Rengha Rodewill Bautzen II

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R engha Rodewill

Bautzen II

Dokumentarische Erkundung in Fotos mit Zeitzeugenberichten Vorwort: Gesine Schwan

Dokumentarische Erkundung in Fotos mit Zeitzeugenberichten und einem Vorwort von Gesine Schwan

R engha Rodewill

Bautzen II

Dokumentarische Erkundung in Fotos mit Zeitzeugenberichten und einem Vorwort von Gesine Schwan


Danksagung Rengha Rodewill, Agentur Wort + Kunst und der Verlag sagen hiermit allen Mitwirkenden an diesem Buch Dank für die Unterstützung, insbesondere: Silke Klewin, Leiterin Gedenkstätte Bautzen Susanne Hattig, wissenschaftliche Mitarbeiterin Gedenkstätte Bautzen

Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Inhalt

Vorwort von Gesine Schwan

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Erinnererungsort Bautzen II

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Bilder von Bautzen

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Die Idealistische

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Der Widersetzliche

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Die Beharrliche

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Der Unbeugsame

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Die Standhafte

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http://dnb.d-nb.de abruf bar.

Die Traurige

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ISBN: 978-3-86408-119-4

Der Pragmatische

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Der Enttäuschte

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Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über

Künstlerisches Gesamtkonzept: Rengha Rodewill Herausgeberin: Agentur Wort + Kunst, Micaela Porcelli Fotos von Rengha Rodewill, © Copyright: VG Bild-Kunst, Bonn / 2013 Foto Umschlag: Rengha Rodewill, © Copyright: VG Bild-Kunst, Bonn / 2013 Interviews mit ehemaligen Häftlingen und Aufzeichnung: Rita von Wangenheim Texte: Rita von Wangenheim Korrektorat: Wolfgang Leder Grafisches Gesamtkonzept, Titelgestaltung, Satz und Layout: Stefan Berndt – www.fototypo.de www.vergangenheitsverlag.de Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Bildlegenden 172


Vorwort von

Gesine Schwan

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Rengha Rodewill hat sich berühren lassen. Zunächst vom Untersuchungsgefängnis der sowjetischen Spionageabwehr in Potsdam, das sie 2006 besuchte und aus dem ihr bei der Besichtigung Schrecken und grausame Willkür entgegen kamen. Um die dort Gequälten vor dem Vergessen zu bewahren, verfolgte sie deren Spuren nach Bautzen II, dem Stasi-Kerker, in dem viele weggeschlossen worden waren. Rodewills Fotographien von Bautzen II bezeugen eindringlich das Gefühl des Ausgeliefertseins, der Trostlosigkeit, der Willkür und Angst, dem sich die inhaftierten Frauen und Männer ausgesetzt sahen und auf das sie tapfer, verzweifelt oder, wie um der Selbsterhaltung willen, unbeugsam reagierten. Die Bilder richten sich oft auf banale Ausschnitte aus dem Alltag: verschlossene Türen, altmodisch nüchterne Lichtschalter als Herrschaftsinstrumente über Tag und Nacht, Waschbecken, Hausschuhe und immer wieder Gitter – Treppen, Fenster, Höfe, Flure – alles vergittert. Sie strahlen die gefühllos unbeteiligte Quälerei, die stumpfe Bürokratie, die düstere Sinnlosigkeit einer Machtanmaßung und Unterdrückung aus, die Menschen zu Objekten der eigenen Rache und Herrschaftsgelüste machen. Was an Natur „da draußen“ zu sehen ist, gibt keinen Lichtblick, keinen Trost, sondern dokumentiert eher graue Verlorenheit. Bautzen II, ein Ort von Menschen betriebener Unmenschlichkeit, von miefiger Willkür. Es läuft einem kalt über den Rücken, wenn man die Bilder anschaut, Zeugen eines Albtraums, den wir in Deutschland hinter uns lassen konnten, der aber die Gefangenen nicht mehr wirklich los lässt. Bautzen kann nicht ungeschehen gemacht werden, aber wir können uns, wie die Fotografin, von dem Leid berühren lassen, uns den Gequälten zuwenden, die Erinnerung wach halten und alles daran setzen, um Rechtlosigkeit, Willkür und solche Marter für die Zukunft zu überwinden – wo immer wir dazu in der Lage sind.


Erinnererungsort Bautzen II

Eine Einführung

Bautzen kann auf eine über tausendjährige Geschichte zurückblicken, aber wer heute an die im Osten Sachsens gelegene Stadt denkt, dem fällt unweigerlich das berüchtigte Stasi-Gefängnis Bautzen II ein. Die Unbarmherzigkeit und Kälte, mit der man an diesem Ort echte und vermeintliche politische Gegner, Aufsässige, Unschuldige und Missliebige, Unangepasste und Fluchtwillige leiden ließ, hat viel vom historischen Glanz der schönen Stadt verblassen lassen und machte Bautzen im allgemeinen Sprachgebrauch schon zu DDR-Zeiten zu einem Synonym für Unrecht und Willkür. Dabei reicht diese dunkle Seite der Haftanstalt viel weiter zurück, als nur bis zu Erich Mielkes Staatssicherheit. Die Nationalsozialisten nutzten das Gefängnis genauso für ihre Gegner wie später die sowjetische Militäradministration. Der Unterschied bestand nur in der Umkehrung der Verhältnisse. Während die NS-Diktatur dort – neben anderen missliebigen Gruppierungen – Kommunisten unterbrachte, kerkerten die Sowjets nicht nur Nazis in Bautzen ein, sondern alle, die sie für Feinde der im Auf bau befindlichen kommunistischen Diktatur hielten. Gemeinsam waren den Häftlingen bis 1989 die menschenunwürdigen Bedingungen, unter denen sie leben mussten. Heute erinnert die Gedenkstätte Bautzen sowohl mit einer ständigen Ausstellung als auch mit Veranstaltungen und Veröffentlichungen an die Leiden der Opfer und an die Geschichte der Örtlichkeit. Es gab zwei Gefängnisse in Bautzen. Das eine war das so genannte „gelbe Elend“, ein gelber Klinkerbau, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtet wurde und dann Bautzen I hieß, während es sich bei dem anderen um das Gerichtsgefängnis handelte, das man in späteren Jahren als Bautzen II bezeichnete. Es wurde zwischen 1902 und 1906 zusammen mit dem Gericht erbaut, galt als moderne Haftanstalt und diente zunächst als Untersuchungsge-

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fängnis. Der Status als Untersuchungsgefängnis blieb Bautzen II zwar auch während der NS-Diktatur offiziell erhalten, aber die tatsächlichen Verhältnisse entsprachen dem nicht mehr. Politische Gegner, von der SA in sogenannte Schutzhaft genommen, wurden hier verhört und misshandelt, bevor man sie in das Konzentrationslager Hohnstein brachte. Die Betroffenen waren häufig Mitglieder der KPD oder der SPD, gehörten aber auch anderen missliebigen Gruppierungen an. Nach Kriegsende, als die Sowjetische Militäradministration von 1945 bis 1950 in Bautzen I ein grausames Speziallager betrieb, fanden die vorherigen Verhöre durch die Geheimpolizei in Bautzen II statt, wo Folter an der Tagesordnung war. Wer dann nach seiner Verurteilung von Bautzen II in das damalige Speziallager (Bautzen I) überstellt wurde, sah sich unmenschlichen Bedingungen ausgesetzt. Tausende sind dort an Hunger und Krankheit gestorben. Nachdem Bautzen II 1949 vorübergehend Strafvollzugsanstalt der sächsischen Justiz war, übernahm 1951 zunächst das Ministerium des Innern der DDR das Gefängnis, bis es schließlich ab 1956 vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) als Sonderhaftanstalt geführt wurde. Aus dieser Zuständigkeit, die bis zum Ende der DDR bestehen blieb, rührt die volkstümliche Bezeichnung „Stasi-Knast“ her. Bautzen II wurde zu einem Hochsicherheitsgefängnis ausgebaut, das über 200 Haftplätze verfügte, die vor allem für spezielle Gefangene gedacht waren. Das MfS verstand darunter Regimekritiker, Spione oder Westdeutsche, die von DDR-Gerichten z.B. wegen Fluchthilfe verurteilt worden waren. Aber auch straffällig gewordene prominente DDR-Bürger mussten ihre Haftzeit hier verbringen. Die Haftbedingungen in Bautzen II galten als besonders hart und zum Teil als menschenunwürdig. Die meisten

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Inhaftierten, soweit sie als politische Häftlinge galten, hofften darauf, von der Bundesrepublik freigekauft zu werden, was in vielen Fällen auch geschah. Westdeutsche Häftlinge hatten es manchmal etwas leichter als DDR-Bürger, weil sie nach 1974 Kontakt zur Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin haben konnten und sich deshalb nicht ganz so rechtlos und ausgeliefert fühlten, wie ihre DDR-Leidensgenossen. Dennoch bezeichnen viele nachträglich gerade dieses Gefühl des Ausgeliefertseins und die völlige Ungewissheit über den Zeitpunkt des ersehnten Freikaufs als psychische Hauptbelastung in Bautzen II. Wieder in Freiheit, konnte ein Teil der Häftlinge die Folgen der harten Haftzeit seelisch und körperlich nur schwer oder gar nicht überwinden. Erschwerend kam hinzu, dass sie in eine westliche Gesellschaft entlassen wurden, in der man an eine tiefgreifende Entspannung zwischen Ost und West glaubte und Berichten über die Verhältnisse in DDR-Gefängnissen nur wenig Interesse entgegenbrachte, sofern ihnen überhaupt Glaubwürdigkeit zugestanden wurde. Viele der Entlassenen gliederten sich dann zwar mit beachtlichem beruflichen Erfolg in ein neues Leben ein, aber sie verstummten und kamen innerlich über ihre Erlebnisse nicht hinweg. Manche schafften es gar nicht, die Brüche in ihrem Leben wieder zusammenzufügen. Was sich nach der Wende von 1989 grundlegend änderte, war für viele Menschen in West und Ost die Erkenntnis, dass es dieses lange verdrängte Unrecht in Bautzen II und anderen DDR-Haftanstalten wirklich gegeben hat. Nichts kann es anschaulicher machen als die Berichte von Opfern und Zeitzeugen.


Bilder von Bautzen

Zur Entstehung der

Dokumentation von Rengha Rodewill

Keine noch so detailgenaue Beschreibung, nicht einmal die Schilderung eines Zeitzeugen, kann das persönliche Erleben von Geschichtsstätten ersetzen. Kein Wort vermag eine so tiefe Betroffenheit auszulösen wie der Anblick eines authentischen Ortes. Das gilt bei einem Platz, an dem Menschen leiden mussten, vor allem dann, wenn er noch nicht durch eine gut gemeinte Renovierung für Schaulustige begehbar gemacht wurde. Die Berliner Fotografin Rengha Rodewill erlebte deshalb eine tiefe Erschütterung, als sie 2006 in Potsdam die „Verbotene Stadt“ in der Nauener Vorstadt besuchte. Dort befand sich das Untersuchungsgefängnis der russischen Spionageabwehr, im sogenannten ehemaligen KGB„Militärstädtchen Nr. 7“. Alles war noch im Originalzustand und atmete den Schrecken, der viele Jahre lang in diesen Mauern geherrscht hatte. Die Schicksale der Inhaftierten, der Anblick der Folterzellen und der abstoßenden Räume, in denen die Menschen unter grausamen Haftbedingungen leben mussten, ließen Rengha Rodewill nicht mehr los. Sie beschloss, den Spuren der Häftlinge zu folgen, die hier nach willkürlichen Verhaftungen zu „Nummern“ gemacht wurden, und die Gefängnisse aufzusuchen, in denen man die Verurteilten später einsperrte. Dort wollte sie fotografieren, um mit ihren Bildern die Gewaltherrschaft des DDR-Regimes zu dokumentieren. Walter Jankas Autobiografie „Spuren eines Lebens“ fiel ihr in die Hände. Sie las von dem Unrecht, das an diesem kritischen Kopf begangen worden war, von der KZ- Haft des Jungkommunisten und der Ermordung seines 26-jährigen Bruders Albert unter den Nationalsozialisten bis zu seiner eigenen Inhaftierung als DDR-Kritiker in Erich Mielkes Strafvollzugseinrichtung Bautzen II. Intensiv befasste sich die Künstlerin dann mit den Schicksalen anderer Bautzen-Häftlinge, bei denen es sich nicht um

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Prominente handelte, deren Festnahme Aufmerksamkeit erregt hätte, sondern um einfache DDR-Bürger, die als Gegner der SED angesehen wurden, sowie um Festgenommene aus dem Westen, die z.B. Fluchthilfe geleistet hatten. Weil Bautzen II als einziges Gefängnis der DDR inoffiziell direkt der Staatssicherheit unterstand, waren die Häftlinge der Willkür des Regimes völlig ausgeliefert. Die Berichte der Gefangenen über ihre Festnahme und ihre Haft waren überaus dramatisch und bestürzten die Fotografin zutiefst. Zwar waren die räumlichen Haftbedingungen übel, doch das eigentlich Grausame der Haft in Bautzen II bestand im völligem Ausgeliefertsein der Inhaftierten. Die Gefangenen mussten sich ohne Einspruchsmöglichkeit einem strikten System der Einschüchterung und Unterordnung unterwerfen, das tätliche Übergriffe nicht ausschloss und ihr Wille wurde bei tatsächlichen und vermuteten Widersetzlichkeiten auf brutale Weise gebrochen. Auch Isolationshaft war ein Mittel der Unterwerfung, aber zu den ausgefeiltesten Quälereien gehörte die Arrestzelle. Bei diesem von den Gefangenen so genannten Tigerkäfig handelte es sich um einen engen, vergitterten Raum, innerhalb der Zelle ohne freien Zugang zur Toilette. Damit war es allein der Willkür des Wachpersonals anheimgestellt, die Insassen durch das Verwehren des Toilettengangs bis zum Äußersten zu demütigen. In dem für diese unmenschlichen Verhältnisse verantwortlichen Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in der Berliner Normannenstraße arbeiteten bis zum Ende der DDR 1989 etwa 8.000 Mitarbeiter. Der hermetisch von der Außenwelt abgeriegelte Komplex wurde von bewaffneten Sicherheitskräften geschützt. Nachdem Rengha Rodewill das sogenannte Haus 1 des MfS mit den Amts- und Arbeitsräumen des ehemaligen Ministers

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für Staatssicherheit, Erich Mielke, besichtigt hatte und kurz darauf die Gedenkstätte Bautzen, fing sie damit an, das Konzept für ihre Bilddokumentation zu erarbeiten. Im Jahr 2010 begannen die Fotoarbeiten, wobei eine Schwarzweißfotoserie entstand. Unterstützung hatte sie dabei durch die Leiterin der Gedenkstätte Bautzen, Silke Klewin, und durch die wissenschaftliche Mitarbeiterin Susanne Hattig. Rengha Rodewill möchte als Künstlerin und Fotografin mit dieser Fotodokumentation und den Erlebnisberichten ehemaliger Häftlinge aus dem »Stasi-Gefängnis« Bautzen II zur Erinnerungskultur beitragen. Dieses dunkle Kapitel der deutschen Geschichte sollte niemals totgeschwiegen und vergessen werden.



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Die Idealistische

Heike Waterkotte

DDR-Kritikerin

Geboren 1956 in Wanne-Eickel Acht Monate Untersuchungshaft in Pankow Verurteilt zu 3 Jahren und acht Monaten Haft in Bautzen II

Die DDR besaß in den siebziger Jahren eine gewisse Anziehungskraft für idealistische junge Menschen aus Westdeutschland. Oft glaubten sie, eine andere, bessere Form der Mitmenschlichkeit bei ihren Ostberliner Altersgenossen zu spüren, sie genossen den geistigen Austausch mit ihnen und erlebten, dass viele Äußerlichkeiten auf einmal unwichtig wurden. Dieser Kontrast zu dem als verkrustet empfundenen westlichen Deutschland begeisterte auch Heike Waterkotte. Sie gewann Freunde im Osten und hätte sich damals sogar vorstellen können, in der DDR zu leben. Doch weil sie daran gewöhnt war, Kritik auszusprechen und gegen Missstände anzugehen, wurde die junge Westdeutsche im Machtgefüge des SEDStaats ernster genommen, als sie es sich hätte träumen lassen. Wie ernst, das merkte sie erst, als sich nach der unverhofften Verhaftung eine Tür ohne Klinke hinter ihr schloss. Bis zu diesem Moment hatte sie ihre Festnahme als ziemlich überzogene Aktion belächelt. Aber selbst jetzt rechnete sie noch nicht damit, nur wegen einiger Flugblätter als Strafgefangene in Bautzen zu landen. Heike Waterkotte hatte Ostberlin schon als Jugendliche durch Besuche mit kirchlichen Gruppen kennengelernt. Neu und ungewohnt war die Art der Gespräche mit den anderen jungen Leuten. Über die Unterschiede der beiden Systeme ging es, über die Möglichkeit von Veränderungen und wie man dazu beitragen könnte, dass sich etwas verändert. Nach dem Abitur zog sie 1976 nach Westberlin, um ein freiwilliges soziales Jahr abzuleisten. Politik lag in der Luft. Während sich die Auf bruchsstimmung im Westen bereits seit Jahren in lauten Protesten und Demonstrationen auf der Straße Luft machte, wurden auch in der Ostberliner Jugend politische Diskussionen geführt, nicht so öffentlich wie im Westen, aber ebenfalls heftig. Die Neunzehnjährige besuchte regelmäßig ihre Freunde im Osten und verfasste zusammen mit ihrem damaligen

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Freund eine Petition, als es um die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann aus der DDR ging. Den leicht abgeänderten Text übernahmen die jungen Leute für Flugblätter, die Heike Waterkotte dann im Westen drucken ließ und nach Ostberlin schmuggelte. Doch ihre Freunde wurden beobachtet, während sie die Protestschrift nachts in Briefkästen steckten. Als die vereinbarte Rückmeldung aus dem Osten ausblieb, fürchtete sie sofort, dass etwas geschehen war und wollte sich in Ostberlin Klarheit verschaffen. Sie vertraute darauf, dass man ihr als bundesdeutscher Bürgerin nichts anhaben könne, doch die Festnahme auf dem Bahnhof Friedrichstraße belehrte sie dann eines anderen. In der Pankower Untersuchungshaft hatte sie als Westdeutsche den Vorteil, von einem Mitarbeiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik betreut zu werden, der in Ostberlin seinen Dienstsitz hatte. Auch ihre Eltern, für die sie eine Woche lang als vermisst galt, erfuhren über diesen Weg von ihrer Festnahme. Es hätte auch genau anders kommen können, aber Heike Waterkotte gereichte ihre Jugend zum Vorteil, sowohl bei anderen inhaftierten Frauen als auch bei einem Vernehmer, der auf fast väterliche Art mit ihr diskutierte. Zwar korrekt, aber ruppig und streng gebärdeten sich die Bewacher, erzählt sie heute. Sie bemerkte, dass bei weitem nicht alle Frauen das Gefängnis verkrafteten. Vier Jahre und sechs Monate Haft verlangte der Staatsanwalt, aber das Urteil lautete dann doch nur auf drei Jahre und acht Monate, angeblich wegen ihrer Jugend. Nach einer beängstigenden „Fahrt ins Nirgendwo“ ohne jede Information landete sie vorübergehend in der berüchtigten Magdalenenstraße, dem Stasi-Hauptquartier und wusste noch immer nicht, dass sie nach Bautzen sollte. Sie wusste auch nicht, dass die Markierung ihrer Zellentür

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sie als Mörderin kennzeichnete, sodass die anderen jetzt Abstand hielten. Eine sicherlich gewollte Isolierung. Nach acht Monaten Untersuchungshaft kam sie schließlich in Bautzen II an, brachte die demütigende Leibesvisitation hinter sich und wurde von ihrer freundlichen und hilfsbereiten Zellengenossin aus Pankow in Empfang genommen. „Ich hatte Glück, vielleicht weil ich so jung war und ich hatte Beschützerinnen“, meint Heike Waterkotte heute. Das war überlebenswichtig, denn die Inhaftierten stammten teilweise aus schwierigen Milieus, sodass sie leicht zur gefährdeten, intellektuellen Außenseiterin hätte werden können. Manche schauten erst scheel auf sie. „Wat, Du sprichst hochdeutsch? Wat bist Du denn für eene. . .“ Auf den Rat ihrer Bekannten hin wählte sie die Küchenarbeit statt der Produktion. Eine schwere Arbeit, aber sie verschaffte Bewegungsfreiheit und mehr Möglichkeiten bei der täglichen Kost. Es gelang ihr, Kontakte zu knüpfen. Sie erzählte anderen Frauen Geschichten und Märchen und gab ihnen Französischunterricht, wofür sie sogar Lehrmaterial erhielt. Dennoch wurde die Zeit immer länger und das reale Leben, draußen in Freiheit, rückte in bedrückende Ferne. Die Entlassung, also der Freikauf in den Westen, kam ohne Vorankündigung Ende Mai 1978, über ein Jahr nach dem Urteilsspruch. Sie konnte ihr Leben wieder aufnehmen, studierte in Berlin, wurde jedoch weiterhin bespitzelt. Das Urteil wurde 1993 aufgehoben. Heike Waterkotte arbeitet als Diplom-Sozialpädagogin in Hamburg.



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Die Beharrliche

Heidi Stein

Mutter eines verschwundenen Kindes

Geboren 1951 in Görlitz Verurteilt zu viereinhalb Jahren Haft in Bautzen II

Niemals hätte Heidi Stein es sich träumen lassen, dass sie mit dem DDR-Staat in Konflikt geraten könnte oder gar in Bautzen einsitzen müsste. Zwar war sie weder Mitglied der SED noch der FDJ, aber sie hatte auch nichts gegen den sozialistischen Alltag in der DDR und empfand ihr Leben in Görlitz als glücklich und befriedigend. Das galt für die ganze Familie. Ihre Mutter war eine gefeierte, vielfach ausgezeichnete Genossin, die sich als erste Frau in den Betriebskampfgruppen der DDR einen Namen gemacht hatte, und ihr Mann verfügte als Kraftfahrer in den nahen Kohlegruben über einen „guten Job“, wie man es heute ausdrücken würde. Heidi Stein arbeitete im Kraftwerk Hagenwerder in einem Stadtteil von Görlitz, wo sie als Erzieherin die teilweise noch unter 18 Jahre alten Studentinnen zu betreuen hatte. Einen Ausreiseantrag stellen? Auf diese Idee wäre sie damals gar nicht gekommen. Warum auch? Das galt alles bis zu dem verhängnisvollen Geschehen am 10. März 1979, dem Tag, an dem ihr dreijähriger Sohn Dirk während eines Harzurlaubs spurlos verschwand. Heidi Stein wurde dafür bestraft, dass sie gegenüber den DDR-Behörden darauf bestand, ihr Kind sei entführt worden, und sie kam schließlich nach Bautzen, weil sie sich in ihrer Verzweiflung über Mittelsleute sogar an das westliche Ausland wandte. Bis heute glaubt sie nicht, dass ihr Kind, das sie nur kurz aus den Augen gelassen hatte, verunglückt ist, zumal nie seine Leiche gefunden wurde. Dafür stieß sie im Laufe der Jahre auf immer mehr Unstimmigkeiten, falsche Akteneinträge und rätselhafte Todesfälle im Umfeld des Falls. Schon auffallend früh hatten sich Mitarbeiter der Stasi eingeschaltet und versucht, sie von ihrer Suche und ihrem Verdacht abzubringen. Als sie nach einem vergeblichen Hilferuf an Erich Honecker über Mittelsleute Amnesty International und das Rote Kreuz im Westen informierte und mit

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ihrem Mann einen Ausreiseantrag stellte, besiegelte sie ihr Schicksal in der DDR. Heidi Stein wurde verhaftet und nach Dresden in Stasi-Untersuchungshaft gebracht. „Es war unmenschlich“, berichtet sie heute von diesem halben Jahr voller Demütigungen. Das Ausziehen bis auf die nackte Haut vor einem gaffenden Gremium aus Männern und Frauen, die barschen Verhöre, das Zeigen von Briefen Angehöriger aus der Ferne, ohne dass sie den Text lesen durfte, das beschäftigungslose Dasitzen in der Zelle – und das sind nur ein paar Beispiele. Als ihr die Anklageschrift gezeigt wurde, fühlte sie sich bereits völlig willenlos, sah alles nur noch verschwommen und gab schließlich das Lesen auf. Ihr eigener Anwalt meinte nur kalt: „Das gibt acht bis zwölf Jahre, stellen Sie sich schon mal drauf ein.“ Die Gerichtsverhandlung war dann für Heidi Stein eine Qual, auch wegen ihres verwahrlosten äußeren Erscheinungsbildes. Mangels jeder Pflegemöglichkeit saß sie als Angeklagte da „wie ein Struwwelpeter“ mit ausgewachsener Haarfarbe und in ehemaligen Uniformsachen. Gebannt starrte sie die ganze Zeit auf das große DDR-Emblem, das über dem Richtertisch hing. „Wenn es nur herabfiele“, dachte sie krampfhaft. Das Emblem blieb oben, das Urteil wurde verkündet: Viereinhalb Jahre Haft. Am 8. Mai 1983 kam sie in die Sonderhaftanstalt Bautzen II. Als Heidi Stein verhaftet wurde, wog sie 75 Kilo. Als sie Bautzen nach ihrem Freikauf durch die Bundesrepublik im Jahr 1984 verlassen durfte und in den Westen gelangte, brachte sie noch ganze 48 Kilo auf die Waage. Das wenig ansprechende Essen im Gefängnis kam aus einer grünen Tonne, meist war es Suppe. Gemüse und Obst fehlten bis auf wenige Ausnahmen völlig. Und dann die Kälte. „Es war die eisigste Zelle von allen, in die man mich einsperrte“, erzählt sie. Erst kurz vor der Entlassung

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erhielt sie eine zweite Decke zum Schlafen. Zwar hätte es im Krankheitsfall ärztliche Versorgung gegeben, aber sie wollte, genau wie die anderen Gefangenen, um jeden Preis als gesund gelten. Das eventuelle vorzeitige Ende der Haft hing davon ab, denn wer krank war, konnte bei den Transporten in den Westen nicht mit. Auf diese Freikäufe hofften alle. Als die Wende kam, lebte sie schon seit ein paar Jahren im Westen. Doch die Furcht vor der Stasi saß so tief, dass sie die Grenzöffnung völlig verängstigt erlebte, statt sich darüber zu freuen. Noch bei der Ausreise 1984 hatte man ihr dringend angeraten, das Verschwinden von Dirk im Westen auf sich beruhen zu lassen und ihre Kinder deshalb zunächst als Druckmittel in der DDR zurückbehalten. Als die beiden später folgen durften, begann Heidi Stein jedoch sofort wieder, nach ihrem Sohn zu forschen. Die Grenzöffnung 1989 erleichterte für sie kaum etwas, denn sie stieß in der ehemaligen DDR nur auf altbekannte Gesichter und auf Abwehr. Ihre unermüdliche Aktivität bewirkte lediglich, dass die Medien sich ihres Falls annahmen. Die Katastrophe, die 1979 im Harz begann, hat aber nicht nur das Leben dieser Mutter von Grund auf verändert, sie hat ihr auch ihre Wurzeln genommen. Die Heimatstadt Görlitz ist Heidi Stein fremd geworden. Ihre zuvor in der SED hochgeschätzte Mutter war damals, nach der Festnahme der Tochter, degradiert worden und die alten Nachbarn und Bekannten haben seit dem Ende der DDR nicht umgedacht - sie zeigen kein Verständnis. Dorthin will sie nicht zurück, aber ihren Sohn sucht sie weiter.


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R engha Rodewill

Bautzen II

Keine noch so detailgenaue Beschreibung, nicht einmal die Schilderung eines Zeitzeugen kann das persönliche Erleben von Geschichtsstätten ersetzen. Kein Wort vermag eine so tiefe Betroffenheit auszulösen wie der Anblick eines authentischen Ortes. Die Berliner Fotografin Rengha Rodewill folgt seit Jahren den Spuren politischer Häftlinge in der ehemaligen DDR, die – wie auch in Bautzen II – nach ihren Verhaftungen zu „Nummern“ gemacht wurden. Rengha Rodewill möchte als Künstlerin und Fotografin mit dieser Fotodokumentation und den Erlebnisberichten ehemaliger Häftlinge aus dem „Stasi-Gefängnis“ Bautzen II zur Erinnerungskultur über einen Ort beitragen, der wie kein anderer für die Willkür und das Misstrauen der DDR stand. Herausgekommen sind mehr als 150 einfühlsame wie erschreckende Bilder, die nah an den historischen Ort führen und die Atmosphäre dieses politischen Gefängnisses spürbar werden lassen. Rengha Rodewill, geboren in Hagen/Westf. Lebt in Berlin, arbeitet als Malerin und Fotografin. Seit vielen Jahren ist die Kamera ihr Ausdrucksmittel. Rodewill denkt konzeptionell, in größeren Zusammenhängen und über das Kamerabild hinaus. Begleitende Texte sind von Beginn an Teil ihrer fotografischen Recherche. Rengha Rodewills Bildsprache ist ein Miteinander von Bild, Konzept und Botschaft.

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