Frank Bröker: Unsere Welt ist eine Scheibe - Eishockey international

Page 1

9783945715208 umschlag Montag, 4. September 2017 11:21:09


Frank BrĂśker

Unsere Welt ist eine Scheibe Eishockey international Von Andorra bis Zimbabwe Mit einem Vorwort von RenĂŠ Fasel

Leseprobe


Frank Bröker Unsere Welt ist eine Scheibe Eishockey international. Von Andorra bis Zimbabwe. Mit einem Vorwort von René Fasel Umschlagillustration und -gestaltung: Roberta Bergmann (www.robertabergmann.de) Satz/Layout: Andreas Reiffer Lektorat: Lektorat-Lupenrein.de 1. Auflage 2017 © Verlag Andreas Reiffer Druck und Weiterverarbeitung: CPI books, Leck ISBN 978-3-945715-20-8 (Print) ISBN 978-3-945715-55-0 (Ebook) Verlag Andreas Reiffer, Hauptstr. 16 b, D-38527 Meine www.verlag-reiffer.de www.facebook.com/verlagreiffer


Inhalt

Vorwort ............................................................................................. 7 Ăœber dieses Buch ...................................................................... 10 Die Geschichte eines Weltverbandes ..................................... 12 Leidenschaftliche Strukturen ................................................... 18 Eishockey in Europa ................................................................. 23 Eishockey in Asien .................................................................... 76 Eishockey in Afrika ................................................................ 163 Eishockey in Ozeanien und Australien .............................. 187 Eishockey in Antarktika, Nord-, Mittel- und SĂźdamerika ......................................... 210 Literaturverzeichnis und Bildnachweis .............................. 228 Autorenvita und Danksagung .............................................. 230


Über dieses Buch

Viel geschrieben wurde bereits über die großen Eishockeytitanen, allen voran über unsere einstigen Lehrmeister aus Nordamerika. Wer anführt, dort sei der Sport zum Unterhaltungsgeschäft verkommen, war nie in Kanada, wo Eishockey in der Verfassung als Nationalsport verankert ist. Was neben all dem Tempo und der Körperlichkeit wirklich fasziniert, ist die geschichtliche Prägung des Eishockeys als kultureller Teil eines Landes. Der in Québec aufgewachsene Luis de Almeida Johansson formuliert es so: »Kanada ist ein Land, in dem es völlig unmöglich ist, kein Hockey zu spielen. Darin liegt etwas Religiöses.« Und Kanada ist die Eishockeymutter. Sie gebar im Laufe der Zeit viele Kinder, und wie gute Mütter so sind, kümmern sie sich um jedes einzelne. Ganz egal, ob die Kids in Asien oder Afrika mit Kufen an den Schuhen aufwachsen: Die Hockey-Mom besorgt ihnen Trainer, Ausrüstungen, fährt sie zu den Spielen, um ihnen auf gefrorenen Seen oder in Shopping Malls bei der Puckjagd zuzusehen. Manche Kinder wurden früh zu Klassenbesten. Russland, Schweden oder die Tschechen seien hier genannt. Andere, wie Deutschland, sorgen nur dann für gute Schulnoten, wenn an kongenialen Spieltagen alles Glück am Schläger zusammenkommt. Zurück zu Luis de Almeida Johansson. Der hütet ab und zu das Tor der portugiesischen Eishockeynationalmannschaft. Ich war überrascht, dass in einem fußballverrückten Land überhaupt jemand diese frappierende Möglichkeit in Betracht zieht. Auch Wüstenländern wie Turkmenistan oder Kuwait hätte ich vor meinen Recherchen für dieses Buch jegliches Kufenkönnen abgesprochen. Die Blogs und Bilder von


Groundhoppern wie Adrian Mizzi und Dave Bidini bewiesen aber das eisglatte Gegenteil. Da saß ich vor einer Weltkarte und ließ den Puck zwischen Mexiko und Japan, Grönland und Australien hin und her rollen. Im Frühjahr 2016 begrub er Guangdong, Hongkong und Macau unter sich. Ich schrieb Emails an die dort ansässigen Eishockeyverbände: »Hallo, ich bin ein deutscher Autor und habe ein paar Fragen über die Hockeysituation in eurer Gegend.« Ungläubig fielen die Reaktionen aus. Ein gewisser Tony Tang antwortete, ich solle meinen Rucksack schnüren und mir selbst ein Bild machen. Wir vertagten es auf später. Kurz darauf fiel der Puck über der Mongolei um. Jetzt hatte ich Purevdavaa »Pujee« Choijiljav am Wickel, der Fotos schickte und mich zur Landesmeisterschaft und einer Eselsmilch einlud. Im Iran fand ich Christian Müller, in Weißrussland einen Journalisten, der aus Angst, seine Arbeit zu verlieren, anonym bleiben möchte. Den Kontakt zum Luxemburger Autor Francis Kirps stellte mein Verleger Andreas Reiffer her. Der Puck fiel auf dem nächsten Land um, und so ging es munter weiter bis in den Spätsommer 2017. Dieses Buch erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Aus Platzgründen war es mir leider nicht möglich, ausnahmslos alle Länder, in denen Hockey gespielt wird, so ausführlich zu behandeln, wie ich es gerne getan hätte. Gemeinsam mit Verleger und Lektor musste deshalb eine Auswahl getroffen werden. Insgesamt war es ein spannender Austausch mit Hockeyanern aus der ganzen Welt, der so manches hausgemachte deutsche Eishockeyproblem als lächerliche Banalität entlarvte. Zum Glück ist unsere Welt eine Scheibe, denn das erlaubt uns einen Blick weit über den Tellerrand hinaus. Wir kauften sie eines Tages im Fanshop unseres Lieblingsvereins und kamen nie mehr von ihr los. Seither sind wir Teil einer einzigartigen, wenn auch etwas durchgeknallten Familie.


Eishockey in Liechtenstein Assoziiertes IIHF-Mitglied seit: 4. Oktober 2001 World Ranking Männer und Frauen: noch keine Teilnahme Spielerpool: ca. 90, Einwohner: 37 Tsd. Indoor-Rinks: 0, Outdoor-Rinks: 1

Im steuerparadiesischen Puckjäger-Exil Es gibt bekanntermaßen einige Analogien zwischen Golf und Eishockey. Kommen wir gleich auf den Punkt: Liechtenstein hat einen Golfverband, Liechtenstein hat einen Eishockeyverband, gespielt wird aber jeweils in den Nachbarländern Schweiz und Österreich. Im Fürstentum selbst scheut man jegliche Unkosten wie der Teufel das Weihwasser, der Bau eines Golfplatzes wie auch einer Eishockeyanlage wurden bis heute Opfer dieser Engstirnigkeit. Obschon es in den letzten Jahren immer wieder Versuche gab, das Adelshaus für den Pucksport zu begeistern. Bereits 2003 klärte eine Sportkommission auf, dass es unter Jugendlichen einen Eishallenbedarf gäbe. Man hätte begeisterte Schlittschuhläufer auf einem vereisten Tennisplatz in Triesen entdeckt. Nein, wir haben doch Roll- und Inlinehockey. Dafür bedarf es nicht einmal beheizbarer Turnhallen. Das ist viel billiger, ließen die blaublütigen Meister der Münze daraufhin verkünden. Und: Museen, wir brauchen mehr Museen, damit die Touristen unseren Reichtum sehen. Rund 25 sind es bisher, Tendenz steigend. Doch der 1997 gegründete Liechtensteiner Eishockey- und Inline-Verband (LEIV) lässt nicht locker. Jahr für Jahr werden große Anstrengungen unternommen, ein Eishallen-Projekt zu realisieren. Dass es bisher nicht funktioniert hat, ist sehr schade, denn am Geld liegt es nicht. Liechtensteins Mäzene könnten, wenn sie wollten, die komplette NHL aus der Portokasse kaufen.


Man sagt, würde der Zwergstaat am Ende aller Geldströme sein gesamtes Vermögen in bar anhäufen, könnte man das Land mit einer 150 Zentimeter hohen Geldscheinschicht bedecken. Der überbordende Wohlstand, eisern regiert von Fürstensohn Alois, ist nicht zu übersehen. Ein dicht motorisierter Staat, ein Bankenzentrum, eine rheinisch gelegene Steueroase, von Bergen umstellt. Liechtenstein ist also nicht zu arm für eine Eishockeyhalle, sondern zu geizig. Dabei wäre Armut keine Schande. Wer mit weniger als 2 Mio. Dollar an der Grenze erwischt wird, bekommt dies oft zu hören. Das Argument, für eine Eishalle sei kein Platz, zählt nicht. 160 Quadratkilometer sollten ausreichen, um dem viertkleinsten Staat Europas auf die Kufen zu helfen. Immerhin gibt es einen Mini-Outdoor-Rink im Bergdorf Malbun, auf 1.600 Meter gelegen. Jeweils Donnerstag darf dort von 18 bis 22 Uhr in den Wintermonaten gespielt werden. Liechtenstein verfügt über eine Sportschule, und seit dem Sommer 2014 steht Eishockey auf dem Stundenplan. Zwei Jahre später ist der 14-jährige Balzner Dario Haag der einzige Crack unter den athletischen Büfflern, der nichts als schwarze Gummischeiben im Kopf hat. In Schweden will er Profi werden, von dort stammt auch sein Vater. Zum Trainieren geht es ins schweizerische Romanshorn. Sollte Dario dennoch in der Heimat bleiben und eine Bank- oder Goldbarrenputzerlehre beginnen, könnte er eines Tages für die Amateure des EHC Vaduz-Schellenberg in der österreichischen Vorarlberger Eishockey Liga 2 auf Torejagd gehen. Seine Gegner hießen dann nicht Djurgården Hockey oder Skellefteå AIK, sondern HC Skorpions Lustenau oder HC Aktivpark Montafon II. Im Mai 2001 wurde der Club aus dem EHC Vaduz und dem HC Schellenberg gegründet, Vaduz nahm bereits 1997 an Championaten in der Vorarlberger Landesklasse C teil. Nach der Fusion gab sich der EHC in der 4. Schweizer Amateurli-


ga die Ehre, heute fighten Marco Adank, Christian Heller, Florian Bernardi und Kompanie gegen sieben Ligakonkurrenten wieder unter dem Dach des Vorarlberger Verbandes. Die Heimspiele werden in der Eissporthalle Grünsch, im schweizerischen Kanton Graubünden, ausgetragen. 2016 gelang den Schwarzgelben nach einem Sweep in der Best-of-Three-Serie gegen die SPG Chiefs/Stiera überraschend die Meisterschaft. 70 Zuschauer, darunter die meisten der knapp 30 gemeldeten Vereinsmitglieder, waren völlig aus dem Häuschen. Dem Liechtensteiner Hockeyverband, das ist wohl einzigartig, gehören Vereine aus drei verschiedenen Sportarten an. Inlinehockey und Inline-Speedskating bilden dabei die Speerspitze. International in Erscheinung trat die EishockeyNationalmannschaft bisher bei Länderspielen gegen Luxemburg. Am 26. April 2003 verlor das Team um Kapitän Klaus Schmidle auswärts in Kockelscheuer 1:7. Im 2. Drittel war es Lukas Grubenmann, der den ersten Länderspieltreffer der Geschichte markierte. Für feuchtfröhliche Stimmung auf den Rängen sorgte eine wilde Fanhorde der Bunten Mischung Deutschland (BMD), ein Zusammenschluss enthusiastischer Groundhopper. Regelmäßig werden Eishockeyleckerbissen besucht. Ziel ist das Knüpfen von Fanfreundschaften, und auf jeden Fall wandern am Tourende gesammelte Spielpucks in die Vitrine. So auch der vom Rückspiel auf Schweizer Boden, als Liechtenstein am 10. März 2007 respektabel mit 2:4 unterlag. Vor WM-Teilnahmen ziert sich der Verband bisher. Die überwiegend in Nachwuchsteams im Sarganserland, in Chur, Widnau und vor allem im Umfeld der VEU Feldkirch aus der Alps Hockey League (AHL) aktiven Cracks würde es freuen, und so bleibt ihnen und allen Liechtensteinern nur zu wünschen: Möge euch recht bald die Magie einer Eishalle verzaubern. Die Fürstenfamilie könnte dann, in arabischen Eishockeyländern ist es nicht anders, aus einer vergoldeten Komfortzone dem Volke winken.


Eishockey in Indien IIHF-Vollmitglied seit: 27. April 1989 World Ranking Männer und Frauen: noch keine Teilnahme Spielerpool: ca. 1.270, Einwohner: 1,3 Mrd. Indoor-Rinks: 5, Outdoor-Rinks: 13

When we play, we fight for India. We sing the same anthem: Bharat Mata ki Jai Eishockey in Indien ist eine himmlische Fügung, die ausschließlich in der Wunderwelt des unwirtlichen Nordens zur Entfaltung kommt. Dort, wo es in den Wintermonaten mächtig kalt ist und die zahlreichen Outdoor-Rinks von der Bevölkerung als Pilgerstätten des Glücks auserkoren wurden. Gerne darf in Indien von spieltauglichen Hallen geträumt werden, von Eishockeykämpfen, die sich übers ganze Land verteilen. Kunsteis gibt es. Dort, wo die Satellitenstädte, die Shopping Malls in den Himmel ragen, verstecken sich putzige Skating-Rinks, nicht einmal halb so groß wie ein genormtes Olympiafeld. Der 6. Stock der Ambience Mall in Gurgaon ist so ein Beispiel. Beim Träumen von einer aufbrechenden Eishockeynation sollte die altindische Geduld eines stoisch Wartenden ins Bild gerückt werden: Flirrende Spinnenweben ranken von der Brille, die Augen sind von Lebenserfahrung getrübt. Er weiß, der Zug wird kommen. Heute, morgen oder in 1.000 Jahren. Gesamtsportlich betrachtet sind die Inder, vom Feldhockey abgesehen, eines der Mauerblümchen im olympischen Ranking. Schon im Fußball hat es über 50 Jahre gedauert, bis der barfuß kickenden Nationalmannschaft 1948 ein erstes Pflichtspieltor gelang. Zwei Jahre später lud der Weltverband mit der garantierten Übernahme aller Kosten zur WM nach


Brasilien ein. Die Inder traten, Schuhpflicht hin oder her, nicht an, weil ihnen die Bedeutung eines solchen Ereignisses gar nicht bewusst war. Inder lieben den Sport der langsamen Art, das Schachspiel und Schießen. Ihre Begeisterung fürs Cricket, das so behäbig ist, dass die millionenschweren Stars während des Spiels zum Frisör gehen könnten, ist ungebrochen. Hinzu kommt, dass der gemeine Inder mehrheitlich Nichtschwimmer ist und im Traum nicht darauf kommen würde, auf angeschnallten Kufen einen gefrorenen Teich zu betreten. Das erscheint ihm viel zu gefährlich, und plump darauf auszurutschen würde ihm Großteile seiner Würde rauben. Es sei denn, er bewohnt dramatische Landschaften und malerische Berge. Genauer befinden wir uns jetzt in der nordwestlichen Himalaya-Region, im Bundesstaat Jammu and Kashmir, einem muslimisch-hinduistisch geprägten Unionsstaat in der Größe Ungarns und ein nicht erst seit dem Abzug der Briten 1947 heiß umkämpftes Gebiet. Immer schon gab es Reibereien, waren Bataillone in Grenznähe zu Pakistan und China stationiert. 1999 trug sich der bisher letzte Konflikt zwischen den Atommächten Indien und Pakistan zu. Seither ist kein Friede eingekehrt, sterben Menschen durch Terroranschläge, sind Grenztruppen stationiert. Dass im befriedeten Hinterland dieses Tohuwabohus ausgerechnet Eishockey verehrt wird, hat unmittelbar damit zu tun. Das Freizeitverhalten der indischen Armeeangehörigen auf Höhen zwischen 2.500 und 7.700 Metern über dem Meeresspiegel ist nicht von Pappe. Im Sommer wird natürlich Cricket gespielt. Betrieben werden auch Polofelder, und als besonderes Schmankerl findet sich hier der am höchsten gelegene Golfplatz unseres Planeten, eine 9-Loch-Anlage. Golf und Eishockey? Das passt zusammen. Jeder Eishockeycrack von Welt locht in der Off-season kleine Bälle ein und hofft


darüber, dass es endlich Winter wird. In Nordindien ist das nicht anders. Wenn es draußen stürmt und die Temperaturen fallen, es zwischen Dezember und März so richtig klirrend kalt ist, sind alle anderen Sportarten vergessen. Dann werden die Hockeyschläger gekreuzt und die Spieler von einer dick eingemummelten, elektrisierten Masse rund um die Banden angefeuert. Um die Frage zu beantworten, wie es so weit kommen konnte, reicht ein Blick zurück in die britische Kolonialvergangenheit. Die hatten das Eishockeymutterland Kanada und Indien bekanntlich gemein. Genauso wie einst in Übersee waren es Jahrzehnte später auch im Himalaya-Gebiet britische Bataillone, die sich bei Attraktionen wie Shinty on ice und Schnelllauf im Winter den Speck vom Leib hielten. Um das Jahr 1920 soll dies in Shimla geschehen sein, als die Briten nahe einem präparierten Tennisplatz einen ersten Ice Skating Club gründeten. Wenig später sausten Eisläufer in Soldatenuniformen an ungläubig staunenden Handwerkerburschen und winters zur Untätigkeit verdammten Bauern vorbei. Bald schon herrschte Materialknappheit, jeder wollte aufs Eis. 15 Jahre später erreichte die Euphorie das Kashmirhochland von Ladakh. In Leh gründete sich der Ladakh Winter Sports Club. Das Geschäft ihres Lebens hatten mittlerweile zwei durchreisende Chinesen für sich entdeckt, die sich in Shimla niederließen und fortan Kufen produzierten. Noch immer ist die Hauptstadt des an Jammu und Kashmir grenzenden Bundesstaates Himachal Pradesh ein regionaler Hotspot in Sachen Ausrüstung. Dann verstrich viel Zeit. Aus Schlittschuhläufern wurden erst in den 1970er-Jahren Eishockeyspieler. Die ersten Pucks, die fernab aller IIHF-Regeln eingeworfen wurden, waren gefüllte Schuhcremedosen. Mit Weidenstöckern trieb man sie übers Feld. Am unteren Holz diente eine angeleimte Plastik-


flasche als Kelle, und am oberen Ende bildeten Wollsocken eine Art Knauf. Die zweite Puckgeneration bestand dann schon aus Hartgummi, welches sich die Snow Warriors der Ladakh Scouts, eine paramilitärische Gebirgskampfeinheit, aus gebrauchten Armeestiefeln herausschnitten. Ein zugefrorener Stausee im Zentrum von Leh diente als Spielort der ersten Wettkämpfe, und so wurde die ansonsten eher wegen ihrer buddhistischen Tempel berühmte Verwaltungshauptstadt die Wiege des indischen Eishockeys. Es heißt: Wenn der erste Frost kommt, ist Leh wie befreit und atmet Eishockey. Was sicherlich viel damit zu tun hat, dass zu diesem Zeitpunkt die letzte Backpackercrew durchgezogen ist. 1974 öffneten sich die Tore für den Kashmir-Tourismus. Ladakh gilt seither als sicheres Reiseziel, was der Bevölkerung allerlei finanziellen Vorteil, in erster Linie jedoch viel ungeliebte Arbeit beschert. Heute ist Ladakh (»das Land der hohen Pässe«) Indiens Eishockey-Hochburg. Knapp 20 Klubs, in denen sich vornehmlich Soldaten, Polizisten und Studenten tummeln, gibt es vom muslimischen Westen bis hinauf in das von tibetischen Nomaden bewohnte östliche Hochland. Seit 2001 werden Landesmeisterschaften ausgefochten. Army Red, die Indo Tibetan Border Police sowie das Ladakh Scouts Regiment haben die Nase vorn. Was zu Beginn noch eine reine Herrenrunde war, ergänzte sich elf Jahre später um den ersten Damen-Kontest mit den Ladys der Jammu & Kashmir Red Women zur Saison 2016/17. Die Anfänge waren schwierig. Vor allem die Armee-Teams trugen altväterliche Argumente vor, dass es sich für junge Frauen nicht ziemen würde, dem härtesten, schnellsten und kältesten Sport der Welt nachzugehen. Das gehöre sich einfach nicht. SECMOL, eine regierungsunabhängige Studentenbewegung mit eigenem Campus in Phey, stellte sich dieser konservativen Attitüde entgegen. Gleichberechtigung wurde eingefordert. Die Ice Hockey As-


Eishockey in Ladakh (Indien) – dank Support der Hockey Foundation (THF). Foto: Adam Sherlip


sociation of India (IHAI) sah es genauso, Verbandsvertreter reisten an, befriedeten die Lage, sagten Unterstützung zu für den Aufbau einer künftigen Damen-Liga und sogar für eine Nationalmannschaft. Mittlerweile ist Eishockey für beide Geschlechter ein wichtiger Teil des Erziehungsprogramms, und da der Unterricht an Bildungseinrichtungen zwischen Mitte Dezember bis Ende Februar ruht, jagen die jungen Wilden bereits ab dem frühen Morgen übers Eis. Hobbytrainer aus Übersee, manche im Sabbatical, bringen Rüstzeug mit und widmen sich mit viel Herzblut dem Nachwuchs. 2013 konnten so die ersten U18-Wettkämpfe stattfinden. Organisiert werden die meisten Events vom Ladakh Winter Sports Club (LWSC) und der Ladakh Women Ice Hockey Foundation (LWIHF). Die Finanzierung steht auf wackeligen Füßen, größtenteils wird auf Bettelbriefe gesetzt. Das Sportministerium hält sich vornehm zurück, Cashgroups wie die kanadische Sun Life Financial sind genauso involviert wie in Übersee lebende Hockeyverrückte indischer Herkunft. Und das sind nicht wenige. Allein in Kanada leben 800.000 Inder. Und kommt man in Vancouver, Ottawa oder Calgary am Puck vorbei? Nirgends nicht. Selbst NHL-Spiele werden in der Landessprache der Sikhs ausgestrahlt. Wenn herzkaspernde Reporter wie Harnarayan Singh in der CBC Hockey Night Punjabi am Mikrofon freidrehen, gibt es kein Entrinnen. Kopfhörer auf und volle Lautstärke: »He shooots, he scooooooores, Mikael Backluuuuuuuuund!« 2011 widmete sich die indisch-kanadische Filmproduktion »Breakaway« aka »Speedy Singhs« dem Eissport. Der Soundtrack-Titel »Shera di kaum punjabi« wurde zur Hymne, BollywoodSchauspieler und Produzent Akshay Kumar ist ein erklärter Eishockeyfan und unverzichtbarer Mäzen in Ladakh. NHL-Cracks mit Punjabi-Wurzeln muss man lange suchen. Right Winger Robin Bawa spülte der 1993er-Expansi-


on Draft in den Roster der Mighty Ducks of Anaheim. Nach Karriereschluss standen 61 Spiele in der Vita. Es folgte Center Manny Malhotra, der nach Ende seiner Laufbahn 2016 auf über 1.000 NHL-Einsätze zurückblicken kann und mittlerweile im Trainerstab der Vancouver Canucks arbeitet. Der Dritte im Bunde ist Jujhar Khaira, 2012 von den Oilers an 63. Stelle gedraftet. Nach seinem Debüt gegen Pittsburgh im November 2015 hat der Center eine Karriere bei den großen Jungs vielleicht noch vor sich. Eine weitere Finanzierungsquelle sind Einladungsturniere. Reisefreudige Amateure, Geschäftsleute und Ex-Profis aller Herren Länder reisen etwa für zehn Tage im Jahr zum Friendship Ice Hockey Cup an. Einmal bei -16°C und extrem dünner Luft Teil des welthöchsten Kufenturniers sein – Abenteuer pur. Während Hunderte Zuschauer, Kuhherden und streunende Hunde die Fanblöcke rund um den Karzoo Ice Hockey Rink in Leh bevölkern, im Hintergrund die Abendsonne am Sechstausender des Stok Kangri glüht und direkt gegenüber der Auswechsel-Biergartenbank das 1.000 Jahre alte buddhistische Spituk-Kloster in Sichtweite fällt … Wenn dann der Puck auf der richtigen Seite ins Netz trudelt, der Torrichter in Ermangelung eines Buzzers hektisch mit der roten Fahne winkt und das gefrorene Wasser des Stausees unter den Kufen knackt, während ein paar Einheimische mit Bambus-Besen über das Feld kehren und jede Zamboni vergessen lassen … Eishockeyherz, was willst du mehr? Auch prominent besetzte deutsche Teams waren schon vor Ort. Der Starnberger Markus Nirschl, Organisator von Eishockeytrips in exotische Gefilde, sorgte 2013 dafür, dass seine aus ehemaligen Bundesligaspielern wie Franz Jüttner, Michael Betz, Paul Sommer und Bernd Wagner zusammengestellten Geronimo Stars diesem Genuss frönen durften.


Der 1989 ins Welteishockey aufgenommene indische Verband debütierte zehn Jahre später beim IIHF Challenge Cup in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Das vom USAmerikaner Adam Sherlip gecoachte Männerteam verlor gleich zu Anfang 0:14 gegen Thailand. Alle weiteren Matches endeten zwar ähnlich unrühmlich, doch immerhin fiel das erste indische Tor nicht wie bei den Fußballern erst nach 50 Jahren, sondern beim 1:10 gegen Malaysia. 2011, während der nächsten Cup-Teilnahme, vermochte Sherlip schon sechs eigene Treffer zu notieren. Gegen den Gastgeber Kuwait zeigte man sich beim 2:39 dennoch sehr spendierfreudig. 2012 fungierte Indien als Cup-Ausrichter. Der Weltverband lotste dafür Sponsoren für den Bau einer tauglichen Eishalle in den Bundesstaat Uttarakhand an die nordöstliche Tibet-Grenze, und das Areal wurde tatsächlich eröffnet. Doch als das Spektakel in Dehradun Belwal vorbei und dem indischen Team im vierten Gruppenspiel der erste Sieg, ein 5:1 über Macau, gelungen war, mokierten sich die Regierungsväter über hohe Betreiberkosten und drehten den Strom ab. Seitdem steht der Betonklotz leer und modert ungenutzt vor sich hin. Der größte Anteil an der kleinen Erfolgsgeschichte des indischen Eishockeys gebührt Adam Sherlip, der bereits im Non-profit-Coaching New Yorker Kids sowie als Organisator von Camps in China Erfahrungen und vor allem Geld sammelte. Ende der 1990er-Jahre reiste er erstmals mit einer Hockeymission nach Indien, baute das Nationalteam auf und übernahm den Bandenjob. Regelmäßig wenn der erste Frost durchs Hochland zog, war er vor Ort. Es galt Spieler in die Teams einzufügen und entlegene Dörfer mit dem EishockeyVirus zu infizieren. Im Gepäck: Ausrüstungsgegenstände, die über die Stiftung »The Hockey Foundation« (THF) ins Land kamen. Mit der Unterstützung von Partnern und Förderern hat sich THF als globaler Botschafter des Friedens


und der sportlichen Entwicklung nicht nur das indische Eishockey ins Programm geschrieben: Der Fokus liegt auf Gesamtasien, Afrika und Südamerika. Fragt man Adam Sherlip nach seinen Anfangsjahren als indischer Hockeymissionar, kommt als Antwort: »Damals gab es noch keine Regeln, weder Face-Offs noch Abseits, und die Shifts verliefen völlig willkürlich. Heute ist das anders. Indien hat eine junge Eishockeykultur, und wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns.« Von der ersten WM-Teilnahme weit entfernt, gilt es zunächst bei den Asienspielen konkurrenzfähiges Eishockey aufs Feld zu bringen, und seitdem der Weltverband das Teilnehmerfeld in eine Top- und eine Division I teilte, fallen die Niederlagen nicht mehr haushoch aus. 2015 war ein gutes Jahr für den Underdog. Dank eines Crowdfundings kamen genügend Rupien zusammen, um sich Eiszeiten im 6. Stock der eingangs erwähnten Shopping Mall von Gurgaon mieten zu können. Die Mannen um Youngster Tsewang Gyaltson und Routinier Amir Alis vom Team der Indo-tibetanischen Polizei bereiteten sich dort auf die Kuwait-Matches vor. Gegen den Ausrichter, Kirgisistan, Singapur, Malaysia und Katar reichte es noch nicht zu Siegen. Das einzige Turnierpünktchen gelang gegen den Oman. 5:5 stand es nach der Overtime. Erst in der Penaltylotterie wurde die Niederlage besiegelt. 2016 war der zweite Sieg erneut zum Greifen nahe. Doch auf kirgisischem Eis versagten beim 6:6 nach Verlängerung gegen Macau alle Schützen. Der 2017erCrowdfunding-Ausflug zu den Challenge Games war der bis dato erfolgreichste. Rigzin Norboo sorgte zum Auftakt gegen Omans Wüstenprinzen für den Gamewinner beim 3:2, Spiel zwei gegen Gastgeber Kuwait endete 5:8, gegen Macau folgte abschließend für das nun vom Sherlip-Schüler Abdul Hakim gecoachte Team ein 7:3-Schützenfest. Das Damen-Nationalteam formierte sich 2016 und nahm im selben Jahr, ebenfalls


ermöglicht durch eine Crowdfunding-Aktion, in der Division I des IIHF Women’s Challenge Cup teil. Am 21. März 2016 bestiegen die 20-jährige Centerin Tsewang Chuskit und 27 Teammates einen Flieger nach Taiwan. Die Bedenken der Eltern waren riesig gewesen. Junge Frauen aus Dörfern wie Pargive in Westladakh, denen man ein Studium in Leh erlaubte, verreisen nicht! Erst recht nicht mit Eishockeyschlägern im Gepäck! Nach Taiwan! Die SECMOL betrieb Aufklärungsarbeit und bekehrte die besorgte Verwandtschaft. Obschon es gegen Singapur, Chinese Taipei, Malaysia und Thailand deutliche Packungen hagelte, schafften die Damen das, was den Herren noch verwehrt blieb: Ms. Noor Jahan, im Hauptberuf Tempelmalerin, wurde zur besten Turnier-Torhüterin gewählt. 229 Schüsse zogen aufs Gehäuse, 193 konnte die 26-Jährige entschärfen. Das reichte für die erste überhaupt im indischen Eishockey gewonnene Trophäe. Bei den 2017er-Cup-Spielen in Bangkok hielt Jahan am 9. März den ersten Sieg beim 4:3 in der Rink Ice Arena gegen die Philippinen fest. Nach einem weiteren Sieg über Malaysia schloss Indien die Reise auf dem fünften von sieben Plätzen ab. Wichtiger war jedoch: Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde im Staate Kashmir, als Tsewang Chuskit zum Turnier-MVP geadelt wurde. Die Ladakhi-Athletin stand mit acht Scorerpunkten ganz oben auf der Bestenliste. Abschließend bleibt zu sagen: Sofern kein Wunder geschieht und die Regierung ihr Herz weiterhin dem Eishockey verschließt, muss die ganz große Puckjagd in Indien noch warten. Aber heute, morgen oder in 1.000 Jahren wird sie eröffnet werden. Ganz bestimmt.


Foto: Frank Förster

Frank Bröker: geboren 1969 in Meppen, seit 2002 in Leipzig beheimatet. Autor, Redakteur und Herausgeber (u.a. verschwIndien, Die Wahrheit über Eishockey, Bibliothek der Pratajev-Gesellschaft Leipzig e.V.), schnellster Erlenholzgitarrist der Welt bei »The Russian Doctors«. Bröker ist Fan der Icefighters Leipzig und schreibt für www.facebook.com/ dersiebtemann. Dank für Mitarbeit, Inspirationen, Interviews und Recherchen an René Fasel und Irina Ebner (IIHF), Purevdavaa »Pujee« Choijiljav, Francis Kirps, Tom Barnes, Taro Tsujimoto II, Adam Sherlip, Eademakow, Dave Bidini, Mauricio Xavier, Makarios Oley, Frank »The Tank« Förster, Ralph Melki, Matti Fagerström, Christian Müller, Adrian »The Travelling Goalie« Mizzi, Waldemar Klyk und Ralf Herrmann (Eissuite gGmbH), Shorthanded News, Karim Kerbouche, Joaquin de la Garma, Jens Hinderlie uvm.


Eishockeybücher von Frank Bröker Bisher erschienen

Eishockey Das Spiel, seine Regeln und ein Schuss übertriebene Härte 160 S., ISBN 978-3-945715-19-2 Eishockey in Deutschland Nichts für schwache Nerven 334 S., ISBN 978-3-934896-93-2 Die Wahrheit über Eishockey Der härteste, schnellste und kälteste Sport der Welt 184 S., ISBN 978-3-945715-19-2 Puckkunst Legendäre Eishockey-Motive zum Ausmalen Mit Zeichnungen von Marlene Bart 40 S., ISBN 978-3-945715-70-3

www.verlag-reiffer.de


9783945715208 umschlag Montag, 4. September 2017 11:21:09