oder ähnlich Niedliches. Ich aber nehme meine Beine in die Hand und rase wie verrückt zurück auf die Hauptstraße. Ein wenig bedaure ich meine Feigheit. Denn es hat im Wald wunderbar gepiept. Das Waldpiepen ist ein anderes Piepen als das Feldrandpiepen. Im Wald entsteht mehr Hall, den man auf dem Feld nicht hat. Das ist mir schon in dem kleinen Waldstückchen bei Mascherode aufgefallen. Hier an der Straße lässt es sich hervorragend laufen. Es gibt einen kombinierten Rad-/Fußweg. Der ist mir früher vom Auto aus nie aufgefallen. Wegen der ihn säumenden hohen Gräser ist er von der Fahrbahn aus auch kaum auszumachen. Daher war diese Etappe für mich im Vorfeld stets die kritischste: entweder durch den Wald oder auf der Straße. Aber so ist es prima. Links schöne Kornfelder, rechts Straße und Wald und vor mir … kreuzt ein Reh die Fahrbahn. Der erste Wildwechsel meines Lebens! Ich bin begeistert. Herrje, wie das gleich im Wald unheimlich rascheln wird, wenn das Reh da reingaloppiert … Nicht auszumalen, wie ich mich erschrocken hätte, wenn das mitten im Wald vor meiner Nase passiert wäre.


Ein paar Meter weiter parkt an einem in den Wald führenden Weg ein Motorrad, mit der Nase Richtung Wald. Da wäre ich also auch noch einem Kerl in Lederklamotten mitten im Geitelder Holz begegnet. Hätte der mich nicht ermordet, wäre ich vor Schreck an einem Herzschlag gestorben. Es ist noch früh am Tag, aber schon wieder so unendlich heiß. Ich habe zwei Deckel auf dem Kopf: einmal meine Sonnenblende, die verhindern soll, dass mir die Sonne ins Gesicht brennt, Der erste Wildwechsel meines Lebens und darüber einen weißen geschieht am Geitelder Holz. Hut, der den Auftrag hat, einen Sonnenstich zu verhindern. Geitelde. Ich passiere das Ortsschild und denke an meinen Freund Horst, der hier irgendwo wohnt. Eigentlich könnte ich ein Selfie vor seinem Haus machen und es ihm – Überraschung – in den Job schicken. Allerdings müsste ich dafür einen kleinen Umweg gehen. Nee, das mache ich nicht. Nicht an einem so heißen Tag. Schließlich muss ich heute mit meinen Kräften haushalten. Die Geitelder Kirche ist ja auch ein schönes Fotomotiv. Ich knipse mich und meinen Rucksack vor der Kirche und schicke Horst alles ins Büro. Auch das Geständnis, dass ich peinlicherweise aus dem Geitelder Holz vor einem Rascheln geflüchtet bin. Auf einem Mäuerchen unter einem Baum lege ich eine kleine Verschnaufpause ein – wie bei fast jeder Kirche, die ich bisher erreicht habe. Man könnte beinahe auf die Idee kommen, ich pilgere.


Geitelde

Aber die Erklärung ist viel profaner. Ich nutze gern die kleinen Sitzgelegenheiten unter einem Schatten spendenden Baum, die die meisten Kirchen Gastronomie/Verpflegung bieten. Meist sind es Bänke, hier in Waldschänke Geitelde ist es dieser Mauervorsprung Rüningenstraße 20 in angenehmer Sitzhöhe, sehr bequem und behaglich und ein vollwertiger Tipp Obsthof Riess – Ersatz für eine Bank, die es hier nicht Apfelplantage und gibt. Hofladen Da! Am Eingang der Kirche tut sich Geiteldestraße 75 was! Die Tür ist geöffnet, eine Dame macht sich im Eingangsbereich an irgendetwas zu schaffen. Das wäre ja geradezu ein Highlight des Tages, wenn ich endlich einmal einen Blick in eine dieser Dorfkirchen werfen könnte. Denn bisher waren alle verschlossen. Schnell hieve ich mir meinen Rucksack wieder auf den Rücken und stapfe auf den Eingang der recht unscheinbaren Kirche zu. Die Tür befindet sich in einem kleinen Vorbau der Kirche, in dem die Dame damit beschäftigt ist, Blumen zu sortieren. Dabei wendet sie mir den Rücken zu. »Guten Tag! Das ist ja toll, dass Sie geöffnet haben!«, rufe ich der Dame erfreut zu. Sie beschäftigt sich weiter mit den Blumen und erklärt: »Sie haben Glück. Weil heute Freitag ist.« Verstehe. Oder auch nicht. Hauptsache, ich darf rein. Vor mir liegt ein Traum in Weiß. Dass diese von außen so schlichte Kirche im Innern derart schön ist, hätte ich nie gedacht. Wände, Holzbänke, Säulen, Altar: alles weiß. Das Weiß gibt dem Raum nicht nur etwas Edles, Feines, sondern die Kirche wirkt dadurch auch deutlich größer und weiter, als man von außen vermuten würde. »Deshalb finden hier auch sehr viele Hochzeiten statt«, erklärt mir die Dame. »Auch, weil der Weg von der Straße nach hier oben so schön ist.« Tatsächlich: Ein gepflasterter Weg, rechts und links gesäumt von noch jungen Bäumen, führt mit BLIK-Tafel An der Kirche


einer leichten Steigung herauf zu der Kirche. Wie viele Hochzeitspaare sich hier wohl schon haben fotografieren lassen? Aber auch ein Sarg ließe sich auf diesem Weg ganz kommod in die Kirche schieben. Der berühmte Braunschweiger Baumeister Peter Joseph Krahe hat diese Kirche im klassizistischen Stil entworfen. Da stellt sich die Frage: Was würde er wohl dazu sagen, dass heute an einer seiner edlen, mit feinen Längsrillen versehenen Säulen ein Plastikthermometer hängt? Ich hingegen habe bodenständigere Sorgen und finde, 25 Grad in einer Kirche deuten auf eine viel zu hohe

Die Geitelder Dorfkirche hat geöffnet – dann muss heute Hochzeit, Beerdigung oder Freitag sein.

Außentemperatur hin, wenn man mit knapp zehn Kilo auf dem Buckel noch fast die gesamte Tagesetappe vor der Brust hat. Ich suche noch einmal meinen schattigen Mauervorsprung auf und lade den Rucksack erneut ab. Dieser Durst! Mein Handy brummt: Horst. »Das Geitelder Holz ist harmlos«, knüpft er an meine letzte Mitteilung an. »Mit dem Timmerlaher Busch wäre ich vorsichtiger!« Ich schwärme ihm vom Innenraum der Kirche vor. »Dann ist heute Beerdigung oder Hochzeit«,


vermutet Horst, »sonst wäre die ja zu.« Ich antworte: »Nein, weder noch: Es ist Freitag!« Es ist kurz vor 12 Uhr, und Stiddien ruft nach mir. Der Plan sieht vor, nicht auf direktem Weg die Stiddienstraße entlangzuwandern, sondern erst Richtung Bahnlinie, dort ein Feld zu umrunden und erst dann wieder zurück auf die Stiddienstraße. So ist die Braunschweig-Umrundung ja auch gedacht: nicht auf dem kürzesten Weg von A nach B, sondern mäandernd durch die schönsten, interessantesten und wenn möglich grünsten Gegenden. Nachricht von Horst: »Geh auf jeden Fall in den Hofladen vom Obsthof Riess! Sehenswert!« Da stehe ich aber schon vor diesem weiten Feld, das ich umrunden müsste. Die Abzweigung Richtung Riess liegt schon fünf Minuten hinter mir. Die Sonne brennt auf die Ähren und auf meinen Kopf. Muss ich da wirklich rum? Will ich da wirklich rum? In meinem Ohrstöpselradio geben sie gerade durch: 33 Grad. Ich beschließe, heute mal zu hapekerkelingen: Der hat auf seiner Pilgertour schließlich ebenfalls hin und wieder geschummelt. Außerdem stelle ich mir Hofladen und Plantage interessanter vor als Feld und Bahnlinie. Unzählige Kirschbäumchen, hinter- und nebeneinander aufgereiht, bilden die ersten Anzeichen dafür, dass ich auf dem richtigen Weg zum Laden bin. Leider sind die Früchte meines Lieblingsobstes hier noch nicht reif. Andernfalls hätte ich bestimmt nicht widerstehen können und heimlich genascht. Der Hofladen wirkt hell, geräumig und übersichtlich. Hinter dem Tresen eine Frau und ein Mann, die mich sehr herzlich begrüßen. »Ich möchte mich nur umsehen«, erkläre ich. »Ein Bekannter, der hier in Geitelde wohnt, hat mich auf Ihren Laden aufmerksam gemacht und mir vorgeschlagen, mal bei Ihnen vorbeizuschauen.« Beide springen sofort auf meine Ausrüstung an und wollen Näheres wissen. Ich erzähle, und sie finden sichtlich Gefallen an meinem Vorhaben. Ich finde, dass ich zumindest irgendetwas Kleines kaufen sollte, das noch in meinen Rucksack passt, nicht viel wiegt und quetschsicher verpackt ist. Die Wahl fällt auf ein


Die versoffene Glocke Vor dem Ersten Weltkrieg hatten Mini-Fläschchen HimGeitelder Bauern eine frisch gegossene beerschnaps. Den werGlocke aus Braunschweig abgeholt de ich mir irgendwann und waren damit auf dem Weg nach genehmigen, nachdem Geitelde. Es war ein heißer Sommertag, ich auf meiner Tour und durch die Hitze und den Staub auf einmal eine außerorder Frankfurter Chaussee waren sie dentliche Herausforderecht durstig geworden. Sie machten rung gemeistert habe. mit ihrem Pferdegespann und der »Mögen Sie HimGlocke im alten Zollhaus in Rüningen beeren? Dann nehmen Rast, wo ihnen das kühle Bier und der Sie die auch noch!« Schnaps gut schmeckten. Sie tranken Die Mitarbeiterin eine Lage nach der anderen, bis der – oder Inhaberin? – Zollhauswirt mit der Rechnung kam und stellt mir ein Schäl- die gemütliche Runde unterbrach: »Sau, chen Himbeeren auf mine Herrens, jetze muß jui erstemäl den Tresen. »Für den betälen, sonst gifft et nix mehr!« Die Weg!« Ich bin total Zechbrüder kramten ihr ganzes Geld zusammen, aber es wollte und wollte perplex. Ich liebe Himnicht reichen. »Wir bringen dat, wat beeren! Als Kinder noch fehlt, in den nächsten Dägen hatten mein Bruder vörbi!« Aber der Wirt ließ sich auf nichts und ich Himbeersträuein und sagte kurz und bündig: »Dann cher in unserem Garblifft de Glocke hier!« ten, darin waren wir im Mit hängenden Köpfen und Sommer stundenlang schlechtem Gewissen fuhr die verschwunden und Glockentransportkommission weiter haben die Himbeeren nach Geitelde. Die Glocke blieb in direkt vom Strauch in Rüningen und wurde im Rüninger unsere kleinen Mägen Kirchturm aufgehängt. wandern lassen. Vorher sollten wir, Ansage unserer Mutter, in jede Beere hineingucken, um auszuschließen, dass vielleicht ein Wurm drinnen wohnte. Ich will mich schon verabschieden, da schlägt der Mann vor: »Möchten Sie sich nicht vielleicht noch in unserem Kühlhaus abkühlen?« Ich bin verunsichert, weiß nicht genau, was er meint. »Ich meine es ernst, darin ist es angenehm kühl, kommen Sie mal


Gefährlicher Weg nach Stiddien: Ein Gewitter zieht auf.

mit.« Cool! Ich folge ihm, er öffnet eine Eisentür, wir verschwinden in einem riesigen Raum. Eiskalt! »Mörder lässt Opfer in Kühlhaus erfrieren«, schießt es mir durch den Kopf. Zuletzt gesehen in der Verfilmung von »Der Hundertjährige, der aus dem Fenster sprang und verschwand«. »Viel besser, oder?«, reißt mich der nette Mann aus meinen Horrorvisionen. »Ja«, erwidere ich. »Solange Sie die Tür offen la…« Rrrrrummmms! Mit Schwung knallt er die Eisentür von innen zu. Für einen kurzen Moment wird mir ein wenig mulmig und sogar heiß, trotz der Minustemperaturen. Aber wirklich nur für einen kurzen Moment. Mein Gastgeber ist harmlos und einfach nur unheimlich nett. Nach der angenehmen Abkühlung erlaubt er mir auf meine Bitte hin sogar noch, die Toilette zu benutzen und bietet mir an, auf dem Weg nach Stiddien auf eigene Faust eine Besichtigungstour durch die Obst-Plantagen zu unternehmen. Es handelt sich nicht nur um eine Toilette, sondern um eine sanitäre Anlage mit mehreren WCs und Duschen. Sie werden von den polnischen Pflückerinnen benutzt, die zurzeit in den


Containern auf der Plantage wohnen. Einigen begegne ich in den Sanitäranlagen, andere sitzen auf Stühlen vor ihren Containern. Hinter den Containern haben sie Wäschestücke an einem Zaun zum Trocknen aufgehängt. Anstelle der vorgeschlagenen Besichtigungstour streife ich nur kurz zwischen allerhand in Reih und Glied gepflanzten Obstbäumen umher, dann zieht es mich zurück auf die Straße. Ich will weiter! Nach Stiddien führt kein Rad- oder Fußweg. Ich muss auf der Straße laufen. Aber kein Problem: An einem Freitagmittag bei Temperaturen über 30 Grad ist hier kaum jemand unterwegs, der mich übermangeln könnte. Ich gehe auf der linken Straßenseite, sodass ich möglicherweise entgegenkommende Fahrzeuge sofort im Blick habe. Im Blick habe ich auch den blau-grau wolkenverhangenen Himmel, in dem sich etwas Ungutes zusammenzubrauen scheint. Und zwar offenbar genau über Lamme – meinem heutigen Etappenziel. Etwas beunruhigt schreibe ich noch eine Nachricht an Horst. »Mache mir Sorgen, dass mich ein Gewitter auf freier Wildbahn erwischt!« Der antwortet: »Laut Wetter online bleibt das Wetter friedlich.« Das will ich jetzt erst mal glauben. Vor einem oder zwei Autos muss ich nun doch noch in die Böschung ausweichen, dann erreiche ich das Ortseingangsschild von Stiddien. Die Kirche ist sehr niedlich, ich fotoStiddien grafiere sie von allen Seiten. Beobachtet werde ich dabei aus den AugenwinBLIK-Tafel keln eines Mannes, der neben der KirAn der Kirche che auf einer Leiter steht und Kirschen pflückt. Plötzlich fällt mir beim Fotografieren etwas auf. »Das ist ja ein Ding! Da oben im Kirchturm ist ja ein modernes Fenster eingebaut«, rufe ich zum Kirschen-Pflücker halb feststellend, halb fragend die Leiter hinauf. Das Fenster hebt sich von den üblichen mittelalterlichen Luken in dem dicken


Diese Aussicht ist genauso toll wie Nudeln.

Gemäuer ziemlich unpassend ab. Der Kirschenmann antwortet: »Tatsächlich! Das sehe ja sogar ich zum ersten Mal!« Dann kümmert er sich wieder um seine Kirschen und ich mich um meinen Weg. Stiddien habe ich schnell durchquert. Es ist das kleinste Dorf Braunschweigs und hat keinerlei Infrastruktur. Gerade deshalb hatte ich mir davon etwas mehr Romantik, Dörflichkeit vorgestellt. Aber die SUVs, die vor den alten Häusern stehen, rauben mir jede Illusion. Die Verlockung ist groß: Ich könnte jetzt auf direktem Weg nach Timmerlah. Aber ich bin ja auf dem Kleine-Dörfer-Weg unterwegs, und der führt nun mal auch über Broitzem. Ich bleibe also standhaft und nehme den Riesenschlenker nach Broitzem in Angriff. Einmal mehr führt mich mein Weg an Feldern vorbei, die von Gräsern und Mohnblumen gesäumt sind. Ich kann mich an solchen Bildern einfach nicht sattsehen, genauso, wie ich niemals von Nudeln genug bekommen kann. Der Fernsehturm scheint


zum Greifen nahe und reckt sich in einen Himmel, der sich auf ein Spektakel vorzubereiten scheint. Im Hintergrund tauchen die Hochhäuser der nahen Weststadt auf. Endlich Broitzem. An der Hauswand Broitzem eines Elektroinstallateurs zeigt ein Thermometer weiterhin 32 Grad im BLIK-Tafel Schatten an. An der Versöhnungskirche Im Vorfeld meiner Tour hat mir jemand empfohlen, den ehemaligen Gastronomie/Verpflegung Dreiseithof »Kleine Schmiede« an Zur Rothenburg der Hauptstraße des alten Ortskerns zu Lichtenberger Straße 53 besichtigen. Da will ich natürlich hin China Restaurant Weng und finde das Ensemble auch schnell. Steinbrink 28 Ich möchte dort etwas herumspazieren REWE und Fotos machen – aber der Fahrer Lichtenberger Straße 51 des Wagens, der vor meiner Nase eingeparkt hat, kommt mir zuvor. Er springt aus seinem Auto, verriegelt dieses per Fernbedienung, flitzt durch das Tor zur »Kleinen Schmiede«, wirft die Tür zu, schließt hinter sich ab und verschwindet in einem Gebäude. Vielen Dank. Vielleicht versöhnt mich ja die Versöhnungskirche? Aber ihr Turm ist derart riesig hoch, dass ich aus keiner einzigen Perspektive in der Lage bin, die gesamte Kirche mit der Kamera zu erfassen. Ich bekomme entweder nur das Kirchenschiff oder nur den Turm aufs Bild. Ich entscheide mich für den Turm. Im Lebensmittelgeschäft um die Ecke hole ich mir ein Eis. Da das in der Kassenschlange schon anfängt zu schmelzen, drängele ich mich mit der freundlichen Erlaubnis der vor mir wartenden Kunden vor und bezahle schnell. Mit tropfendem Eis geht’s weiter durch eine Unterführung für Fußgänger und Fahrradfahrer. Erst als ich da durch bin, stutze ich. Moment mal … ist das nicht …? Na klar! Als Kinder sind wir oft mit dem Rad von der Gartenstadt nach Broitzem gefahren – und mussten dafür durch einen sehr, sehr gruseligen,


Briketts für den Tanzsaal als Eintritt

engen, dunklen Tunnel unter den BahnIn früheren Jahrhunderten schützte schienen. Ich hatte ein Verteidigungsring mit sieben mich davor immer Wehrtürmen die Stadt Braunschweig. sehr gefürchtet. Heute Die meisten dieser Türme wurden ist er hell und freundspäter zu friedlichen Gasthäusern, so lich, mit je einer Spur auch die Rothenburg bei Broitzem. Seit für Radfahrer und 1905 befindet sie sich in Familienbesitz. Fußgänger. Ich hätte Ende des 18. Jahrhunderts soll ein Mann ihn fast nicht wiedernach dem Besuch der Rothenburg in erkannt. einen Graben gestürzt und gestorben Nahe der Unterfühsein. Ob aber der Suff schuld war, blieb rung befand sich früher ungeklärt, denn der Graben war neu. auch die »PlattenbuIn der Vorkriegszeit musste jeder Gast als Eintritt ein Brikett mitbringen, de«, so haben wir als damit der Saal geheizt werden konnte. Kinder die damals in Kaffee kochen konnten die Gäste in der Konkurs befindliche Rothenburg selbst: Die Wirte verkauften Mosaikplattenfabrik das notwendige heiße Wasser und an der Marienberger vermieteten das Geschirr. Diese Straße genannt, die BoTradition wird heute in veränderter den- und Wandfliesen Form fortgesetzt: Bei Veranstaltungen produzierte. Stundendürfen die Gäste ihren Kuchen selbst lang sind wir auf dem Gelände mitbringen. verwaisten herumgestromert und haben herumliegende Bruchstücke von hübschen Fliesen gesammelt. Besonders beliebt waren die ganz kleinen Fliesen. Die waren meist noch heil und man konnte daraus tolle Mosaike basteln. Eigentlich hätte ich große Lust, mal zu gucken, was aus dem Areal geworden ist. Aber für diesen Umweg bin ich zu K. o. Ich bin in dieser Bullenhitze bereits seit 10 Uhr unterwegs, jetzt haben wir 15 Uhr, und ich muss noch nach Timmerlah und Lamme. Inzwischen ist meine Strecke gar nicht mehr gemütlich dörflich: Ich bin in der Weststadt angekommen und muss die


Straßenbahn-Endhaltestellen-Anlage überqueren. Diese Stelle ist genau so unangenehm wie das entsprechende Wortungetüm. Irgendwo soll es dort drüben, nachdem ich Straßen und Schienen bewältigt habe, aber wieder ins Grüne gehen. Die Sonne brennt erbarmungslos vom Himmel. Es hilft alles nichts, ich greife zum Äußersten! Es ist mir zwar etwas unangenehm, so mitten in der Zivilisation, in der ich mich gerade vorübergehend befinde; aber ich sehe mich gezwungen, die gute alte Tradition des mobilen Sonnenschirms wieder zum Leben zu erwecken und ziehe meinen Knirps aus dem Rucksack. Derart gut beschirmt frage ich an der Straßenbahnhaltestelle eine Frau nach dem Weg entlang dem Timmerlaher Busch nach Timmerlah. Sie verzieht keine Miene angesichts meiner Verwendung eines Regenschirms ohne Regen, zeigt mit ausgestrecktem Arm geradeaus und gibt bereitwillig Auskunft. Vielleicht hat sie einfach Verständnis. Der Weg steigt leicht an, führt zwischen Wald und Feldern entlang und erlaubt wunderbare Ausblicke über die Felder hinweg auf weit entfernte Alleen mit Kugelbäumchen und auf den noch weiter entfernten Fernsehturm in Broitzem. Der Himmel ist blau mit weißen Wölkchen – aber ich traue ihm nicht. Der heckt doch was aus! Als ich den Anstieg nach Timmerlah und einen kleinen Rundweg durch das Dorf hinter mir habe, bin ich am Ende meiner Kräfte. Ich schaffe es noch bis zur Kirche und sacke auf den schattigen Stufen zusammen. Mein lieber Herr Gesangsverein! Meine Gesichtshaut fühlt sich brennend heiß an. Ich passe schon immer auf mit meinen beiden Käppis, dass mein Gesicht nicht verbrennt. Rücke die Käppi-Schirme bei jedem Richtungswechsel in die neue erforderliche Position. Hoffentlich ist heute nicht trotzdem etwas passiert. In Ermangelung eines Spiegels mache ich ein Foto von mir und erschrecke bei dem Anblick: lila! Die Timmerlaher Kirche ist die erste Kirche auf meiner Tour, die sich bezüglich schattiger Sitzgelegenheit als ungastlich er-


Ruhe vor dem Turm.

weist. Keine Bank unter einem Schatten spendenden Baum. Nur eine in der prallen Sonne auf dem hinter der Kirche liegenden Friedhof. Also richte ich mich auf den Stufen vor der Eingangspforte ein und überlege, wie es heute noch weitergehen könnte. Da kommt eine Frau zielstrebig auf mich zu und fragt: »Ist die Kirche noch zu?« Ich schaue mich um und anschließend die Frau an. Meint sie etwa mich? »Sollte sie denn geöffnet sein?«, frage ich irritiert. Ich habe noch gar nicht versucht hineinzukommen, da ich fest davon ausging, dass sie ohnehin verschlossen ist, wie alle anderen Kirchen bisher auch – bis auf die in Geitelde. »Haben Sie denn nicht auch das Schreiben unseres Pastors bekommen?« »Nein, bedauere, ich bin nicht von hier.«


»Ach so. Der Pastor hat alle, die einen runden Geburtstag hatten, zu einer Feier eingeladen. Aber dann ist ja noch gar keiner da?« »Tut mir leid. Ich hatte zwar auch Geburtstag, aber keinen runden.« Während die Frau auf runde Geburtstagskinder wartet, widme ich mich Timmerlah meinen Plänen. Wie geht es nun weiBLIK-Tafel ter nach Lamme? Ich habe mir für An der Kirche diese Etappe nur grob eingeprägt, dass ich am Raffteichbad vorbeikommen Gastronomie/Verpflegung werde. Dort will ich unbedingt ins BeWilliams Dorfklause cken springen! Mein Blick richtet sich Ohlenhofstraße 11 abermals gen Himmel. Den ganzen Dorfstube alte Schmiede Tag schon bahnt sich ein Unwetter an. Timmerlahstraße 110 Richtig gefährlich sieht es noch nicht Netto aus, aber da baut sich etwas auf. Ich öffTimmerlahstraße 112e ne die Online-Karte. Wo geht es lang, und wie weit ist es noch? Tipp Dorfrundgang mit 21 Der Weg führt mitten durch den Tafeln zur Dorfgeschichte, Timmerlaher Busch! Ich rufe noch Start Timmerlahstraße / einmal Horsts Nachricht von heute Ecke Kirchstraße Vormittag auf: »Das Geitelder Holz ist harmlos. Mit dem Timmerlaher Busch wäre ich vorsichtiger!« So, das war’s für heute! Nicht nur meine diffuse Wald-Phobie verbietet mir, diesen Wald zu durchqueren, dieses Mal warnt mich sogar Horst. Die näheren Hintergründe muss ich gar nicht wissen und wähle die ersten Ziffern der Nummer einer Taxizentrale … Krawumm! Erschrocken lasse ich das Telefon sinken. Der Pastor reißt von innen die Kirchentür auf. Insgesamt drei Geburtstagskinder haben sich mittlerweile eingefunden. Der Pastor begrüßt sie und bittet sie in die Kirche. Die Glocken beginnen, feierlich zu läuten. Ich erkläre dem Pastor, dass ich nicht dazugehöre. »Sie möchten telefonieren?«, fragt er mich.


»Dann kommen Sie herein, drinnen sind die Glocken nicht so laut.« Ich nutze die Gelegenheit, um ein weiteres Foto vom Innern einer Braunschweiger Dorfkirche zu machen, und rufe anschließend ein Taxi. Mein Plan ist: schnell nach Lamme, dort in der Unterkunft mein Gepäck abladen und dann zu Fuß zurück zum etwa einen Kilometer entfernten Raffteichbad. Der Taxifahrer starrt mich während der gesamten Fahrt nach Lamme immer wieder an. Er versteht nicht, was ich hier treibe. »Wie, Sie wohnen in Braunschweig?« »Ja, wieso?« »Und warum übernachten Sie dann nicht zu Hause?« »Weil ich auf Reisen bin.« »In Braunschweig?« »Ja.« Schweigen. Vor dem Gasthaus Zum gemütlichen Pattkopp in Lamme, meinem heutigen Etappenziel, scheint er dennoch etwas Verständnis zeigen zu wollen: »Ich würde die Strecke gern mit Ihnen gemeinsam machen. Ich liebe die Natur. Ich bin auch sportlich. Aber ich muss ja Taxi fahren.« Wie alle Unterkünfte auf der Tour habe ich auch dieses Zimmer bereits vor Wochen gebucht. Gemeinsam mit mir trifft ein Mitarbeiter ein, vermutlich der Koch, und schließt den Gastraum auf. Da habe ich offenbar Glück gehabt. Es ist 16 Uhr, eigentlich bin ich davon ausgegangen, dass man um diese Zeit problemlos einchecken könnte. Der Koch verschwindet, um nach eigener Aussage den »Chef« zu informieren, dass ich angekommen bin. Hinter der Theke macht sich ein junger Mann zu schaffen. Chef kommt nicht. »Wann kommt denn der Chef ?«, rufe ich dem jungen Mann hinter der Theke zu. Der reagiert nicht, nimmt stattdessen einen großen Eimer, stellt ihn unter einen Wasserhahn, lässt Wasser hineinfließen und beobachtet den Strahl. »Entschuldigung?« Er sieht scheu zu mir herüber, dann wieder auf den Strahl. »Ich warte hier schon eine ganze Weile, ich


Lamme

würde gern mein Zimmer beziehen.« BLIK-Tafel Der junge Mann murmelt etwas, in An der St.-Marien-Kirche dem das Wort »Deutsch« vorkommt. »Kein Deutsch?«, frage ich. Er: »Kein Gastronomie/Verpflegung Deutsch!« Aha. Hm. Zum gemütlichen Pattkopp Ich setze meinen Rucksack ab und Bruchstieg 7 krame die Unterlagen mit der Telesander's backstube fonnummer des Pattkopps hervor. Ich Lammer Heide 3 wähle die Nummer … und neben dem Netto Wassereimer schrillt das Telefon. »Sie Lammer Heide 3 brauchen nicht ranzugehen«, signalisiere ich deprimiert dem jungen Mann mit Übernachtung Pension Lamme Händen und Füßen und zeige auf mein Lammer Heide 196 Handy. »Das war ich.« Zum gemütlichen Pattkopp Dann kommt der Chef. Ein KugelNeudammstraße 28 b blitz. »Ich bin der Buddy! Ich musste erst mal duschen. Sie haben den falschen Tipp Eingang genommen. Den vom RestauKegelbahn rant. Das hat aber noch gar nicht geöffZum gemütlichen Pattkopp net. Sie hätten den Hoteleingang nehBruchstieg 7 men müssen – kommen Sie mal mit.« Freibad Raffteich Durch das Restaurant, über einen Madamenweg 93 Hof, hinten durch den Hoteleingang wieder rein, eine Treppe rauf, erstes Zimmer. »Ich gebe Ihnen mein bestes Zimmer«, behauptet Buddy und schließt auf. Mir ist allerdings mittlerweile jedes Zimmer recht. Dusche, Fernseher, Bett, Ruhe, mehr brauche ich nicht. Die Ausstattung ist schlicht und zweckmäßig. Passt. Aus meinem Besuch des Raffteichbads wird leider doch nichts. Der Regen, der sich den ganzen Tag über angekündigt hat, ist nun da und entwickelt sich sogar zu einem Riesengewitter. Also bleibt mir als einziger Höhepunkt des Abends eine Mahlzeit im gemütlichen Pattkopp. Zunächst bin ich der einzige Gast, da ich bereits eine Minute nach Öffnung des Restaurants auf der Matte stehe. Ich habe


den ganzen Tag noch nichts Richtiges gegessen. Nur das Ei und die Brezel aus dem Starenkasten, etwas Obst von der Tankstelle in Rüningen und die Schale Himbeeren vom Obsthof Riess. Ich suche mir einen Fensterplatz und studiere die Karte. Es wird griechische Küche geboten. Donnerwetter, was für eine Auswahl! Stark überfordert bestelle ich den Klassiker: Gyros. So eine Kalorienbombe verkraften meine Hüften nach dem heutigen Tag bestimmt locker, beruhige ich mein schlechtes Gewissen. Während draußen die Welt in Sturzbächen untergeht, wird es im Lokal immer lebendiger. Diverse Gruppen treffen nach und nach ein, schütteln und klopfen sich den Regen aus den Klamotten. Tische werden zu Tafeln zusammengeschoben, und es dauert nicht lange, da ist auch der letzte Platz im Restaurant besetzt. Der Laden brummt! Und Kugelblitz Buddy rennt hin und her, ist mit den meisten per Du und offenbar die Seele des Lokals – vielleicht sogar die Seele von ganz Lamme? Das Gyros tut gut, macht mich aber auch müde. Mir fallen meine diversen Geräte ein, die ans Stromnetz angeschlossen werden wollen. Ein paar Klamotten muss ich auch noch waschen. Höchste Zeit also, mich in meine Gemächer zurückzuziehen. Während ich die verschiedenen Ladegeräte in Gang setze, poltert unter mir irgendetwas. Oder irgendjemand. Als ich aus dem Badezimmer zurückkomme, wo ich meine Wäsche gewaschen habe, ist das Poltern immer noch da. Rückt da jemand seine Möbel um? So hört es sich jedenfalls an. Ich schalte den Fernseher an und schreibe einige Nachrichten auf dem Handy. Das Poltern geht weiter. Geht das jetzt den ganzen Abend so? Was ist das? Die Toleranz gegenüber fiesen Geräuschen steigt ja angeblich, sobald man ihre Quelle kennt und sie einordnen kann. Dieses Poltern allerdings … Leise öffne ich die Zimmertür und trete auf den Flur hinaus, tipple ihn auf Zehenspitzen entlang. Ob die anderen Zimmer überhaupt bezogen sind? Kommt mir nicht so vor. Hier ist es mucksmäuschenstill. Das Poltern kommt von unten. Also schleiche ich über die Treppe nach unten ins Erdgeschoss, wo sich die verwaiste Rezeption befindet. Diese besteht vor allen


Zum gemütlichen Pattkopp Dingen aus einem anDer Wirt hatte eine Glatze, als er 1901 tiken Schreibtisch und das Lokal übernahm, und wurde daher einem darauf befind»Pattkopp« genannt. Selbst sein Enkel lichen Hinweisschild wurde in den 70er-Jahren noch so mit der Handy-Numgerufen und übertrug den Namen auf mer von Buddy für den die Kneipe, die vorher andere Namen Fall, dass die Rezeption trug. Bis dahin hatte sie eine bewegte nicht besetzt sein soll- Geschichte durchlebt: Vor dem Zweiten te. Ist schon urig hier, Weltkrieg beherbergte sie zusätzlich so ungefähr habe ich eine Poststelle, danach eine Handlung mir diese Dorfuntermit Kohlen und Saatgut. Legendär künfte ja auch vorgewar Schuh-Franz, der regelmäßig im stellt, so wollte ich es gemütlichen Pattkopp Station machte, haben. Nur ohne dieses um im Dorf seine aus alten Autoreifen Poltern. selbst hergestellten Schuhe und In der Rezeption Handtaschen zu verkaufen. Mit einer vernehme ich von ir- Kiepe auf dem Rücken tingelte er damit von Haus zu Haus. Als er durch einen gendwoher nur das Zimmerbrand einmal einen Teil seiner gemütliche Rumpeln Kollektion verlor, verkaufte er auch einer Waschmaschine. einzelne Schuhe. Das ist aber nicht das Abenteuerlich verliefen die gesuchte Geräusch. Schießübungen des 1953 Ansonsten ist es hier wiedergegründeten Schützenvereins vollkommen still. Rat»Wilhelm Tell«: Zunächst wie in los kehre ich in mein einem Western-Saloon quer durch die Zimmer zurück. Gaststube, später vom Clubraum aus in Hier gibt es leider den Hof und schließlich im ehemaligen keinerlei Entwarnung: Stall. Erst Mitte der 60er-Jahre wurde Rumpeln, Poltern, diein Schießstand im Dachgeschoss rekt unter mir. Aber eingerichtet. unter mir ist doch nur die Rezeption? Also wieder raus und wieder runter. Vielleicht doch die Waschmaschine? Verstärkt sich das Geräusch irgendwie durch die Übertragung über die Wände? Nahe der Rezeption führt eine Treppe ins Kellergeschoss, hier laufen zwei Waschmaschinen. Aber


sie brummen nur harmlos, nein, sie können unmöglich die Verursacher sein. Nahe der Rezeption befindet sich die Küche. Ob vielleicht von dort …? Aber so laut kann man doch nicht mit Töpfen klappern? Als ich mit gespitzten Ohren bei der Küche herumtigere, kommt plötzlich der Koch heraus und ruft mir ein fröhliches »Buona sera!« entgegen. Jetzt wird mir die Sache langsam peinlich. Der arme Kerl schuftet vermutlich noch bis spät in die Nacht, und ich verdächtige ihn, zu laut mit den Töpfen zu klappern. »Buona sera«, grüße ich freundlich zurück und beschließe, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Im Zimmer stellt sich allerdings heraus: Wollen und Können sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe. Zwar stopfe ich mir Ohrstöpsel tief in die Ohren, und die filtern auch tatsächlich fast alle Geräusche weg, wie zum Beispiel das lustige Vogelgezwitscher vor meinem Fenster. Aber das Poltern frisst sich gnadenlos durch die Proppen und breitet sich in meinem Körper aus. Der Versuch, es zu ignorieren, scheitert kläglich. Könnte ich es mit dem Fernseher übertönen? Nein. Mir platzt der Kragen. Unter mir werden seit mindestens einer Stunde Möbel gerückt, und ich will, dass das aufhört. Entschlossen marschiere ich abermals nach unten, gehe nach draußen und untersuche das etwas unübersichtliche Gebäudeensemble von außen. Da! Hinter einer roten Klinkerwand kann ich das Poltern jetzt ganz deutlich hören. Sonderbarerweise gibt es hier aber nirgends ein Fenster oder eine Tür, an die ich klopfen könnte. Aber eindeutig liegt hinter dieser Wand die Ursache des Übels. »Kann ich Ihnen helfen?« Ich drehe mich um. Vor mir steht eine unternehmungslustig wirkende Frau, die offenbar aus der Kneipe gekommen ist, um zu rauchen. »Wahrscheinlich nicht«, entgegne ich und schildere ihr mit wenigen Worten mein Problem. »Kein Thema«, winkt sie ab. »Ich kenne mich hier super aus, außerdem bin ich Sozialarbeiterin, bei mir sind Sie an der richtigen Adresse!« Sie hat leicht einen im Kahn und winkt mir, ihr zu folgen. In einem Affentempo rennt sie vor mir her, um das geklinkerte Gebäude herum. »Das haben wir gleich!«


Durch den vom Regen aufgeweichten Boden eile ich ihr nach, bis sie hinter dem Haus abrupt im Matsch stehenbleibt: eine hübsche Haustür, Rosen, ein gepflegtes Gartenstück. Ich finde: »An genau diese Tür könnte man doch mal klopf-…« – »Nein«, schüttelt meine Sozialarbeiterin entschieden den Kopf. »Nein, nein, nein, die betreue ich schon so lange, die kenne ich, das sind alte Leute, die machen sowas nicht.« Sie kratzt sich am Kopf, überlegt. Dann: »Jetzt kann nur noch einer helfen: Buddy!« – »Oh nein!«, rutscht es mir vielleicht etwas zu laut raus. Das will ich nun wirklich nicht. Nicht Buddy. Der Abend hat in der Kneipe deutlich Fahrt aufgenommen, und Buddy könnte zu Höchstform aufgelaufen sein. Dann feiere ich lieber selber mit, als dass ich ihn da rausreiße und mit meinem Polterproblem konfrontiere. Das wäre mir höchst unangenehm. Die Sozialarbeiterin und ich umkurven eine weitere Ecke dieses Klinkerbaus, aus dem nach wie vor das Poltern dringt. Plötzlich bleibt sie stehen und schaut mir tief in die Augen. »Ich hab’s!«, triumphiert sie. »Ich weiß, woher das kommt!« Sie zieht mich am Ärmel in Richtung eines Mauervorsprungs unterhalb eines kleinen Fensters, das von hier unten nicht einsehbar ist. »Steigen Sie mal da drauf !« Sie zeigt auf den Mauervorsprung. »Gucken Sie mal durch das Fenster!« Ich steige drauf, sehe durchs Fenster – und traue meinen Augen nicht: eine Kegelbahn! »Die Kegelbahn!«, ruft die Sozialarbeiterin, die sich neben mir auf das Mäuerchen gequetscht hat. Beide glotzen wir durch das Fenster, mit den Händen rechts und links unsere Augen abschirmend, um besser hineinschauen zu können. In der Kegelbahn herrscht mächtig Betrieb. Wumm! Wumm! Wumm! Eine schwere Kugel nach der anderen wird mit Schwung auf die Holzbahn gedonnert. Genau darüber liegt mein Zimmer.