Ré Soupault. Künstlerin im Zentrum der Avantgarde.

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RĂŠ Soupault; Vigo, 1930


Ré Soupault Künstlerin im Zentrum der Avantgarde

Herausgegeben von Inge Herold, Ulrike Lorenz und Manfred Metzner mit einem Vorwort von Ulrike Lorenz und Beiträgen von Peter Bär, Inge Herold, Karoline Hille, Manfred Metzner

Wunderhorn



Inhalt 6

Ulrike Lorenz • Vorwort und Dank

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Manfred Metzner • Ré Soupault - Vom Bauhaus in die Welt

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Inge Herold • Meta Erna Niemeyer - Studentin am Bauhaus Weimar 1921 - 1925

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Peter Bär • Meta Erna Niemeyer und der abstrakte Film

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Inge Herold • Ré Richter alias Renate Green und die Mode

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Inge Herold • Ré Richter / Soupault und die Fotografie der Avantgarde

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Ré Soupault, Philippe Soupault, Otto Umbehr • Ein Gespräch

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Karoline Hille • Die Übersetzerin, Journalistin und Autorin Ré Soupault

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Manfred Metzner • Biografie Ré Soupault

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Karoline Hille • Rundfunkbeiträge von Ré Soupault

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Abbildungsverzeichnis

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Fotonachweis / Leihgeber

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Impressum

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Vorwort zu Ré Soupault Ré Soupault (1901-1996) war eine außergewöhnliche Frau. Geboren als Erna Niemeyer, verheiratet mit Hans Richter und Philippe Soupault, trug sie als Modezeichnerin das Pseudonym Renate Green. Kurt Schwitters verlieh ihr den Spitznamen Ré. In ihrem reich facettierten Werk als Fotografin, Modeschöpferin, Journalistin, Filmemacherin und Übersetzerin stand sie im Zentrum der modernsten Kunstströmungen in Deutschland und Frankreich. Ihr Weg führte sie vom Bauhaus Weimar in die Metropolen Berlin und Paris und dort ins Herz des Surrealismus. Tunesien, Latein- und Nordamerika, Schweiz und schließlich wieder Paris waren weitere Lebensstationen dieser modernen Nomadin, die stets kreativ mit neuen Lebenssituationen umging, immer wieder alles hinter sich lassend und Neues beginnend. Mit einer umfassenden Retrospektive präsentiert die Kunsthalle Mannheim in Kooperation mit Manfred Metzner, dem Nachlassverwalter der Künstlerin, erstmals das Gesamtwerk dieser faszinierenden Persönlichkeit im Spiegel der Kunst ihrer Zeit und Zeitgenossen. Im Bauhaus zu Weimar begann ihre künstlerische Laufbahn, hier formte sich ihre Lebens- und Geistes­ haltung, maßgeblich geprägt von ihrem Lehrer Johannes Itten. Doch schon bald zog es sie nach Berlin, wo sie im Atelier von Viking Eggeling mit der Entwicklung des abstrakten Films in Berührung kam, diesen wesentlich mit entwickelte, eine Leistung, die bis heute kaum gewürdigt wurde. Ré Soupault als Modeschöpferin zu entdecken, ist ein weiteres Verdienst der Ausstellung. Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, arbeitete sie seit Mitte der 1920er Jahre wie viele junge Frauen mit künstlerischen Ambitionen im Modesektor, zunächst als Zeichnerin, dann anfangs der 1930er Jahre als Inhaberin eines eigenen Modestudios in Paris. Als wahre Neuentdeckung können wir bislang unveröffentlichte Fotos von Man Ray aus der Sammlung des Centre Pompidou in Paris präsentieren: Porträts, die der Meister der Fotografie in Paris von seiner Freundin Ré Soupault schoss, sowie Aufnahmen von ihrer Modekollektion »Ré-Sport«. Neu entdeckte Quellen vervollständigen das Bild ihres Wirkens in diesem Bereich. Ihr legendäres »Transformationskleid«, das sie für die moderne und berufstätige Frau entwarf und das für die Ausstellung von der Kostümabteilung des Mannheimer Nationaltheaters nachgeschneidert wurde, stellt einen weiteren Glanzpunkt der Ausstellung dar. Wie aktuell ihre Idee noch heute ist, zeigt die Kooperation mit der Mannheimer Modedesignerin Dorothee Schumacher, die das »Verwandlungskleid« für unsere Ausstellung neu interpretierte. Nachdem Ré Richter 1933 ihren späteren Ehemann Philippe Soupault kennengelernt hatte, veränderte sich ihre Lebenssituation erneut. Sie begann als Autodidaktin zu fotografieren, begleitete Philippe auf seinen Reisen und bebilderte seine Reportagen. Ré Soupaults fotografische Arbeiten zählen heute zu den bedeutendsten Wiederentdeckungen in der Fotografiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Ihr humanistischer Ansatz verbindet sich mit einem überzeugenden Gespür für Proportionen und geometrische Grundformen. Hier steht sie in der Nähe zum Werk ihrer Zeitgenossen wie Henri Cartier-Bresson, Gisèle Freund, André Kertész, Germaine Krull und Umbo, die mit wichtigen Arbeiten in der Ausstellung vertreten sind. Der Facettenreichtum und die unermüdliche Kreativität der Künstlerin spiegeln sich auch in ihren Texten zu Kunst und Literatur, ihren Radio-Essays für u.a. Radio Bremen, den Hessischen Rundfunk, RIAS Berlin, SRG Basel und den SWR wider. Als Kennerin der französischen Sprache und der Avantgardebewegung übersetzte sie Texte von André Breton, Lautréamont, Romain Rolland, Tristan Tzara und ihres Ehemannes Philippe Soupault. Hochbetagt blickte sie auf ein Geflecht an Beziehungen zurück, die ihr Leben prägten und das in der Ausstellung erstmals auf vielfältigste Weise visualisiert wird.

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Dank Idee und Konzept von Ausstellung und Begleitpublikation entwickelten Inge Herold und Manfred Metzner. Manfred Metzner stellte uns den Nachlass der Künstlerin vollumfänglich zur Verfügung und sorgte für die Realisierung des üppigen, grundlegenden Katalogs, während Inge Herold für die gesamte Ausstellungsorganisation, die wissenschaftliche Konzeption der Publikation und das vielschichtige Begleitprogramm verantwortlich zeichnet. Beiden sei herzlich für ihr großes Engagement gedankt. Ergänzt wurden die Arbeiten von Ré Soupault durch zahlreiche Werke ihrer Zeitgenossen und Wegbegleiter. Für die großzügige Bereitschaft, uns – überzeugt vom Konzept – Leihgaben zur Verfügung zu stellen, danken wir allen Leihgebern zwischen Paris, Luxemburg und Berlin, von Essen und Köln bis Waldenbuch, Weimar, Winterthur und Linz. Ohne die finanzielle Unterstützung der H.W. & J. Hector Stiftung hätte das großangelegte Projekt nicht realisiert werden können. Dafür gilt den Verantwortlichen der Stiftung sowie Hans-Werner und Josephine Hector unser aufrichtiger Dank, in den die Alfred Ritter GmbH & Co. KG und namentlich Marli HoppeRitter eingeschlossen sind, die uns ebenfalls unterstützt haben. Mit großem Engagement und Begeisterung haben sich Manfred Scholz, Direktor der Kostümateliers des Nationaltheaters Mannheim, und Heike Schöpker, Gewandmeisterin des Damenateliers, an die Rekonstruktion des »Transformationskleides« gewagt, mit überzeugendem Ergebnis, auch dafür herzlichen Dank. Ebenso schnell zu begeistern waren Dorothee Schumacher / Schumacher GmbH, Mannheim und ihr Team. In einer einmaligen Kooperation ist wirklich Zauberhaftes entstanden, das großen Dank verdient. Und schließlich kam noch „Engelhorn Mode im Quadrat“ mit ins Spiel. Andreas Hilgenstock und Jürgen Müller sei herzlich gedankt für die Begleitung unseres Ausstellungsthemas in Form einer Schaufenstergestaltung. Thomas Schirmböck hat uns freundlicherweise sein Filmmaterial über Ré Soupault aus dem Jahr 1994 zur Verfügung gestellt, wofür wir ihm zu großem Dank verpflichtet sind. Dank sei schließlich gerichtet an den Südwestrundfunk, an Deutschlandradio und Maja Sachweh für die Unterstützung bei der Beschaffung und Präsentation von Ré Soupaults eigenen Rundfunkbeiträgen sowie Beiträgen über sie. Unterstützung erfuhren wir auch durch das BildForum e.V. Mannheim, das uns leihweise Rahmen zur Verfügung stellte. Eine so komplexe Ausstellungsthematik verlangte eine besondere Gestaltung. In PIKDREI – Agentur für visuelle Kommunikation, Mannheim haben wir Partner gefunden, die diese anspruchsvolle Aufgabe kreativ und ideenreich gemeistert haben. Ihnen gilt unser Dank ebenso wie Ingrid Sauer von Cyan Heidelberg, die die Gestaltung des Kataloges verantwortete. Den Katalogautoren Peter Bär, Inge Herold, Karoline Hille und Manfred Metzner sei schließlich für ihre kenntnisreichen fundierten Beiträge gedankt, Britta Schröder für das sorgfältige Lektorat. Dank der Bereitschaft und Unterstützung von Kollegen gelang es schließlich ein umfängliches Begleitprogramm zu planen, dessen Höhepunkt sicherlich die gemeinsam mit dem Cinema Quadrat, Mannheim organisierten Präsentationen von Avantgarde-Filmen mit musikalischer Begleitung darstellen. Und schließlich gilt mein großer Dank allen Mitarbeitern der Kunsthalle, die bei der Durchführung des Projektes mitgewirkt haben. Möge die Ausstellung das Publikum ebenso begeistern wie alle an der Vorbereitung Beteiligten!

Dr. Ulrike Lorenz

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Manfred Metzner

Ré Soupault Vom Bauhaus in die Welt

Im Frühjahr 1921 kommt Meta Erna Niemeyer zum Sommersemester

Erna links Mitte, um1904/1905; Privatbesitz Familie Gaede

an das Bauhaus in Weimar. Sie wurde am 29. Oktober 1901 in Bublitz geboren, heute Bobolice (Polen), einer jener traditionsreichen Ackerbürgerstädte in Pommern mit gutbürgerlichem Wohlstand. Das Lyzeum beendet sie in Kolberg. Eine unglückliche Kindheit, die Folgen des Ersten Weltkriegs, der Kriegstod ihres geliebten Bruders Werner 1917 und die Enge der Familie lassen sie schon früh Zuflucht zum Klavierspiel, Schachspiel und zur »Wandervogel-Bewegung« suchen. »In der Hoffnungslosigkeit dieses Kriegsendes war alles grau; nirgends ein Lichtblick. Da zeigte mir Fräulein Wimmer, meine Zeichenlehrerin – die einzig vernünftige Person an der Schule – das Manifest von Gropius. Das Bauhaus. Da war eine Idee, mehr noch, ein Ideal: keinen Unterschied mehr zwischen Handwerkern und Künstlern. Alle zusammen, in einer neuen Gemeinschaft, sollten wir die ›Kathedrale‹ Erna hoch zu Ross, um 1906; Privatbesitz Familie Niemeyer der Zukunft bauen. Da wollte ich mitmachen. Mir lag mehr an der neuen Gemeinschaft als an der Ausbildung meines Maltalents.«

Das Bauhaus in Weimar Meta Erna Niemeyer reicht Arbeiten ein, muss einige Fragen beantworten und wird aufgenommen. In den Osterferien 1921 trifft sie in Weimar ein, sie kommt im Martha-und Marien-Heim (heute das Hotel Amalienhof) unter, einem evangelischen Hospiz, die Eltern übernehmen die Kosten. Otto Umbehr (unter dem Namen Umbo später ein berühmter Fotograf), der mit ihr zu studieren beginnt, hat kein Geld für eine Unterkunft und schläft auf einer Parkbank an der Ilm. Ihr erster Weg führt sie zum Bauhaus in die Kantine. »Es war zwar schon etwa drei Uhr nachmittags, aber ich dachte, vielleicht gibt es doch noch etwas zu essen. Denn man hatte immer Hunger. Ich fand den Eingang zur Kantine, eine Art Baracke. Die Eingangstür öffnete sich direkt auf einen großen Raum, in dem Tische und Bänke standen. Aber er war leer. Nur hinten in einer Ecke links saß ein junger Mann. Er trug eine sogenannte Russenbluse, wie sie damals beliebt war, als Zeichen einer Erna im Frühjahr 1918 als Schülerin antibürgerlichen Gesinnung. Als er mich in der offenen Tür stehen sah, redete er mich im Lyzeum Kolberg; an: ›Mädchen, bist du neu?‹. Etwas schüchtern sagte ich ›ja‹. ›Hast du Hunger?‹ fragte Privatbesitz Familie Gaede er weiter in einem vielversprechenden Ton, worauf ich sofort ›ja‹ sagte. Er klopfte an einen Schalter, der sich gleich öffnete. ›Habt ihr noch was zu essen?‹ fragte er, ›da ist ’ne Neue.‹ Ich bekam einen Teller mit gebratenen Kartoffelschalen und Quark. ... Der hilfsbereite Bauhäusler hieß Josef Albers. Albers war dann ein guter Kamerad, sehr aktiv und begabt.«

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Die Erfahrungen am Bauhaus, der Geist des Bauhauses werden zu der zentralen Lebenserfahrung. Allen Widrigkeiten zum Trotz – es herrscht Inflation, die meisten Werkstätten sind noch nicht wieder aufgebaut, die Bevölkerung in Weimar steht den Studentinnen und Studenten feindlich gegenüber – stürzt sich Erna Niemeyer in das Abenteuer. Mit Paul Klees Unterricht kommen die wenigsten Studenten zurecht. Mit Oskar Schlemmer versteht sie sich gut, von Wassily Kandinsky ist sie fasziniert, Walter Gropius beschützt sie vor ihren Eltern, die sie von einem Arzt für verrückt erklären lassen und aus diesem ›revolutionären‹ Umfeld entfernen wollen. Von Johannes Itten aber ist sie am meisten beeindruckt. Seinen Vorkurs belegt sie gleich zweimal. »Und bei Itten geschah etwas, was uns befreite. Wir lernten nicht malen, sondern lernten neu sehen, neu denken und zugleich lernten wir uns selber kennen.« Georg Muche und Johannes Itten leben nach der persischen MazdaznanLehre. Erna Niemeyers Interesse ist geweckt, sie beginnt nebenbei in Jena bei Professor Friedrich Slotty zwei Semester Sanskrit zu Erna Niemeyer; Stillleben, um 1918/1919; Privatbesitz Familie Petermann studieren. Diesem Studium verdankt sie ihre Lebensdevise: Die Habsucht ist die Ursache allen Übels (»lobhah papasya karanam«). Ohne allzu große Begeisterung wählt sie die Weberei als Werkstatt, da diese noch funktioniert, für die Tischlerei fühlt sie sich körperlich zu schwach. Allerdings gehören die Webstühle der Werkmeisterin Helene Börner, die befürchtet, die Anfänger würden die Ketten ruinieren. Daher setzt sich Erna Niemeyer an den Teppichwebstuhl und knüpft Sanskrit-Weisheiten in ihre abstrakten Farbkompositionen.

Erna Niemeyer, um 1924

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Bei einem Besuch in Berlin trifft sie 1923 ihren Bauhauskameraden Werner Graeff wieder, der 1922 das Bauhaus verlassen hatte, um mit dem Konstruktivisten Theo van Doesburg nach Berlin zu gehen. Van Doesburg war nie Lehrer am Bauhaus, übte aber außerhalb des Bauhauses in Weimar 1921/22 durch Vorträge und seinen »Gestaltungsunterricht« spürbaren Einfluss auf Studierende und Lehrer aus. Graeff macht Erna Niemeyer mit dem schwedischen Dadaisten und Experimentalfilmer Viking Eggeling bekannt, der im Dachgeschoss der Wormser Straße 6a sein Atelier hat und an seiner Diagonal-Sinfonie arbeitet. Eggeling ist krank, mittellos und kommt allein nicht weiter. Erna wird seine Assistentin, nachdem sie noch an der ersten Bauhaus-Ausstellung teilgenommen hat, die am 15. August


RĂŠ Richter, um 1927/1926/1928

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1923 eröffnet wurde. Dort werden ihre Sanskrit-Teppiche verkauft. Sie nimmt sich Urlaub vom Bauhaus. Geplant sind einige Wochen Assistenz, doch die Arbeit erstreckt sich über ein Jahr. Die junge BauhausStudentin kümmert sich um die Technik, erstellt die Berechnungen, lernt den Umgang mit der AskaniaKamera und dem Tricktisch. Im November 1924 hat sie den Film fertiggestellt. Eggeling fährt damit nach Paris, um ihn seinem Freund Fernand Léger zu zeigen. Erna bleibt im unbeheizten Atelier zurück. Kurt Schwitters trifft sie dort an und nimmt sie mit zu sich nach Hannover. »Er hat mich Ré getauft, und das ist dann an mir hängengeblieben. Seitdem heiße ich Ré. Daß trotz aller Schwierigkeiten ein Film zustande kam, ist mir heute noch ein Rätsel. Aber ich hatte meiner Gesundheit großen Schaden zugefügt. In dem Verschlag unter dem Dach, der als Dunkelkammer diente, war es – da unbeheizbar – bitterkalt im Winter und tropisch heiß im Sommer. Als ich zu Beginn des Winters aus Hannover nach Weimar zurückkam, wurde ich krank. Meine Mutter gab mir Geld und ich fuhr in ein kleines italienisches Fischerdorf namens Positano, um mich zu erholen.« Als das Bauhaus in Weimar 1925 geschlossen wird und nach Dessau umzieht, sieht Ré keine Möglichkeiten für sich, weiterzustudieren, da ihr die neue Entwicklung zum Funktionalismus nicht gefällt. Sie bleibt in Berlin und trifft den Dadaisten Hans Richter wieder, den sie schon 1922 in Weimar kennengelernt hatte. Die beiden heiraten 1926 und ziehen zusammen in die Trabenerstraße 25, Ré Richter behält aber das Atelier von Eggeling. Die gemeinsame Wohnung wird zum Dreh-und Angelpunkt der künstlerischen und literarischen Avantgarde der 1920er Jahre: Fernand Léger, Sergej Eisenstein, Werner Graeff, Walter Mehring, Paul Hindemith, Mies van der Rohe, Vsevolod Pudovkin und andere treffen sich hier. In Paris lernt sie auf einer gemeinsamen Reise die Zirkel um Man Ray und Fernand Léger kennen. »Ich kannte schon von früheren Reisen eine ganze Anzahl Leute in Paris und hatte Mitte der Zwanziger Jahre, von Fernand Léger an Paul Poiret, dem unumstrittenen Modekönig von Paris, empfohlen, für diesen die ersten Hosenröcke entworfen, die er als große Neuheit lancierte.«

Berlin/Paris In Berlin findet Ré Richter Arbeit beim Scherl-Verlag, schreibt und zeichnet unter dem Pseudonym Renate Green für die Zeitschrift Sport im Bild, die später in Silberspiegel umbenannt wird. Sie befreundet sich mit Erich Maria Remarque, der zweiter Redakteur ist, und mit dem Chefredakteur Konrad Ehlert. Und sie trifft ihre Kommilitonin Lore Leudesdorff wieder, die seit 1923 bei dem Avantgarde-Filmemacher Walter Ruttmann als Regie-Assistentin arbeitet und mit ihm u.a. Berlin – Die Sinfonie der Großstadt (1927) realisiert. Sie lernt die Kinderbuchautoren Lisa Tetzner und Kurt Kläber (der unter dem Pseudonym Kurt Held veröffentlicht) kennen. Die Ehe mit Hans Richter zerbricht 1927, wird aber erst 1931 geschieden. Im Winter 1929 übersiedelt Ré nach Paris, um als Korrespondentin für den Scherl-Verlag weiterzuarbeiten. »Meine Arbeit für Scherl bestand darin, daß ich zweimal im Monat Vorschläge machen mußte. Eine von den Ideen wählte man für meine beiden Seiten, die ich in der zweiwöchig erscheinenden Zeitschrift hatte, und die anderen Ideen gehörten ihnen auch.« Sie fühlt sich in Paris wohl, ist erfolgreiche Korrespondentin und kann sich sogar einen gebrauchten Renault kaufen. Im Café Dôme am Montparnasse trifft sich die Bohème, viele Freunde aus Berlin und Paris sieht sie dort wieder. »Jeder kam dort wenigstens einmal am Tag vorbei. So war ich da jeden Tag mit Man Ray, Kiki [de Montparnasse], [Tsuguharu] Foujita, [Alberto] Giacometti, Léger, [André] Kertész. Ich erinnere mich sehr gut an Kertész, der dort seine ersten Fotos zeigte.« Helen Hessel wird sie treffen, Lee Miller, Jeanne Bailhache, die ebenfalls als Modekorrespondentinnen arbeiten, und die Fotografin Florence Henri. Mit allen wird sie durch die kommenden Lebensumstände immer verbunden bleiben, so wie sie den Gemeinschaftsgedanken am Bauhaus erfahren und gelebt hat. Man Ray hat nicht weit vom Dôme sein Atelier. Bei ihm begegnet Ré auf dem Geburtstagsfest für Kiki dem amerikanischen Millionär Arthur 12 |


Wheeler, der Man Rays Film Emak Bakia finanziert hatte. Seine Begeisterung für Ré’s Modeideen bedeutet eine entscheidende Wende in ihrem Leben. »Ich trug ein ganz einfaches schwarzes Tuchkleid, aber sehr gut geschnitten. Dazu als einzigen Schmuck eine weiße Blumengirlande wie einen Kragen nebst Manschetten. Gewiß sollte es ein Kompliment sein, als mir Mr. Wheeler vor allen Gästen sagte: ›What a wonderful dress! You look like a million dollars‹.« Wheeler gründet mit ihr 1931 eine GmbH, an der sie 50 Prozent der Anteile hält. Das Konfektionshaus »RéSport« war gegründet, es befand sich in der Rue Froidevaux. »Ich richtete mein Man Ray (1890-1976); Ehepaar Wheeler, um 1928; Riesenatelier im reinsten Bauhausstil ein, was aber in Paris noch kein Begriff war. Centre Pompidou, Paris Mies van der Rohe lieferte seine schönen Stahlmöbel, diese mit weißem Leder. Die Vorhänge, die an zwei Seiten des Ateliers vom Fußboden bis zur Decke die Wände bedeckten, waren aus weißem Kascha von Rodier. Das ganze sollte weiß sein, damit die Farben der Modelle sich gut vom Hintergrund abhoben.« Die erste Vorführung von zwanzig Modellen erstaunt und begeistert das modebewusste Paris. Eine junge Deutsche revolutioniert die Konfektion. Auch in Deutschland wird dieser große Erfolg wahrgenommen. Die Frankfurter Zeitung berichtet durch ihre Pariser Modekorrespondentin Helen Grund (d.i. Helen Hessel) ausführlich in ihrer Beilage »Für die Frau – Blätter der Frankfurter Zeitung für Mode und Gesellschaft« am 24. Januar 1932 und am 19. Februar 1933. Man Ray fotografiert ihre Kollektionen. Die großen Warenhäuser kaufen sofort ein. »Da war erstens das Verwandlungskleid. Ich ging immer von einer konkreten Idee aus: eine Sekretärin oder eine Verkäuferin usw., die abends, nach der Arbeit ausgehen möchte, aber nicht vorher nach Hause gehen kann, verwandelt ihr Kleid, das sie tagsüber mit einem kleinen Kragen oder einer bescheidenen Brosche Ré und Philippe Soupault, Onkel Toms Hütte, Berlin, 1934 getragen hat, in ein Abendkleid, indem sie den Reißverschluß, der bis zur Taille zu öffnen ist, nach innen kehrt, rechts und links mit Klips befestigt und in den bis zur Taille zugespitzten Ausschnitt einen Einsatz anbringt, der je nach Wunsch aus Brokat oder aus weißem Piquet oder einem Phantasiestoff sein kann. Dazu eine Kette, Ohrringe und fertig ist sie für einen Theaterbesuch. Es gab bei der ersten Vorführung etwa 10 Verwandlungen des Kleides. Voraussetzung war der erstklassige Stoff, der allen Strapazen gewachsen war und der Schnitt. Von größter Einfachheit, denn das Kleid diente ja eigentlich nur als Untergrund für die Varianten, aber Schultern und Ärmel waren so gut geschnitten, wie man es sonst nur in der Haute Couture fand. Der Hosenrock, der aussah wie ein Rock mit Quetschfalte, vorn und hinten, für sportliche Frauen gedacht, die sich nach der Arbeit sportlich betätigen wollten. Ein Modell, um am Samstag direkt von der Arbeit übers Wochenende zu verreisen, ohne Gepäck. Das Modell begann mit einem Short, einem eng anliegenden ärmellosen Pullover, darüber ein Sportrock, von oben bis unten geknöpft, eine Hemdbluse und eine Jacke. Eine weitere Idee war das Schürzenkleid. Man konnte es anziehen wie eine Schürze, hinten wurde es gekreuzt und mit einem durchgezogenen Gürtel sowie mit einem Schal um den Halsausschnitt befestigt. Dies war für Frauen, die es eilig hatten. Voraussetzung für dieses Modell war ein sehr weicher, anschmiegsamer Stoff. 90 v. H. aller Frauen arbeiten heute, und diese 90 v. H. brauchen eine rationelle Kleidung. Ein Kleid ist nicht um seiner selbst willen da, sondern um getragen zu werden.« Doch allzu lange hält diese Erfolgssträhne nicht an: Bei einem Autounfall stirbt Wheeler. Die Erben haben kein Interesse an dem Modehaus, fordern ihr Geld zurück. Die Banken werden nervös, denn ohne den Millionär Wheeler im Hintergrund ist ihnen das Unternehmen zu riskant. Schlechte Berater tragen das Übrige bei, Ré muss das Geschäft bis zum 1.4.1934 abwickeln, wenn sie unbeschadet aus der Sache herauskommen will. Sie entlässt einige Näherinnen, und um Geld zu verdienen, macht sie Haute Cou| 13


Robert Delaunay (1885-1941); Le poète Philippe Soupault, 1922; Centre Pompidou, Paris 14 |


ture für Privatkunden und kleidet Frauen der Bohème ein. Nebenbei verkauft sie Modeschmuck von Elsa Triolet, der späteren Ehefrau von Louis Aragon. Zum Glück hat sie den Korrespondentenjob für Scherl nicht aufgegeben. Nach Berlin will sie nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten nicht mehr zurück. Viele ihrer Freundinnen und Freunde müssen in die Emigration. Da hat sie eine schicksalhafte Begegnung: Am 7. November 1933 lernt sie in der Russischen Botschaft beim Empfang zur Feier der Oktober-Revolution den Surrealisten Philippe Soupault kennen. Freunde hatten sie überredet, mit auf den Empfang zu gehen. »Da war in der Botschaft ganz Paris. Etwa zweitausend Leute. Damals war der Salon-Kommunismus Mode. Ich war ja nur dort, um Freunde und Bekannte zu sehen. Fernand Léger war dort, wie ich mich erinnere, Aragon und sein Kreis. Elsa Triolet war in ein Gespräch vertieft, als ich sie etwas fragte, und zwar überragte ein Neger die ganze Gesellschaft, denn er war groß und der ein- Ré Soupault; Selbstporträt, 1937 zige Schwarze bei diesem Empfang. Ich fragte sie, ob sie den Neger kenne. Sie mißverstand mich offenbar und glaubte, ich hätte sie nach einem Buch gefragt, das den Titel Der Neger trug, von einem Surrealisten namens Philippe Soupault geschrieben. Und so antwortete sie, ›Ja, natürlich von Philippe Soupault.‹ Ich hatte das ›von‹ überhört, da ja meine Frage einen ganz anderen Sinn hatte. Und so glaubte ich, der Neger dort hinten sei Philippe Soupault. Warum auch nicht? Kaum hatte ich mich ein wenig besonnen, als der Schriftsteller Vladimir Pozner auf mich zukam. Ihm auf dem Fuß folgte ein junger Mann, der mir auf den ersten Blick sehr sympathisch war. Und Pozner stellte ihn mir vor: Philippe Soupault. Jetzt war ich aber erstaunt und dachte, er mache sich über mich lustig. ›Ich dachte, Philippe Soupault sei der Neger dort hinten!‹ Nun waren beide erstaunt und der Irrtum wurde aufgeklärt.« Es beginnt eine lebenslange Beziehung. Philippe Soupault, André Breton und Louis Aragon waren die Initiatoren der Surrealismus-Bewegung in Paris. Soupault hatte 1919/20 zusammen mit Breton die ersten surrealistischen Texte Die MagneRé Soupault; Philippe Soupault beim Interview tischen Felder verfasst. In seiner kleinen Galerie hatte er Anfang der 1920er Jahre auf der Straße, Paris, 1934 zum ersten Mal Man Ray ausgestellt und Tristan Tzara nach Paris eingeladen. Früh verabschiedete er sich aus der Surrealismus-Bewegung, da er den aufkommenden Dogmatismus Bretons nicht ertragen konnte, das war für ihn mit der Idee des Surrealismus nicht vereinbar. Er widmete sich seiner Schriftstellerei, war Verlagsdirektor und wurde Ende der 1920er Jahre zu einem der bedeutendsten Journalisten Frankreichs. Zu deutschen Schriftstellern hatte er ein besonderes Verhältnis. Vielen öffnete er den französischen Buchmarkt. Heinrich Mann schrieb zur Erstausgabe von Der Neger 1929 ein Vorwort mit dem Titel »Philippe Soupault – Der junge Franko-Europäer«. Soupault verfasste auch Literatur-, Kunst-, und Filmkritiken. Für seine Reportagen wurde er 1932 mit dem wichtigsten Preis für Journalisten »Prix Strassburger« ausgezeichnet. Er bereiste für L’Excelsior und Le Petit Parisien die ganze Welt. Soupault ist dabei, sich von seiner zweiten Ehefrau zu trennen, Ré ist dabei, ihr Modestudio aufzugeben. »So standen wir am 1. April 1934 auf der Straße. Keiner hatte mehr ein Zuhause. Wir begaben uns am gleichen Tag auf eine Reportagereise. Der alte Renault mußte herhalten auf der Fahrt durch ganz Europa. Auf unseren Reportagereisen waren wir gezwungen, einen Photographen mitzunehmen, der uns sehr störte und so hatten wir beschlossen, daß ich mir eine Rolleiflex 6x6 und später auch eine Leica anschaffte. So waren wir unabhängiger und ich bekam natürlich auch ein Honorar, wenn Photographien von mir veröffentlicht wurden.« | 15


In jener Zeit begann sich die Rollfilmkamera durchzusetzen. Die Leica war 1925 auf den Markt gekommen, die Markteinführung der Rolleiflex, die 6x6-Aufnahmen machte und mit zwei Objektiven ausgestattet war, fand zwischen 1929 und 1932 statt. Fortan konnte man ohne sperrige Ausrüstung Menschen und Objekte festhalten. Später erwirbt Ré auch noch eine Rolleiflex 4x4 (Baby-Rolleiflex), die seit 1931 auf dem Markt ist. Was ihr an der Rolleiflex besonders gefällt, ist, dass man die Kamera vor den Bauch hält und nicht vor das Gesicht. So fällt sie beim Fotografieren weniger auf. Auch ist der Blick ein anderer. Auf den Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt hatten die technischen Entwicklungen bei Fotoapparaten große Auswirkungen. Neue Zeitungsformate kamen heraus, wie z.B. die Illustrierte VU, die 1928 in Frankreich von Lucien Vogel gegründet wurde. Philippe Soupault arbeitet häufig für VU. Für Ré Richter ist die Fotografie nichts Neues. Umbo hatte schon in Weimar zu fotografieren begonnen, obwohl es dort noch keine Fotoklasse gab. Bei Eggeling hat sie den Umgang mit Filmkameras gelernt. Bei Man Ray, Lee Miller, Florence Henri ist sie oft in den Studios oder lässt sich von ihnen fotografieren. Von Man Ray wird sie beraten. Philippe Soupault bestärkt sie in ihrer Arbeit. Beide begeben sich im April 1934 auf Reportagereisen nach Deutschland, in die Schweiz, nach England. 1935 sind sie einige Monate in den USA und wieder in Deutschland und Skandinavien. 1936 verbringen sie mehrere Wochen in Spanien vor Beginn des Bürgerkriegs. »Immer wenn wir in Paris waren, sind wir losgezogen. Philippe interviewte ›L’homme de la rue‹. Er machte Alltagsreportagen und befragte die Leute auf der Straße, was sie über bestimmte Ereignisse dächten. Ansonsten bin ich – wann immer es ging – allein in Paris unterwegs gewesen und habe das fotografiert, was mir besonders auffiel.« Auf diesen Ausflügen entwickelt Ré den Blick für die ›Magische Sekunde‹, der ihre Fotografien auszeichnen wird. Besonders deutlich wird das bei ihrer Reportage zum 14. Juni 1936 aus Anlass des Wahlerfolgs der Volksfront unter Léon Blum, der Reportage über das »Quartier réservé« in Tunis und bei ihrem Aufenthalt in Spanien. Sie stempelt ihre Abzüge nach wie vor mit »Ré Richter – Mention obligatoire«.

Tunesien 1937 heiraten Ré und Philippe und reisen zum ersten Mal für einige Wochen nach Tunesien. Der Schriftsteller René Laporte, ein enger Freund Philippes, leitet dort das Pressebüro des französischen Protektorats, denn die auswärtige Vertretung und die Landesverteidigung Tunesiens unterstanden Frankreich (bis 1956). Tunesien aber werden sie schneller und intensiver kennenlernen als gedacht: Philippe wird von Léon Blum beauftragt, in Tunis eine Radiostation aufzubauen, die dem Sender der italienischen Faschisten »Radio Bari« in Nordafrika etwas entgegensetzen soll. Das Ehepaar löst in Paris alles auf und reist im August 1938 nach Tunis. Sie wohnen in der Medina von Tunis im andalusischen Viertel. Das europäische Viertel, das außerhalb der Medina liegt, verabscheuen sie. Philippe baut »Radio Tunis« auf. In ihrer Freizeit bereisen sie das Land, Ré fotografiert. Sie macht Reportagen über die Olivenölgewinnung in Sfax, die Abreise der Pilger nach Mekka, über Nomaden oder die »Mohammedia«, die Residenz des Bey von Tunis, der seinen Landsitz im 19. Jahrhundert ganz im Stil von Versailles erbauen ließ. »In Tunesien habe ich eine große Anzahl Aufnahmen gemacht und die französische Regierung kaufte mir meine Bilder ab – übrigens zu einem lächerlichen Preis. So kam es, daß ich manchmal in Zeitungen und Zeitschriften unter einem fremden Namen meine Fotografien wiedersah!« Da sich Ré in Tunesien mit der Rolle der Frau in der islamischen Welt – sie hat auch Zugang zu Harems – intensiv auseinandersetzt, bleiben ihr die sogenannten »Quartiers réservés« nicht verborgen. Reservierte Viertel – in Wirklichkeit sind es enge Gassen in den Altstädten, die seit dem späten 19. Jahrhundert im Maghreb entstanden sind: »Die ›Reservierten Viertel‹ waren für jene Frauen vorgesehen, die in keiner Familie Zuflucht fanden. Eine Frau allein hat keinen Platz in der mohammedanischen Gesellschaft. 16 |


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