Hugo Ball, Der magische Bischof der Avantgarde

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Lektorat: Angelika Andruchowicz © 2011 Verlag Das Wunderhorn GmbH Rohrbacherstraße 18 D-69115 Heidelberg www.wunderhorn.de Alle Rechte vorbehalten Satz: Cyan, Heidelberg Umschlaggestaltung unter Verwendung von Hugo Balls Skizze »Japanisches Selbstporträt«, Bern 1918 Druck: Fuldaer Verlagsanstalt, Fulda ISBN: 978-3-88423-364-1


Michael Braun (Hrsg.)

Hugo Ball Der magische Bischof der Avantgarde Mit Beitr채gen von Ernst Teubner, B채rbel Reetz, Eckhard Faul, Norbert Lange, Gerhard Deny, Karl Piberhofer, Urs Allemann und Michael Braun

Wunderhorn



Michael Braun

Das Rätsel Hugo Ball Im Kopf dieses Dichters hausten viele Widersprüche. Zeitlebens setzte sich Hugo Ball (1886-1927), der wohl eigensinnigste und rätselhafteste Protagonist der avantgardistischen Intelligenz nach 1914, geistigen Zerreißproben aus, die sich nicht beruhigen ließen. Sein Denken war geprägt vom permanenten inneren Widerstreit zwischen Orthodoxie und Häresie. »Die religiöse Konversion« ist einer seiner späten Aufsätze von 1925 überschrieben. Und auch wenn hier kein autobiographisches Motiv aufscheint, ist damit doch das Lebensprogramm dieses Dichters benannt. Hugo Ball war sein Leben lang ästhetisch wie politisch ein Konvertit und vor stereotypen Zuschreibungen auf der Flucht. Seine Verwandlungsfähigkeit war immens: Ball war – in rascher Folge – Theatermacher, Dadaist, Anarchist, radikaldemokratischer Publizist, Mystiker und tief gläubiger Katholik – und immer, wenn man ihn auf einer festen Position wähnte, hatte er sie auch schon wieder geräumt. Mit seinen radikalen Kehrtwenden hat er Freunde wie Feinde provoziert. Seine Performances auf kleinen Künstlerbühnen in Zürich haben ihm seine berühmteste Rolle eingetragen – hier trat er 1916/1917 als Pionier des Dadaismus auf und lieferte einem nach Sensationen hungernden Publikum so manch staunenswertes oratorisches Meisterstück. Es gehört zu den tragischen Aspekten dieses Dichterlebens, dass man Ball fast ausschließlich in dieser Pose des dadaistischen Schamanen wahrgenommen hat, obwohl DadaZürich in seinem Leben eine Episode blieb, die nach wenigen Monaten beendet war. Als er seine dadaistischen Mitstreiter in Zürich mitten in den turbulenten Aktivitäten belehrte, es komme darauf an, die Kirchen-


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väter zu lesen1, fand er nur wenig Zustimmung. Im Gegenteil: Als Antriebskraft hinter Balls Hinwendung zum Katholizismus vermutete man die Einflussnahme seiner quecksilbrigen Frau, der Dichterin, Sängerin und Schauspielerin Emmy Ball-Hennings (1885-1948). Im Rückblick versuchten seine Weggefährten sogar eine Abspaltung des »guten« Avantgardisten Ball vom »regressiven« Mystiker vorzunehmen. »Ich halte es für ein Unglück«, so etwa Richard Huelsenbeck, »daß Ball in die religiöse Mystik hineingeriet.«2 Und an anderer Stelle: »Ich habe diese Kirchenfrömmigkeit stets abgelehnt, ich verstehe sie nicht.«3 Ein spätes Echo dieser Reaktionen finden wir bei dem Dichter Thomas Kling (1957-2005), der die sprachalchemistischen Verfahren Balls bewunderte, aber das Spätwerk als katholische Abirrung abtat, als »der ungute, von Altarkerzen umfunzelte Weg des späten Brentano«.4 Die aufregenden Denkbewegungen, die Ball vor und nach den Auftritten im »Cabaret Voltaire« vollführte, sind bis heute nicht hinreichend verstanden, geschweige denn gewürdigt worden. Von der Literaturwissenschaft wahrgenommen wird – reichlich monothematisch – der virtuose Lautdichter, kaum dagegen der radikaldemokratische Publizist und nur selten der katholische Mystiker und Verfasser von Heiligenlegenden. Dabei kann man sich in Balls Tagebuch »Die Flucht aus der Zeit« kundig machen, dass schon die lautpoetischen Exaltationen im »Cabaret Voltaire« auf religiös-liturgische Gesten zurückgehen.5 Anlässlich des 125. Geburtstags von Hugo Ball unternimmt es das vorliegende Buch, den spektakulären Metamorphosen und schroffen Widersprüchen dieses Dichters nachzugehen und seine geistige Physiognomie in all ihren Facetten sichtbar zu machen. Ernst Teubner, langjähriger Leiter der Hugo Ball-Sammlung und Pionier der Ball-Exegese nach 1976, hat eine Biographie in nuce entworfen, ein »Lebensbild in Umrissen«. Dr. Bärbel Reetz, Biographin von Emmy Ball-Hennings, untersucht die ästhetischen und emotionalen Resonanzen zwischen dem Dichter und seiner Lebensgefährtin und späteren Frau Emmy Hennings. Dr. Eckhard Faul, Mitherausgeber der Ball-Werkausgabe im Wallstein Verlag, analysiert das schwierige Verhältnis des Dichters zu seiner Herkunftslandschaft, der Pfalz.


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In einigen Einzelstudien werden zudem die heterogenen Impulse des Ballschen Denkens freigelegt. Der Lyriker und Essayist Norbert Lange dechiffriert erstmals die sprachmagischen Ursprünge der »Karawane«Dichtung und legt die mit der Suggestion einer »Mysterienfeier« hereinbrechenden »Sprachenwunder« der Ballschen Lautdichtung frei. Der Philosoph Gerhard Deny rekonstruiert die geistigen »Gegenwelten« des Dichters, erinnert an die legendäre Freundschaft Balls mit Hermann Hesse und analysiert die »religiösen Fluchtlinien« seines Werks in einer kulturkomparatistischen Mikroanalyse der Heiligenlegenden im »Byzantinischen Christentum«. Der Herausgeber dieses Buches, Michael Braun, folgt Ball bei seinem Versuch, »Katholizität und Anarchie« zu synthetisieren. Karl Piberhofer, Filmproduzent und Politikberater in Berlin, beschäftigt sich mit den geistigen Erschütterungen, die Balls Diagnosen als »Momentaufnahme der europäischen Intelligenz zwischen den Kriegen« hinterlassen haben. Am Ende steht eine poetische Revitalisierung Hugo Balls: Der Lyriker Urs Allemann hat Gedichtzeilen Balls aus allen Werkphasen zu einem neuen aufregenden Poem montiert. Hugo Balls Affinität zur katholischen Mystik wird in diesem Buch nicht als unerwünschte ästhetische Nebenwirkung seiner kulturrevolutionären Poetik interpretiert, sondern als Zentrum seines Werks. Heidelberg, im Oktober 2010, Michael Braun

Anmerkungen 1 Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit. Zürich 1992, S. 137. 2 Richard Huelsenbeck: Zürich 1916, wie es wirklich war. In: Paul Raabe (Hrsg.): Expressionismus. Aufzeichnungen und Erinnerungen der Zeitgenossen. Olten/ Freiburg 1965, S. 179. 3 Ebenda, S. 178. 4 Thomas Kling: Itinerar. Frankfurt am Main 1997, S. 38/39. 5 vgl. dazu Balls Hinweise in »Die Flucht aus der Zeit« auf den »Kirchenstil« beim Vortrag seiner Lautgedichte.



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Hugo Ball Ein Lebensbild in Umrissen Sein Leben beschrieb Hugo Ball in einem Brief an den Benediktinermönch Pater Beda Ludwig. Er schilderte darin seinen bisherigen Werdegang, aus Sicht des Jahres 1926 – als er mit der Bearbeitung seiner Tagebücher beschäftigt war1 – und versuchte darin seine »Wirrnis all dieser Jahre auf eine Einheit zu bringen und aufzuräumen. Ich werde nach dieser Arbeit, so hoffe ich, klarer mein Ziel sehen und entschiedener die Mittel wählen können.«2 Ball wurde katholisch geboren, ist 1912 aus der katholischen Kirche ausgetreten und 1922 in den Schoß der Kirche zurückgekehrt. »Ich will Ihnen auch sagen, wie es um meine Daten steht. Geboren bin ich am 22. Febr. 86, von Eltern, die ebenso echte Katholiken als begeisterte Deutsche waren. Die Mutter ist vor wenigen Jahren gestorben; sie war so streng im Glauben und in ihrer Lebensführung, dass das Kind sich fürchtete. So haben die ganze Herzenserziehung zwei Schwestern der Mutter übernommen. Tante Selma3, die in rührendster Demut im Hause lebte und starb, musste am Abend oftmals die ganze Familie um mein Bett versammeln, weil ich vor Tränen nicht in den Schlaf kommen konnte; ich fürchtete, am nächsten Tag schon alle verloren zu haben. Die andere Schwester der Mutter war Klosterfrau in Speyer, Schwester Philomena; sie starb auch dort.4 In meiner Kinderzeit war sie stets Vorsteherin einiger Schulschwestern in der Saar- und der Rheingegend. Ich erinnere mich, dass ich mit der Mutter oft bei ihr zu Besuch war, und dass in meinem 9. Jahr mittags bei Tisch von den Schwestern die Geschichte des Heiligen Laurentius gelesen wurde.. Der Vater lebt noch, in hohen Jahren; er war


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so gütig und voller Erfindung und Nachsicht, wie die Mutter streng war. Beide Eltern aber waren in Pirmasens, meiner Geburtsstadt, nicht zuhause. Der Vater stammt aus einer alten Forstfamilie im Spessart5, die Mutter aus der Rheingegend, wenn nicht aus Schwaben.6 Ich besuchte das Gymnasium zu Zweibrücken, studierte drei Jahre Literatur, Geschichte und Philosophie in München, Heidelberg und Berlin. Schrieb eine Dissertation über ›Nietzsche und die Erneuerung Deutschlands‹7, ging dann aber, da der Wissensbetrieb mir erstorben schien, unvermittelt zum Theater über (als Dramaturg, nicht als Schauspieler). In dieser Eigenschaft trat ich mit sehr vielen modernen Dichtern und Künstlern in direkte oder indirekte Beziehung. 1914, als der Krieg ausbrach, gab ich jedoch mit meiner Stellung die ganze Theaterwelt auf und ging in die Schweiz.8 Weitere drei Jahre in Zürich, Basel und im kathol. Tessin mit Künstlern und Politikern aus vielen Nationen. 1917- 20 beteiligte ich mich in Bern an der republikanischen Aktion gegen die protestantische Monarchie in naher Berührung mit Mgr. Dr. von Mathies in Genf 9, und schrieb mein erstes grösseres Buch ›Zur Kritik der deutschen Intelligenz‹ (1924 in Bearbeitung unter dem Titel ›Die Folgen der Reformation‹).10 Wichtiger aber als die Politik in Bern waren meine damaligen Privatstudien. Kardinal Mercier und Prof. Baeumker führten mich in die Neuscholastik ein; mit Emmy zusammen las ich die deutschen Mystiker und Katharina Emmerich. Die Enttäuschungen der Revolutionsjahre, von denen ich mir eine Wiedergeburt Deutschlands versprochen hatte, liessen mich nach kurzem Aufenthalt in München, Berlin und Flensburg in die Schweiz zurückkehren und zwar in ein kleines Dörfchen im Tessin (Agnuzzo bei Lugano), wo zwischen 1920 und 21 mein ›Byzant. Christent.‹ entstand. Nach einer Generalbeichte in München 1922 kehrte ich abermals in den Tessin zurück, von wo ich mit den Meinen 1924 nach Rom und dann hierher11 reiste.«12 Von Hugo Ball ist nur dieser autobiographische Lebensbericht bekannt. Er wurde deshalb hier vollständig zitiert, weil er Balls katholische Religiosität und sein Selbstverständnis im Jahr 1926 dokumentiert. Ball betont darin, soweit es möglich war, seine Nähe zum Katholizismus in fast allen Lebensabschnitten: sein katholisches Elternhaus (»Schwester


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der Mutter war Klosterfrau in Speyer«), den Aufenthalt im katholischen Tessin, bei der »Freien Zeitung«, die Kontakte zu Prälat Dr. Paul von Mathies, die Lektüre von Werken der katholischen Theologen Déciré Mercier, Clemens Baeumker und der deutschen Mystiker, die Generalbeichte und die Rückkehr zur katholischen Kirche. Es darf nicht übersehen werden, dass dieser Brief an einen katholischen Benediktiner geschrieben wurde und Ball über seine zahlreichen Beziehungen zum katholischen Glauben Auskunft gab. Nachfolgend wird versucht, aus zeitlicher Distanz das Leben und das Werk Balls mittels seiner Korrespondenz, seiner Tagebücher und weiterer Dokumente nachzuzeichnen. Auch die Erinnerungen von Emmy BallHennings, seit 1920 mit Hugo Ball verheiratet, werden in die nachfolgende Darstellung einbezogen. Hugo Ball wurde in Pirmasens am 22. Februar 1886 als der »rechtmäßige Sohn des Karl Ball und dessen Ehefrau Josephina Arnold«13 geboren. Nach vier Jahren Volksschule besuchte er von 1895-1901 das Pirmasenser Progymnasium. Hugo Ball begann eine kaufmännische Lehre in einer Lederhandlung. Aber gesundheitliche Gründe zwangen ihn, die Lehre abzubrechen. Da es im Pirmasens seiner Zeit keine Prima gab, musste Ball von 1905-1906 am Königlichen Humanistischen Gymnasium Zweibrücken das Abitur nachholen. Im Oktober 1906 begann er sein Studium an der Philosophischen Fakultät in München, wechselte zum Wintersemester 1907/08 nach Heidelberg und kehrte mit dem Wintersemester 1908/09 nach München zurück. Nach dem Wintersemester 1909/10 brach Ball sein Studium mit der Begründung ab, dass ihm »der Wissensbetrieb … erstorben schien«.14 Es wäre immerhin möglich, dass für Ball ein anderer Grund für den Abbruch des Studiums ausschlaggebend war. Balls Studienbescheinigungen geben darüber Auskunft, dass er im Sommersemester 1908 bei Professor Theodor Elsenhans (1867-1918) an der RuprechtKarls-Universität Heidelberg die Vorlesung »Schopenhauer u. Nietzsche« hörte. Die Entscheidung, eine Dissertation über Nietzsche zu schreiben, kann 1908 in Heidelberg gefallen sein. Nach diesem Semester ging Ball zunächst nach München zurück. 1909/10 erarbeitete Ball seinen »Nietzsche in Basel« und beabsichtigte diese Arbeit als Dissertation einzureichen.


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Ab dem Sommersemester 1910 war Ball wieder in Heidelberg, um sein Studium mit der Einreichung der Dissertation abzuschließen. Differenzen zwischen Professor Elsenhans und Balls Nietzsche-Auslegung könnten Ursache für den Abbruch des Studiums gewesen sein. Schon nach kurzer Zeit sei Ball von Heidelberg nach München zurückgekehrt, so berichtet August Hofmann in seinen »Erinnerungen an Hugo Ball«15, und erklärte, das Studium ohne Abschluss zu beenden. Unmittelbar nach Abbruch des Studiums 1910 dürfte Ball seine Tragikomödie »Die Nase des Michelangelo« niedergeschrieben haben, die 1911 im Verlag Ernst Rowohlt erschien.16 Von September 1910 bis Mai 1911 besuchte Ball die Schauspielschule des Deutschen Theaters in Berlin. Im Abschlusszeugnis wurde ihm bescheinigt, dass er »als Hilfskraft für Regie, Dramaturgie und Verwaltungsfragen bestens empfohlen werden«17 könne. Nach der Spielzeit 1911/12 beim Stadttheater Plauen (Vogtland) wechselte er zum »Münchner Lustspielhaus«, das im selben Jahr, auf seinen Vorschlag hin, in »Münchener Kammerspiele« umbenannt wurde. »1910-1914 war alles für mich Theater: das Leben, die Menschen, die Liebe, die Moral. Das Theater bedeutete mir: die unfaßbare Freiheit«, notierte Ball in sein Tagebuch.18 Neben Friedrich Nietzsche, mit dem sich Ball gründlich während seines Studiums beschäftigte, wurden Frank Wedekind und Wassily Kandinsky von prägender Bedeutung für seine literarische und kulturelle Entwicklung. Ball bewegte sich in der Gesellschaft der Münchener Dichter-Bohème und Theaterszene. Seine Erlebnisse und seine Begegnungen fasste er lakonisch wie selbstbewusst zusammen: »Eine seltsame Führung und Fügung brachte es mit sich, dass ich überall in den Brennpunkt der Interessen gelangte: am Theater, in der Kunst, in der Philosophie, in der Politik.«19 Mit Kandinsky, dem russischen Maler und Kunsttheoretiker, Wegbereiter der abstrakten Malerei, Mitbegründer des »Blauen Reiters« und anderen Künstlern, plante Ball eine Sammlung von Texten zum expressionistischen Theater und Pläne zu einem gewandelten Bühnenbild herauszubringen, eine analoge Programmschrift zum »Blauen Reiter«. Ball veröffentlichte zumeist lyrische Texte in den expressionistischen Zeitschriften »Revolu-


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tion«, »Die Neue Kunst«, »Jugend«, »Die Aktion«. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges verhinderte die Verwirklichung zahlreicher literarischer Vorhaben und Projekte. Nach der kriegsbedingten Schließung der »Münchener Kammerspiele« ging Ball nach Berlin und wurde dort Redakteur bei der Wochenschrift »Zeit im Bild«. Mit Richard Huelsenbeck veranstaltete er 1915 in Berlin literarische Abende, bevor er mit Emmy Hennings, seiner späteren Frau, in die Schweiz emigrierte. Gegenüber seiner Schwester Maria begründete er diesen Schritt: »Ich bin aus Deutschland weggegangen, weil ich immer die Absicht hatte, mich im Ausland weiterzubilden und weil der Krieg und der ›Patriotismus‹ meinen Überzeugungen widersprach.«20 Die mitgebrachten Barmittel waren bald aufgebraucht, und so versuchten beide, durch literarische Veröffentlichungen und durch unterschiedlichste Beschäftigungen das nötige Geld für ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Im Oktober 1915 fanden Hugo Ball und Emmy Hennings beim Varieté-Ensemble »Maxim« ein Engagement und nach dessen Pleite gründeten sie selbst das »Arabella«-Ensemble, bevor sie Ende Januar/Anfang Februar 1916 die »Meierei« in der Zürcher Spiegelgasse 1 mieteten, um Balls Plan eines eigenen literarischen Kabaretts zu verwirklichen. Am 5. Februar 1916 wurde die »Künstlerkneipe Voltaire«, später in »Cabaret Voltaire« umbenannt, eröffnet. Die dadaistischen Hauptakteure waren Hugo Ball, Emmy Hennings, Hans Arp, Marcel Janco, Tristan Tzara und etwas später Richard Huelsenbeck. In der Zürcher Presse erschien am 5. Februar 1916 ein Pressetext, der vermutlich von Ball verfasst wurde und hier auszugsweise zitiert wird: »Unter dem Namen ›Künstlerkneipe Voltaire‹ hat sich im Saale der ›Meyerei‹, Spiegelgasse 1 (Besitzer Jean Ephraim), eine Gesellschaft junger Künstler und Literaten etabliert, deren Ziel es ist, einen Mittelpunkt für die künstlerische Unterhaltung und den geistigen Austausch zu schaffen. Das Prinzip der Künstlerkneipe soll sein, daß bei den täglichen Zusammenkünften musikalische und rezitatorische Vorträge der als Gäste verkehrenden Künstler stattfinden, und es ergeht an die junge Künstlerschaft Zürichs die Einladung, sich ohne Rücksicht auf eine besondere Kunstrichtung mit Vorschlägen und Beiträgen einzufinden. Es soll insbe-


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sondere jüngeren Künstlern Gelegenheit geboten sein, mit eigenen Erzeugnissen vor die Oeffentlichkeit zu treten.«21 In diesem Anzeigentext gab Ball das ursprüngliche Programm der »Künstlerkneipe Voltaire« bekannt. Erst etwas später – vermutlich nach der Ankunft von Richard Huelsenbeck, Ende Februar 1916 – entwickelte sich das Programm des Cabarets in Richtung dadaistischer Aktionen. So plädierte Huelsenbeck für eine Verstärkung des »Rhythmus«, des »Negerrhythmus«22 und auch für Simultangedichte, in denen mehrere Stimmen gleichzeitig in verschiedenen Lautformen vortrugen. Ebenso fanden vermehrt afrikanische und auch australische Kultur (Musik, Rhythmik, Kunst und Sprache) Aufnahme in die Veranstaltungen. Die Anregung, »ein Propagandaheft für die Kneipe«23 herauszugeben, realisierte Hugo Ball mit dem Sammlungsheft »Cabaret Voltaire«. Das Heft erschien Ende Mai 1916 in der Zürcher Druckerei Julius Heuberger. Im Vorwort schrieb Ball eine programmatische Erklärung: »Das kleine Heft, das wir heute herausgeben, verdanken wir unserer Initiative und der Beihilfe unserer Freunde in Frankreich, Italien und Russland. Es soll die Aktivität und die Interessen des Cabarets bezeichnen, dessen ganze Absicht darauf gerichtet ist, über den Krieg und die Vaterländer hinweg an die wenigen Unabhängigen zu erinnern, die anderen Idealen leben. Das nächste Ziel der hier vereinigten Künstler ist die Herausgabe einer Revue Internationale. La revue paraîtra à Zurich et portera le nom ›DADA‹. (›Dada‹) Dada Dada Dada Dada.«24 Hier wurde erstmals das Wort »Dada« dokumentiert. Ein schöner Erfolg für Ball wurde auch die Uraufführung des »Krippenspiels« («concert bruitiste«) im Rahmen der «Großen Soirée», am 3. Juni 1916. Zu den Mitwirkenden zählten neben Ball auch Emmy Hennings, Marietta di Monaco, Johann Schalk, Marcel und Georges Janco, Tristan Tzara und Hans Arp. Ball schrieb über die Aufführung: Es »wirkte in seiner leisen Schlichtheit überraschend und zart. Die Ironien hatten die Luft gereinigt. Niemand wagte zu lachen. In einem Kabarett und gerade in diesem hätte man das kaum erwartet.«25 Auf der 1. Dada-Soirée am 14. Juli 1916 im Zunfthaus zur Waag verlas Hugo Ball seinen Text: »Das erste dadaistische Manifest«. Darin gab Ball einige Erläuterungen zur Bildhaftigkeit des Wortes und der Sprache: »Ich


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lese Verse, die nichts weniger vorhaben als: auf die konventionelle Sprache zu verzichten, ad acta zu legen. […] Ich will keine Worte, die andre erfunden haben. Alle Worte haben andre erfunden. Ich will meinen eigenen Unfug, meinen eigenen Rhythmus und Vokale und Consonanten dazu, die ihm entsprechen, die von mir selbst sind. […] Diese Verse haben die Möglichkeit, allen Schmutz abzutun, der an dieser vermaledeiten Sprache klebt wie von Maklerhänden, die die Münzen abgegriffen haben […] Das Wort will ich haben, wo es aufhört und wo es entsteht. […] Jede Sache hat ihr Wort; aber das Wort ist eine Sache für sich geworden. […] Das Wort, meine Herren! Das Wort sozusagen, ist eine öffentliche Angelegenheit ersten Ranges.«26 Auf dieser Dada-Soirée wiederholte Ball auch seinen Vortrag von Lautgedichten, die er erstmals am 23. Juni 1916 inszeniert hatte: »Ich habe eine neue Gattung von Versen erfunden, ›Verse ohne Worte‹ oder Lautgedichte, in denen das Balancement der Vokale nur nach dem Werte der Ansatzreihe erwogen und ausgeteilt wird. Die ersten dieser Verse habe ich heute abend vorgelesen. Ich hatte mir dazu ein eigenes Kostüm konstruiert. Meine Beine standen in einem Säulenrund aus blauglänzendem Karton, der mir schlank bis zur Hüfte reichte, so daß ich bis dahin wie ein Obelisk aussah. Darüber trug ich einen riesigen, aus Pappe geschnittenen Mantelkragen, der innen mit Scharlach und außen mit Gold beklebt, am Halse derart zusammengehalten war, daß ich ihn durch ein Heben und Senken der Ellbogen flügelartig bewegen konnte. Dazu einen zylinderartigen, hohen, weiß und blau gestreiften Schamanenhut.«27 Ball reiste im Juli 1916 ins Tessin, um seinem Roman »Flametti oder Vom Dandysmus der Armen« zu schreiben, der Balls und Emmy ­Hennings’ Engagement beim »Maxim«-Ensemble zum Inhalt hat. ­Geschrieben hatte Ball diesen Roman – so bestätigte Emmy Hennings – »am Strand von Magadino« und in Vira 1916.28 Im Brief an August Hofmann charakterisierte Hugo Ball seinen Roman: »Und ich habe, in der Zwischenzeit, einen kleinen Roman gemacht (170 Seiten) mit dem ich gestern im Konzept fertig wurde. Darin will ich voller Lustbarkeit, ohne jeden Ärger, voller Plaisanterie, fränkisch und graziös sein, dass es eine Art hat.«29 Der Roman erschien 1918 im Verlag Erich Reiss, Berlin.


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Mit der Gründung der »Galerie Dada« im März 1917 begann Ball sich wieder am Dadaismus zu beteiligen. Am 17. März wurde in der »Galerie Dada« die Wanderausstellung der Berliner Galerie »Der Sturm« eröffnet, die bis Anfang April zu sehen war. Während der Dauer der Ausstellung wurden Führungen angeboten, Vorträge rundeten das Programm ab. So exponierte sich Ball am 7.4. 1917 mit seinem Vortrag über »Kandinsky«.30 Über die Zeit der »Galerie Dada« schrieb er an August Hofmann: er habe eine »unangenehme und anstrengende Erinnerung, dass ich Direktor einer ›Galerie Dada‹ war (vom 17. März – 27. Mai). Dazwischen liegen heftige Aktionen in vielfältigen literarischen und ökonomischen Angelegenheiten. […] Die Galerie war sehr interessant, oft grotesk, oft lustig. Wir hatten 4 Räume mitten in der Hauptstrasse Zürichs, im Hause des Millionärs Sprüngli. Wir stellten neueste Kunst aus, Dadaisten, Cubisten, Expressionisten, Futuristen und veranstalteten 6 Kunstabende, die vom Publikum überlaufen waren und zur Folge hatten, dass man auf der Strasse mit den Fingern auf uns zeigte: ›Da kommen die Dadaisten‹.«31 Schon bald, Ende Mai, zog sich Ball, erschöpft durch die Vielfalt der organisatorischen Aufgaben, den finanziellen Schwierigkeiten und den persönlichen Spannungen mit dem Co-Direktor Tzara, endgültig von den dadaistischen Aktivitäten zurück. Nach einem Aufenthalt im Juni in Magadino (Tessin) verbrachten Ball, Emmy Hennings und Annemarie Hennings – die Tochter aus Emmy Hennings ersten Ehe –, begleitet von Friedrich Glauser, der später als Kriminalschriftsteller und Schöpfer des Wachtmeister Studer bekannt wurde, den Juli 1917 auf einer abgelegenen Almhütte in der Gegend von Maggia (Tessin). Während dieser Zeit auf der Alm arbeitete Ball an seinem Bakunin-Brevier, Emmy Hennings schrieb ihren »Gefängnis«-Roman und Glauser beschäftigte sich mit Léon Bloy. Über das Ende auf der Alm schrieb Emmy Hennings: »Unser Geld, mit dem wir sehr schonend umgingen, wurde knapp und immer knapper, so daß wir uns genötigt sahen, die Alm zu verlassen und wieder talwärts zu wandern. Weil die Reise nicht weit war, zogen wir zunächst nach Ascona, wo wir uns in der Casa Poncini am See Zimmer mieteten.«32 Auf Michael Bakunin war Ball im Spätherbst 1914 in Berlin aufmerk-


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