18,00 EUR (D)
ISBN 978-3-945715-54-3
Franz Schiffer
Der Kaplan, der um Jimi Hendrix trauerte Vergessene Pop-Momente
Leseprobe
Franz Schiffer Der Kaplan, der um Jimi Hendrix trauerte Vergessene Pop-Momente Umschlaggestaltung von Marcel Pollex Hergestellt mit Materialien aus verantwortungsvollen Quellen (FSC® C107574) 1. Auflage 2022 ©Verlag Andreas Reiffer ISBN 978-3-945715-54-3 Verlag Andreas Reiffer, Hauptstr. 16 b, D-38527 Meine www.verlag-reiffer.de
One for the money Two for the show Three to get ready And four to go! Alter Kinderreim, nicht nur von Elvis Presley verwertet
Die vorbildlichste Diskothek
Man würde diesen Prototyp an Themse oder Hudson vermuten, ohne Weiteres auch in L. A. oder Rio. Wo das Musikgeschäft heiß läuft und Tanzmoden entstehen. Deutsche Domstädte mit Kurpark halten sich da eigentlich heraus. Aachen jedoch gilt als Geburtsort der ersten langlebigen Diskothek. Die Formel im örtlichen Scotch Club zog jedenfalls Kreise: Aktuelle Vinylplatten + redebegabter Jockey = volle Tanzfläche. Am 19. Oktober 1959 kommt es zur Urzündung. Über dem Scotch Club, bis dahin ein Speiselokal, schwebt der Pleitegeier. Nicht zuletzt die abendliche Live-Band geht ins Geld, und Inhaber Franzkarl Schwendinger, ein Österreicher, fasst den gewagten Plan: Ein Discjockey soll den Küchenchef ersetzen und statt Mahlzeiten Tanzmusik von der Schallplatte servieren. Doch was Radiosender bereits gut hinbekommen, wird in dem Kellerraum beinahe ein Debakel. Schwendinger engagiert für jenen Oktober-Abend einen Opernsänger, der kommentarlos klassische Musik abspielt. Peinliche Langeweile macht sich breit, einige Gäste ziehen frühzeitig weiter. Scotch Club am Ende – wäre da nicht ein Zeitungsvolontär, der laut hörbar lästert. Der Veranstalter greift zum letzten Strohhalm und ermuntert den Zwischenrufer: »Machen Sie’s selber!« Jungjournalist Klaus Quirini geht stracks zum Mischpult, legt mit witzigen Sprüchen einen Schlager auf, und alles johlt, klatscht, tanzt. Die Eröffnung ist gerettet.
Es ist der Stapellauf einer Unterhaltungsform, die neben deutschen Einspielungen viel Brandneues auf Englisch und Französisch verbreitet. In dem Aachener Untergeschoss drehen sich die schwarzen Scheiben über drei Jahrzehnte oft bis früh um vier. Quirini nennt sich bald DJ Heinrich – hoch aufgeschossen, schwarze Hornbrille. Für stattliche 800 Mark Monatsgage tauscht er Schreibmaschine gegen Plattenteller. Heinrich moderiert fantasievoll und sekundenschnell. Heinrich macht spielerisch vor, wie Rock’n’Roll und Twist gehen. Heinrich begrüßt Stars und Sternchen, die an der Basis testen, ob ihre Musik ankommt. The Rattles, The Lords, Giorgio Moroder, Peter Maffay, Udo Jürgens singen hier auf Tuchfühlung mit dem Publikum. Irgendwann heißt die Tanzbar im Volksmund Diskothek. Draußen warten regelmäßig Menschenschlangen, junge und nicht mehr ganz so junge Leute, die zum gepflegten Stadtkern passen. Denn der beliebte Treff ist zwar im Wortsinn underground, aber nicht antibürgerlich. Kein Schmuddelschuppen, keine Drogenhöhle – wenn man vom Konsum des Schotten-Trunks einmal absieht. Ein älterer Herr macht den Portier: Männer ohne Jackett und Krawatte lässt er nicht vorbei. Strikt abgewiesen werden beispielsweise Radio-Luxemburg-Jockey Frank Elstner und der spätere Deutschrocker Udo Lindenberg. Ebenso unerwünscht sind anfangs noch Damen in Hosenbekleidung. Die Neuheit wird zuerst in Aachen kopiert, das mit über 40 Diskotheken zur Top-Adresse einer ganzen Szene wird. Gastronomen pilgern grenzüberschreitend herbei und wollen vor allem Heinrichs Plattenshow sehen. Sie spüren: Hier rollt eine Welle. Nach acht Jahren verabschiedet sich Vorrei-
ter Quirini, um anderen Diskotheken auf die Sprünge zu helfen, die Branche zu organisieren und sie gesellschaftsfähig zu machen. Ein Gerichtsurteil bestätigt 1973, dass Platten-Plauderer in Discos ähnlich wie Conférenciers eine geistige Tätigkeit ausüben. Der Club, wo alles anfing, muss 1992 schließen. Der Vermieter gibt einer Modeboutique den Vorzug. Von außen erinnert heute nichts mehr an den aufregenden Treffpunkt von einst. Dennoch sollte man bei nächster Gelegenheit hingehen und eine Gedenkminute einlegen. Die schmale Straße im Stadtzentrum heißt Dahmengraben mit h, Hausnummer 16.
Die sportlichste Rockmusik Stehvermögen in frischer Brise und weißer Gischt! Tanz mit dem Ozean unter blauem Himmel! Rund drei Jahre waren einige E-Gitarristen Wellenreiter. Ihr Surfrock war so schnell und lebenslustig wie der Spaß auf den Brettern und Wogen vor Südkalifornien. Ein schnittiges Dahintreiben. 1961 erscheint die erste Single dieser Bewegung: »Mr. Moto« von The Bel-Airs aus Los Angeles. Man mag die fünf Teenager dort für ihre Partylaune. Harter Anschlag, insgesamt aber mehr flirrende Romantik als rauer Rock’n’Roll. Reichlich Nachhall, tremolierende Schlangenlinien – Optimismus ohne Gesang. Zwei Gänge höher schalten Dick Dale und seine Del-Tones. Ein halsbrecherischer Stakka-
to-Stil und orientalisch abgeschmeckte Melodien machen den Linkshänder national bekannt. Kommerziell die schönste Überraschung im Surfrock sind The Surfaris, eine Bande High-School-Kids, die 1963 mit »Wipe Out« auf Platz zwei der US-Charts zischen. Der Sound schwappt nun auf etliche Länder über und kommt auch hinter dem Eisernen Vorhang an: In der DDR spielt das Franke-Echo-Quintett mit gebremstem Schaum die »Melodie für Barbara« – fast mehr ein Ausritt nach Country-Art. Die Welle bricht 1964. Just im Sonnenstaat am Pazifik starten die Beatles ihre erste große USA-Tour. Amerikanischer Pop muss sich hinten anstellen, instrumentale Surfmusik geht praktisch unter, taucht aber gelegentlich wieder auf. 1994 etwa, als Hollywood-Regisseur Quentin Tarantino für seinen Erfolgsfilm »Pulp Fiction« einen Dick-Dale-Hit reanimiert. The Beach Boys?! Erzeugten zweifellos »Good Vibrations«, Songs wie »Surfin’ USA« gingen nach vorne los. Doch waschechter Surfrock fühlte sich anders an, griff vital in die Saiten. Das reichte den Strandjungen um Brian Wilson nicht – er machte sich auf zu anderen Brandungen.
Die umwerfendste Show-Einlage Rambazamba an der Rampe: Schon vor Alice Coopers umgehängter Kobra und Michael Jacksons Moonwalk war man bemüht, beim Auftritt nicht nur herumzustehen. Die einen
hielten sich dankbar am Mikrofon fest und taten möglichst bedeutsame Schritte. Andere schlenkerten das Mikro wie ein Lasso, stampften, zuckten und hüpften, bogen sich fast nach Art der Limbotänzer. Chubby Checker schob seine Hüfte leicht kreisend vorwärts, beidfüßig schien er pausenlos Zigaretten auszutreten – molliger und elastischer hat kein zweiter Sänger einen Paartanz beworben. Anfang der 1960er twistete er in Anzug und Krawatte ein Stück sexuelle Freiheit. Dass der Twist länderübergreifend wirkte, lag nicht zuletzt am zumutbaren Ausmaß der Verdrehungen. Im Unterschied zum Rock’n’Roll konnte man sie recht einfach mitmachen, auch schon etwas reifere Jugendliche überwanden ihre Scheu. »Heee, around and around, and up and down we go again!« Mal zappelnd, dann wieder energisch ruckend war Stevie Wrights Vorfreude, wenn der Leadsänger der Easybeats »Friday on My Mind« darbot. Wochenend-Sehnsucht in Aktion. Freddie Mercury und seine Mannen inszenierten nachfühlbar, was »Body Language« meinte. Die Sprache, die wir alle jederzeit sprechen – bewusst oder unfreiwillig, ob wir Musik zum Besten geben oder nicht. Musik und viel Bodenhaftung verknüpften The Rivets aus Hamburg. Bis auf den Drummer warf das Quartett sich regelmäßig flach auf den Rücken und spielte, während die Beine in der Luft radelten. Damit die hellblauen Bühnenhemden sauber blieben, hatten die Jungs für ihre Show-Einlage extra einen Teppich ausgerollt. Hörenswert waren die Rivets auch. Immerhin durften sie Hendrix, Stones, Who im Vorprogramm begleiten. Und wenn mich nicht alles täuscht, waren sie im deutschen Beatwesen die einzige namhafte Band, die dreistimmig sang.
Der schlagfertigste Tenor Große Klappe und was dahinter. Auf die Tour hat Muhammad Ali sich nach oben geboxt und auch noch dreist-verspielt Rap und Hip Hop vorweggenommen: Um den Gegner durch Eigenlob und Hohntiraden zu entnerven, quasselte und assoziierte, schimpfte und reimte das gewitzte Großmaul unentwegt vor sich hin. Eine Kostprobe aus seinem reichen Sprüchevorrat – zum Fingerschnippen und Mitbrüllen: »I’m king of the world! I’m pretty! I’m a bad man! I shook up the world! I shook up the world! I shook up the world!« 1963 präsentierte der 21-jährige Draufgänger Cassius Clay, wie er damals noch hieß, eine LP mit derlei Kraftprotzereien. Bescheidener Titel des Albums: »I am the Greatest«. Monate später wird es für einen Comedy-Grammy nominiert – 500.000 verkaufte Exemplare kommen zusammen. Auch von seiner Singstimme ist der frühreife »GOAT (Greatest of All Time)« hinreichend angetan. Unmittelbar nach seinem sensationellen K.-o.-Sieg über Weltmeister Sonny Liston legt Columbia Records 1964 eine erstaunlich ehrgeizige Single des neuen Champions vor. Die A-Seite ist seine Version von Ben E. Kings Erfolg »Stand By Me« – eindringlicher Rhythm & Blues. Zu hören ist ein durchaus ernsthaft und sicher intonierender Tenor, der sich bis auf zwei Plätze an die amerikanischen Top 100 heransingt. Es bleibt die gelungenste Gesangseinlage des Schwergewichtlers, mehr bewirkte auch sein sachkundiger Berater im Studio nicht – ein Mann mit Honigstimme, der begnadete Soul-Interpret Sam Cooke. Neben ihm war der smarte Puncher ein braver Lehrbub.
Bei uns daheim bekamen wir diese Fußnoten zu Alis Aufstieg nicht mit. Nur wenn er die Handschuhe überzog und eine dicke Lippe riskierte, wirkte das bis ins Wohnzimmer und veränderte Tagesläufe – den meines Vaters zumindest. Er war Taxifahrer, Bierkutscher, Soldat, Kriegsgefangener, angeknackster Überlebenskünstler, spielte ab und zu Volksliedchen auf der Mundharmonika. Ein Buch las er nie, Kinofilme langweilten ihn, weil er da zu viel Illusion witterte. Und ja, dieser Mensch aus dem flachen Rheinland stand im Morgengrauen auf und fixierte gebannt den Fernsehschirm, um den Schwarzen in den weißen Shorts zu erleben. Sein abwartendes Gleiten, ein Schweben fast, dann blitzschnelle Schrittwechsel, bevor seine Fäuste flogen. Das Schlag- und Kunstfertige in so einem Kampf muss den Frühaufsteher überzeugt haben. Als eines Abends im selben Fernsehen die Beatles aufkreuzen, guckt er stumm von einer Klappleiter hinüber, wendet sich bald ab und tapeziert kopfschüttelnd weiter. Da fragt man sich, wer eigentlich mehr Popkultur unter die Leute brachte: Der Größte im Ring oder die Größten im Musikzirkus.
Der Akkord des Jahrhunderts »One – two – three – four!«, tönt es im EMI-Studio 2 an der Londoner Abbey Road. John Lennon zählt forsch ein – wieder mal. Die Beatles holen öfter Schwung an diesem 16. April 1964. Drei Stunden werden sie brauchen, bis ein Song aufge-
nommen ist, den Lennon erst am Vortag geschrieben hat: »A Hard Day’s Night«. Täglich hart gefordert ist die Band ganz real, denn sie produziert gerade ihre neueste Langspielplatte und dreht noch dazu einen turbulenten Musikfilm. John Lennons Komposition soll sowohl den Kinostreifen als auch die LP zugkräftig eröffnen. Schon der erste Takt hat es in sich. »A Hard Day’s Night« startet mit einem Akkord, der beim ersten Hinhören wie verunglückt klingt, nicht vereinbar mit den Harmonien, die Rock und Pop sonst prägen. Solo geschlagen, metallisch angehaucht, von null gleich ein Sprung ins Weite – diese Alleinstellung eines Zusammenklangs hat es bis dahin nie gegeben. Er gleicht einem befreienden Signal, einem Aufruf, der die populäre Musik des Jahrhunderts überstrahlt. Vollends Entzückte jubeln vom Akkord für die Ewigkeit! Gitarreros, die den Einstieg nachspielen wollen, seien gewarnt: Keine leichte Sache! Ein einzelner Schlag bloß, doch wo genau hat George Harrison die zwölf Saiten seiner E-Gitarre niedergedrückt? Welche ließ er offen schwingen? Das Griffbild ist ohnehin nur ein Teil der Wahrheit. Hellhörige haben nämlich genau gelauscht und sagen: Unterlegt wurden noch ein hohes D von Paul McCartneys Bass und eine Akkord-Verdoppelung vom Klavier des fünften Beatle George Martin. Dann erst war der Geniestreich perfekt. Ringo Starr setzt dem Song mit dem famosen Einklang das Krönchen drauf. Nach einem langen Drehtag und anschließendem Club-Besuch murmelt der Drummer nur noch: »A hard day’s night …« Eines harten Tages Nacht? Gewöhnlich heißt es »a hard day’s work«. Das konnte nur Ringo so schrullig verdrehen.
Foto: Hartmut Pöstges
Franz Schiffer, 1954 im rheinischen Jülich geboren, studierte Anglistik und Romanistik, wurde zunächst Lehrer für Englisch und Französisch, später auch Deutsch als Fremdsprache. Er schrieb als Redakteur und freier Autor vielfältig für Blätter wie Münchner Merkur, Süddeutsche Zeitung und taz. Ferner bediente er die Nachrichtenagentur AP (Associated Press) sowie den Radio-Kultursender Bayern 2. Zudem veröffentlichte er Sachbücher über Spieleklassiker und Zauberkunst. Zurück im Bildungswesen war Schiffer an Schulen in Bogotá, Istanbul und im Main-Kinzig-Kreis tätig. Er lebt am Rand des hessischen Vogelsbergs und südlich von München.
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