Wien Museum Ausstellungskatalog „Wien im Film - Stadtbilder aus 100 Jahren“

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WIEN IM FILM Stadtbilder aus 100 Jahren

WIEN IMSTADTBILDER FILM Hg. v. Christian Dewald, Michael Loebenstein, Werner Michael Schwarz

AUS 100 JAHREN CZERNIN VERLAG CZERNIN VERLAG


Dreharbeiten zu Kassbach – ein Portrait, A 1979


Dreharbeiten zu Kassbach – ein Portrait, A 1979


Wien im Film Stadtbilder aus 100 Jahren

AUSSTELLUNG

KATALOG

364. Sonderausstellung des Wien Museums

Buch und Regie Christian Dewald Michael Loebenstein Werner Michael Schwarz

Herausgeber Christian Dewald Michael Loebenstein Werner Michael Schwarz

Dramaturgische Beratung Alexandra Seibel

Lektorat Julia Teresa Friehs

Wien Museum Karlsplatz 27. Mai – 19. September 2010

Montage Norbert Pfaffenbichler Hauptsponsor des Wien Museums

Schnitt Dariusz Kowalski Bauten Thomas Hamann Grafik Lichtwitz Leinfellner visuelle Kultur KG Produktion Bärbl Schrems

Kooperationspartner

Filmrecherche und ­Rechteklärung Filmarchiv Austria (Ernst Kieninger Armin ­Loacker Peter Spiegel) Postproduktion loop media / Medienwerkstatt Wien (Manfred Neuwirth) Digitalisierung Filmarchiv Austria (Erich Loibner Karoline Pfeiffer) Dariusz Kowalski ­ Michael Loebenstein

Gestaltung Lichtwitz Leinfellner visuelle Kultur KG (Markus Göbl Kriso ­Leinfellner Stefanie Lichtwitz Marina ­Strasser Lisa Weißenberger) Herstellungsleitung Czernin Verlag (Burghard List) Druck Holzhausen Druck GmbH Schrifttypen Replica (Norm) Franklin Antiqua Papier Claro2 gloss, 350g, 150 g Munken Print white, 115 g © 2010 Czernin Verlag GmbH und Wien Museum ISBN Hardcover 978-3-7076-0337-8 ISBN Broschur 978-3-7076-0336-1

Audiovisuelle Medien c:a:t x conceptual art ­technologies Aufbau Dekorationsbau Winter Werkstätten Wien Museum Übersetzung Andrew J. Horsfield

Dreharbeiten zum Bollywoodfilm Namo Venkatesha am Maria-Theresien-Platz, 2009


Wien im Film Stadtbilder aus 100 Jahren

AUSSTELLUNG

KATALOG

364. Sonderausstellung des Wien Museums

Buch und Regie Christian Dewald Michael Loebenstein Werner Michael Schwarz

Herausgeber Christian Dewald Michael Loebenstein Werner Michael Schwarz

Dramaturgische Beratung Alexandra Seibel

Lektorat Julia Teresa Friehs

Wien Museum Karlsplatz 27. Mai – 19. September 2010

Montage Norbert Pfaffenbichler Hauptsponsor des Wien Museums

Schnitt Dariusz Kowalski Bauten Thomas Hamann Grafik Lichtwitz Leinfellner visuelle Kultur KG Produktion Bärbl Schrems

Kooperationspartner

Filmrecherche und ­Rechteklärung Filmarchiv Austria (Ernst Kieninger Armin ­Loacker Peter Spiegel) Postproduktion loop media / Medienwerkstatt Wien (Manfred Neuwirth) Digitalisierung Filmarchiv Austria (Erich Loibner Karoline Pfeiffer) Dariusz Kowalski ­ Michael Loebenstein

Gestaltung Lichtwitz Leinfellner visuelle Kultur KG (Markus Göbl Kriso ­Leinfellner Stefanie Lichtwitz Marina ­Strasser Lisa Weißenberger) Herstellungsleitung Czernin Verlag (Burghard List) Druck Holzhausen Druck GmbH Schrifttypen Replica (Norm) Franklin Antiqua Papier Claro2 gloss, 350g, 150 g Munken Print white, 115 g © 2010 Czernin Verlag GmbH und Wien Museum ISBN Hardcover 978-3-7076-0337-8 ISBN Broschur 978-3-7076-0336-1

Audiovisuelle Medien c:a:t x conceptual art ­technologies Aufbau Dekorationsbau Winter Werkstätten Wien Museum Übersetzung Andrew J. Horsfield

Dreharbeiten zum Bollywoodfilm Namo Venkatesha am Maria-Theresien-Platz, 2009


BEITRÄGE

Stadt und Film

Die Stadt als Hauptdarstellerin Vorwort

Wolfgang Kos

12

Erzählte Stadt, gefilmtes Wien Der Stadtraum als Handlungsraum im österreichischen und internationalen Kino

Glas im Film Die Stadt als Projektionsfläche des Begehrens

Klaus Neundlinger

Christian Dewald Michael Loebenstein Werner Michael Schwarz

8

18

Wien Film

Der Wiener Film – bekannt, mit unbekannten Variablen

Armin Loacker

86

70

Wien im Auftakt Stadtansichten und urbane Räume als Opener

Ein Schuss Mondänität Die Phantasmagorie eines „amerikanischen“ Wien in Schlagerfilmen der 1930er-Jahre

Sándor Békési

Siegfried Mattl

38

Ausweitung der Ampelphasen Drehen in Wien und Wien als zeit­genössischer Filmschauplatz

92

Stein des Anstoßes Zum nationalsozialistischen Lueger-Bild in Wien 1910

Vrääth Öhner

Joachim Schätz

100

44

Burghof und Hofburg Wien als Bricolage in Der junge Medardus

DéjàWien Spuren des Wienerischen im Exil

Michael Omasta

Gerhard Vana

Wiener Personal

54

108

Hofburg / Hollywood Imperiale Schauplätze bei Erich von Stroheim und Ernst Lubitsch

Andreas Nierhaus

Süßes Mädel, bittere Erfahrung Zum Topos einer Wiener Frauenfigur im internationalen Kino

Alexandra Seibel

60

Lustvolles Drehen, gefährliches Schlingern Wien, der Walzer und das Kino

Martina Nußbaumer

26

Wiener Wut Über den Affekt der Erregung in neueren österreichischen Spielfilmen

Dominik Kamalzadeh

124

Vergänglich, flüchtig, verräterisch, unstet Bilder vom Glück in Filmen aus Wien

Alexandra Seitz

132

Béla Rásky

118

Endstation 1935

AUSSTELLUNG

FILMOGRAFIE

Wien im Film Stadtbilder aus 100 Jahren

253

Eine chronologische Übersicht der gezeigten Filme

I. Wie inszeniert das Kino die Stadt? Tempo, Licht, Kulisse

290

Filmregister

II. Wiener Milieus Zwischen Palais und sozialem Abgrund

292

Leihgeber Dank Bildnachweis

Metropole / Nekropole / Normalität

180

138

In der Stadt, in der Zeit Wien als Gedächtnisraum und Geschichtstreffpunkt in Scorpio und anderen Krimis um 1970

Drehli Robnik

Gefahrenpool Wien Die Schattenseiten einer Stadt – eine Momentaufnahme im Film der Nachkriegsära

Karin Moser

154

Form als Protest Stichproben Wiens im Avantgardefilm

Elisabeth Büttner

162

Geschichten aus der überberuhigten Zone

Isabella Reicher

146

„Unsere Würschtel“ Einfacher Sinn für das Wahre: Das Volk in österreichischen Filmen des 20. Jahrhunderts

Bert Rebhandl

170

184

200

206

216

224

238

242

248

III. Topografie des Gefühls Liebe, Zuflucht und Verzweiflung IV. Wiener Blut Das Klischee der Walzerstadt V. Wiener Herz Idylle und Ausbruch VI. Topografie des Ver­borgenen Wien im Kalten Krieg VII. Mit skeptischem Blick Unbehagen an der Nachkriegsordnung VIII. Ins Offene Wo ist Wien?


BEITRÄGE

Stadt und Film

Die Stadt als Hauptdarstellerin Vorwort

Wolfgang Kos

12

Erzählte Stadt, gefilmtes Wien Der Stadtraum als Handlungsraum im österreichischen und internationalen Kino

Glas im Film Die Stadt als Projektionsfläche des Begehrens

Klaus Neundlinger

Christian Dewald Michael Loebenstein Werner Michael Schwarz

8

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Wien Film

Der Wiener Film – bekannt, mit unbekannten Variablen

Armin Loacker

86

70

Wien im Auftakt Stadtansichten und urbane Räume als Opener

Ein Schuss Mondänität Die Phantasmagorie eines „amerikanischen“ Wien in Schlagerfilmen der 1930er-Jahre

Sándor Békési

Siegfried Mattl

38

Ausweitung der Ampelphasen Drehen in Wien und Wien als zeit­genössischer Filmschauplatz

92

Stein des Anstoßes Zum nationalsozialistischen Lueger-Bild in Wien 1910

Vrääth Öhner

Joachim Schätz

100

44

Burghof und Hofburg Wien als Bricolage in Der junge Medardus

DéjàWien Spuren des Wienerischen im Exil

Michael Omasta

Gerhard Vana

Wiener Personal

54

108

Hofburg / Hollywood Imperiale Schauplätze bei Erich von Stroheim und Ernst Lubitsch

Andreas Nierhaus

Süßes Mädel, bittere Erfahrung Zum Topos einer Wiener Frauenfigur im internationalen Kino

Alexandra Seibel

60

Lustvolles Drehen, gefährliches Schlingern Wien, der Walzer und das Kino

Martina Nußbaumer

26

Wiener Wut Über den Affekt der Erregung in neueren österreichischen Spielfilmen

Dominik Kamalzadeh

124

Vergänglich, flüchtig, verräterisch, unstet Bilder vom Glück in Filmen aus Wien

Alexandra Seitz

132

Béla Rásky

118

Endstation 1935

AUSSTELLUNG

FILMOGRAFIE

Wien im Film Stadtbilder aus 100 Jahren

253

Eine chronologische Übersicht der gezeigten Filme

I. Wie inszeniert das Kino die Stadt? Tempo, Licht, Kulisse

290

Filmregister

II. Wiener Milieus Zwischen Palais und sozialem Abgrund

292

Leihgeber Dank Bildnachweis

Metropole / Nekropole / Normalität

180

138

In der Stadt, in der Zeit Wien als Gedächtnisraum und Geschichtstreffpunkt in Scorpio und anderen Krimis um 1970

Drehli Robnik

Gefahrenpool Wien Die Schattenseiten einer Stadt – eine Momentaufnahme im Film der Nachkriegsära

Karin Moser

154

Form als Protest Stichproben Wiens im Avantgardefilm

Elisabeth Büttner

162

Geschichten aus der überberuhigten Zone

Isabella Reicher

146

„Unsere Würschtel“ Einfacher Sinn für das Wahre: Das Volk in österreichischen Filmen des 20. Jahrhunderts

Bert Rebhandl

170

184

200

206

216

224

238

242

248

III. Topografie des Gefühls Liebe, Zuflucht und Verzweiflung IV. Wiener Blut Das Klischee der Walzerstadt V. Wiener Herz Idylle und Ausbruch VI. Topografie des Ver­borgenen Wien im Kalten Krieg VII. Mit skeptischem Blick Unbehagen an der Nachkriegsordnung VIII. Ins Offene Wo ist Wien?


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Kino, zwischen fröhlichem Schwank und lakonischem Realismus. Die ausgewählten Szenen und Passagen führen zumeist in den Außenraum der Stadt, in prachtvolle Straßen und idyllische Gasserl, in Schlossparks und Schanigärten, in den bunten Prater und in graue Industriebrachen. Aber auch in typische Innenräume als Szenenbilder für sozi­ale Interaktion, ob imperialer Ballsaal oder Stiegen­haus mit Bassenamief. Die Stadt ist gewissermaßen Hauptdarstellerin der Ausstellung Wien im Film oder zeigt sich zumindest in starken Nebenrollen. Daraus ergibt sich, in Form einer Collage von Großprojektionen, die von den BesucherInnen durchwandert wird, eine zugleich stadthistorische und mediengeschicht­ liche Anthologie. Das erlaubt interessante Langzeitvergleiche von Stadt­gestalt und Stadtbild: Welche Orte galten wann als repräsentativ für Wien? Entsprechen die Schauplätze in Wien-­ Filmen der Motivpalette eines Ansichtskartenständers oder finden sich auch unerwartete Kontrastbilder? Sind die Sehenswürdigkeiten immer noch die gleichen wie vor 90 Jahren? Wie veränderten sich Stadtraum und Straßenleben im Lauf eines Jahrhunderts? Wie stark hat Modernes wie die Motor­isierung das Erscheinungsbild der Großstadt verändert? Oder wurde im Wien des Kinos die Dynamik des Fortschritts kaschiert zugunsten einer Beschwörung des schon Veralteten? Ist Wien in jüngster Zeit dezentraler geworden, hat das Kino auch für die Randwanderung hinaus an die Peripherie gültige Bilder gefunden?

Wolfgang Kos

Die Stadt als Haupt­darstellerin Vorwort Die Ausstellung zeigt exemplarische Sequenzen aus rund 80 österreichischen und internationalen Spielfilmen, von der Stummfilmzeit bis heute, von Erich von Stroheim oder Willi Forst bis Richard Linklater oder Barbara Albert. Berühmte Filme, deren Images in die Stadterinnerung oder in das Außenbild Wiens einflossen, sind ebenso vertreten wie fast unbekannte. Autorenfilme ebenso wie Genrefilme, künstlerisch hoch­wertige ebenso wie solche, die vor allem populäre Klischees bedienten. Manche schauen der Stadt nur schnell über die Schulter, andere führen in ihr Herz oder gehören in die Rubrik „Wien-Filme“, deren Spektrum vom

süßlichen Kleinbürgermelodram bis zum Dritten Mann reicht, in dem Wien zumindest als düstermorbide Kulisse emotionaler Handlungsträger ist. Bei aller Unterschiedlichkeit ist den von den Kuratoren ausgewählten Filmen gemeinsam, dass sie Bilder von Wien bzw. „Wien“ enthalten. Um diesen sich in Anführungszeichen ausdrückenden Unterschied zwischen realer Stadt und filmspezifisch inszenierter ‚fiktionaler‘ Stadt geht es vor allem, und damit auch um unterschied­liche Spielarten von Stadtwahrnehmung und deren Wandel zwischen Expressionismus und modernem Action-

Doch die Abfolge der Filmausschnitte weist über topografische Evidenz hinaus. Sie bietet zum Beispiel Material zur Frage, wie repräsen­tative und publikumswirksame Wienbilder vom Kino konstruiert, etabliert, klischeehaft variiert wurden – oder aber konterkariert und dekonstruiert. Da typische Milieus und Figuren des Wiener Films stadträumlich ver­ortet werden, ergibt sich auch eine Art Soziogeo­grafie des „Wienerischen“: die Stadt als atmos­phärische Rahmung von Schicksalen und Stimmungen, wobei es für verliebte Küsse ebenso spezifische Orte zu geben scheint wie für Schlägereien oder Depressionen. Das alles

ist nicht statisch, denn die Bedeutung von Orten verschiebt sich ebenso wie ihre emotionale Auf­ ladung und symbolische Codierung. 100 Jahre Wien im Film – das ist auch eine Reise durch die Mentalitätsgeschichte der Stadt.

Stadtmythen Laurie Andersons Mittelwesten. René Clairs Paris. Paul Austers New York. Bob Dylans mythologisierter Highway 61. Aki Kaurismäkis Helsinki. Graham Greenes ruinöses Nachkriegswien. Fast in alle bedeutenden Kunstwerke, ob high oder low culture, sind die Spuren, die Atmosphäre, die Energie oder die Textur unverwechselbarer Orte eingeschrieben. Oft kreieren Kunstwerke erst die Orte, mit denen sie zusammenwachsen. Suggestives Potenzial haben vor allem breit zirkulierende Bilder, Foto­ grafien, Filme oder TV-Serien. Die springenden Autos auf den Straßen von San Francisco. Pariser Liebespaare an der Seine. Woody Allens Manhattan. Im Fall von New York oder Paris ist längst nicht mehr unterscheidbar, was real ist und was Über­ höhung und Typisierung. Davon lebt der Tourismus. Auch Wien ist eine Stadt, an deren Außenwirkung neben Musik vor allem Medienbilder großen Anteil haben. Lange Zeit ließen sich mit Kaiser-Klimbim und Walzerseligkeit wirksame Film­geschichten erzählen, eingebettet in den Mythos Wien als Stadt der Liebe und Musik. Filmförderung war in Wien häufig Tourismusförderung, doch im internationalen Kino hatte Wien in den letzten Jahrzehnten nur mehr wenige große Auftritte. Ein überraschender, weil nicht auf die nostalgische Stadt bezogener Wien-Film war zum Beispiel Before Sunrise des jungen Amerikaners Richard Linklater. Dennoch intensivierte sich die nicht selten aggressive und kritische filmische Auseinandersetzung mit Wien und den seelischen Zuständen seiner Bevölkerung. Dafür stehen Namen wie Patzak, Novotny, Albert, Seidl oder Spielmann. Diese Ausstellung macht nur Sinn, weil es in Wien heute starke und rele­vante zeitgenössische Filmbilder des Städtischen gibt. Damit ist sie auch eine Hommage an die wieder­ belebte Filmstadt Wien.


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Kino, zwischen fröhlichem Schwank und lakonischem Realismus. Die ausgewählten Szenen und Passagen führen zumeist in den Außenraum der Stadt, in prachtvolle Straßen und idyllische Gasserl, in Schlossparks und Schanigärten, in den bunten Prater und in graue Industriebrachen. Aber auch in typische Innenräume als Szenenbilder für sozi­ale Interaktion, ob imperialer Ballsaal oder Stiegen­haus mit Bassenamief. Die Stadt ist gewissermaßen Hauptdarstellerin der Ausstellung Wien im Film oder zeigt sich zumindest in starken Nebenrollen. Daraus ergibt sich, in Form einer Collage von Großprojektionen, die von den BesucherInnen durchwandert wird, eine zugleich stadthistorische und mediengeschicht­ liche Anthologie. Das erlaubt interessante Langzeitvergleiche von Stadt­gestalt und Stadtbild: Welche Orte galten wann als repräsentativ für Wien? Entsprechen die Schauplätze in Wien-­ Filmen der Motivpalette eines Ansichtskartenständers oder finden sich auch unerwartete Kontrastbilder? Sind die Sehenswürdigkeiten immer noch die gleichen wie vor 90 Jahren? Wie veränderten sich Stadtraum und Straßenleben im Lauf eines Jahrhunderts? Wie stark hat Modernes wie die Motor­isierung das Erscheinungsbild der Großstadt verändert? Oder wurde im Wien des Kinos die Dynamik des Fortschritts kaschiert zugunsten einer Beschwörung des schon Veralteten? Ist Wien in jüngster Zeit dezentraler geworden, hat das Kino auch für die Randwanderung hinaus an die Peripherie gültige Bilder gefunden?

Wolfgang Kos

Die Stadt als Haupt­darstellerin Vorwort Die Ausstellung zeigt exemplarische Sequenzen aus rund 80 österreichischen und internationalen Spielfilmen, von der Stummfilmzeit bis heute, von Erich von Stroheim oder Willi Forst bis Richard Linklater oder Barbara Albert. Berühmte Filme, deren Images in die Stadterinnerung oder in das Außenbild Wiens einflossen, sind ebenso vertreten wie fast unbekannte. Autorenfilme ebenso wie Genrefilme, künstlerisch hoch­wertige ebenso wie solche, die vor allem populäre Klischees bedienten. Manche schauen der Stadt nur schnell über die Schulter, andere führen in ihr Herz oder gehören in die Rubrik „Wien-Filme“, deren Spektrum vom

süßlichen Kleinbürgermelodram bis zum Dritten Mann reicht, in dem Wien zumindest als düstermorbide Kulisse emotionaler Handlungsträger ist. Bei aller Unterschiedlichkeit ist den von den Kuratoren ausgewählten Filmen gemeinsam, dass sie Bilder von Wien bzw. „Wien“ enthalten. Um diesen sich in Anführungszeichen ausdrückenden Unterschied zwischen realer Stadt und filmspezifisch inszenierter ‚fiktionaler‘ Stadt geht es vor allem, und damit auch um unterschied­liche Spielarten von Stadtwahrnehmung und deren Wandel zwischen Expressionismus und modernem Action-

Doch die Abfolge der Filmausschnitte weist über topografische Evidenz hinaus. Sie bietet zum Beispiel Material zur Frage, wie repräsen­tative und publikumswirksame Wienbilder vom Kino konstruiert, etabliert, klischeehaft variiert wurden – oder aber konterkariert und dekonstruiert. Da typische Milieus und Figuren des Wiener Films stadträumlich ver­ortet werden, ergibt sich auch eine Art Soziogeo­grafie des „Wienerischen“: die Stadt als atmos­phärische Rahmung von Schicksalen und Stimmungen, wobei es für verliebte Küsse ebenso spezifische Orte zu geben scheint wie für Schlägereien oder Depressionen. Das alles

ist nicht statisch, denn die Bedeutung von Orten verschiebt sich ebenso wie ihre emotionale Auf­ ladung und symbolische Codierung. 100 Jahre Wien im Film – das ist auch eine Reise durch die Mentalitätsgeschichte der Stadt.

Stadtmythen Laurie Andersons Mittelwesten. René Clairs Paris. Paul Austers New York. Bob Dylans mythologisierter Highway 61. Aki Kaurismäkis Helsinki. Graham Greenes ruinöses Nachkriegswien. Fast in alle bedeutenden Kunstwerke, ob high oder low culture, sind die Spuren, die Atmosphäre, die Energie oder die Textur unverwechselbarer Orte eingeschrieben. Oft kreieren Kunstwerke erst die Orte, mit denen sie zusammenwachsen. Suggestives Potenzial haben vor allem breit zirkulierende Bilder, Foto­ grafien, Filme oder TV-Serien. Die springenden Autos auf den Straßen von San Francisco. Pariser Liebespaare an der Seine. Woody Allens Manhattan. Im Fall von New York oder Paris ist längst nicht mehr unterscheidbar, was real ist und was Über­ höhung und Typisierung. Davon lebt der Tourismus. Auch Wien ist eine Stadt, an deren Außenwirkung neben Musik vor allem Medienbilder großen Anteil haben. Lange Zeit ließen sich mit Kaiser-Klimbim und Walzerseligkeit wirksame Film­geschichten erzählen, eingebettet in den Mythos Wien als Stadt der Liebe und Musik. Filmförderung war in Wien häufig Tourismusförderung, doch im internationalen Kino hatte Wien in den letzten Jahrzehnten nur mehr wenige große Auftritte. Ein überraschender, weil nicht auf die nostalgische Stadt bezogener Wien-Film war zum Beispiel Before Sunrise des jungen Amerikaners Richard Linklater. Dennoch intensivierte sich die nicht selten aggressive und kritische filmische Auseinandersetzung mit Wien und den seelischen Zuständen seiner Bevölkerung. Dafür stehen Namen wie Patzak, Novotny, Albert, Seidl oder Spielmann. Diese Ausstellung macht nur Sinn, weil es in Wien heute starke und rele­vante zeitgenössische Filmbilder des Städtischen gibt. Damit ist sie auch eine Hommage an die wieder­ belebte Filmstadt Wien.


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Wolfgang Kos: Vorwort

Wien-Klassiker und Abseitiges Es gibt Filme, die in einer Ausstellung mit Wien­ bildern einfach vorkommen müssen. Allerdings gibt es keine kanonisierte und über Jahre hinweg liebevoll gepflegte Liste à la Die 100 besten Alben der Rockgeschichte. Deshalb war die Auswahl der Filme ein ziemlich offenes Spiel. Es sind auch viele dabei, die man nur vom Hörensagen oder gar nicht kennt – oder deren Einbeziehung ins Themenfeld Wien überrascht. Jedenfalls gab es in den Monaten der Ausstellungsvorbereitung viele Listen, beinahe 300 Filme wurden gesichtet, gut 200 kamen in die engere Auswahl. Mindestens so entscheidend wie Qualität, filmgeschichtlicher Stellenwert und Beispielstatus im Spiegelkabinett der WienKlischees war, wie aussagekräftig sie für die schließlich definierten Themen sind. Bestimmend war aber vor allem, ob es in den Filmen starke Ausschnitte gibt, die auch Eigenwert haben und filmästhetisch ‚funktionieren‘. Eine Ausstellung ist ja kein Filmfestival, sondern eine begehbare Anthologie von repräsentativen ‚Clips‘, die manch­ mal nicht einmal eine Minute lang sind. Und ein Ausstellungsraum sollte nie suggerieren, ein Kinoraum zu sein, denn der Reiz liegt ja gerade darin, dass die geläufige Kinosituation umgedreht wird. Nicht nur die Bilder sind in Bewegung, sondern auch die BesucherInnen. Film als Material einer Rauminszenierung. Und wenn man nun doch wissen will: Welche Filme sind für die Entwicklung von Wien-Images essenziell? Wir haben einige Filmexperten ein­ geladen, Listen mit markanten Wien-Sequenzen zusammenzustellen. Manche passten, weil sie sich keinen Gesamtüberblick über 100 Jahre anmaßen wollten. Einige ließen sich auf das Spiel ein, zum Beispiel Alexander Horwath (Österreichisches Filmmuseum): Als Kriterien für die Auswahl nannte er „die insgesamte Wien-Gesättigtheit“ der Filme und ihre „allgemeine Qualität“. Weitere Regel: nur ein Film pro Regisseur. Hier seine Top Ten: The Wedding March (R: Erich von Stroheim, 1928), Die Ausgesperrten (R: Franz Novotny, 1982), Liebelei (R: Max Ophüls, 1933), Schwitzkasten (R: John Cook, 1978), Ein Walzertraum (R: Ludwig

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Berger, 1925), The Case of Lena Smith (F: Josef von Sternberg, 1929), Vorstadtvarieté (R: Werner ­Hochbaum, 1935), Hundstage (R: Ulrich Seidl, 2001), The Third Man (R: Carol Reed, 1949), Der Komödiant von Wien (R: Karl Paryla, 1954). Auch Barbara Pichler, Intendantin der Grazer Diagonale, nannte eine Mischung aus Klassikern wie The Third Man, Barbara Alberts Nordrand oder Franz Novotnys Exit … nur keine Panik und Speziellerem wie Wien retour von Ruth Becker­ mann und Josef Aichholzer, Lufträume von Fridolin Schönwiese oder Angeschwemmt von Nikolaus Geyrhalter aus 1994: „Die Donau, nicht schön und auch nicht blau, aber doch der Fluss, der die Stadt prägt.“ Hans Langsteiner, langjähriger Film­­ experte von Ö1, wies lieber „auf ein paar abseitigere Wien-Filme“ hin, etwa The Boys from Brazil mit einer von Laurence Olivier gespielten SimonWiesenthal-Figur auf einer Tramway-Fahrt um die Ringstraße, „zu der Jerry Goldsmith einen schrägen Walzer komponiert hat“. Oder auf Lo Strangolatore di Vienna (Der Würger kommt auf leisen Socken) aus 1971 mit einem mordenden Fleischhauer, der seine Opfer zu Frankfurtern verarbeitet, die er mit seinem schäbigen Wurst­ wagen vor Schloss Schönbrunn anbietet. Der Historiker Gernot Heiß unterstrich die Bedeutung Wiens im Agentenfilm und nannte Scorpio, Avec la peau des autres, Permission to Kill und Firefox, in dem Wien für Moskau herhalten musste.

Experimentelle Ausstellung Für ein historisches Museum handelt es sich um eine ungewöhnliche, durchaus experimentelle Ausstellung. Denn es gibt keine materiellen Exponate, weder Filmkameras auf Sockeln noch Kinoprogramme in Vitrinen oder Plakate oder Fotos an den Wänden. Entlang des sich über zwei Geschoße erstreckenden Parcours findet das Auge ausschließlich auf abgehängte Projektionswände projizierte, also nicht auf ‚körperlichen‘ Monitoren wiedergegebene Filmausschnitte. Auch die auf hinterleuchteten Boxen angebrachten Kapiteltexte betonen die Immaterialität.

Doch selbst wenn „Dingobjekte“ mit ihrer speziel­ len Aura fehlen, sollte man sich nicht täuschen lassen: Nach 100 Jahren Filmgeschichte sind natürlich auch bewegte Bilder aus Licht authen­ tische, reale Exponate. Die Institution Museum hat – mit Ausnahme von spezialisierten „Film­­ museen“ – lange nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass Filme für die Bildgeschichte des 20. Jahr­hunderts ebenso wichtig sind wie Ölbilder oder Plakate. Während diese penibel in den Katalogen als Ausstellungsobjekte mit allen technischen Angaben vermerkt werden, fehlten und fehlen in Ausstellungen gezeigte Filmaus­ schnitte zumeist. Lange Zeit liefen Filme im Museum in der Sonderkategorie „Medienstation“, als nette, zeitgemäße Ergänzung zur ‚echten‘ Museumsware in Vitrinen und an Wänden. In Ausstellungen des Wien Museums, von Großer Bahnhof über 2000 Jahre Karlsplatz – da mischte sich die Verfolgungsjagd von Burt Lancaster und Alain Delon in der U-Bahn-Baustelle (Scorpio) in den Materialmix aus Kunst und Alltagsobjekten – bis Kampf um die Stadt, hatten in den letzten Jahren Spiel­filme immer wieder große Auftritte und dienten als Leit- und Schlüsselobjekte. Medien­geschichte und Stadtgeschichte sind untrennbar miteinander verbunden.

Der Weg zur Ausstellung und Dank Die Initialzündung, eine Ausstellung mit Wien-­ Filmen zu machen, kam von Werner Michael Schwarz, Filmhistoriker und Kurator am Wien Museum. Bald war klar, dass es keine konventio­ nelle kulturhistorische Ausstellung werden sollte, sondern eine, die ausschließlich aus Filmbildern besteht. Um nicht ins Uferlose zu geraten, wurden Dokumentar- und Fernsehfilme exkludiert. Zum Glück gibt es auch einen Kottan als Kinofilm. Wir einigten uns, dass die Filmbilder die Stadtgeschichte nicht bloß illustrieren, sondern eine eigene, film­ spezifische Geschichte erzählen sollten. Ein Zitat von Schwarz aus einem frühen Konzeptpapier: „Mit jedem neuen Blick auf die Stadt ist in der Regel im­ mer auch ein neuer Blick auf das Kino und seine bis dahin üblichen Darstellungen der Stadt intendiert.“

Konzept und Auswahl lagen schließlich bei einem Kuratorenteam, bestehend aus drei ausgewiesenen Filmhistorikern mit hoher Kompetenz für das historische Kino: Christian Dewald und Michael Loebenstein als Gastkuratoren und Werner Michael Schwarz als Hauskurator. Ihr Arbeitspensum war enorm, mit großer Sorgfalt und Improvisations­ bereitschaft entwickelten sie Ausstellungsnarrativ und Film-Mix. Ihnen gilt ganz besonderer Dank. Es war klar, dass eine derartig ungewohnte Ausstellung auch an Architekten, Grafiker und Mediengestalter besondere Anforderungen stellt (Licht, Akustik, Textverortung). Einerseits sollten die Räume möglichst offen bleiben (keine „Videokobel“, wie man sie aus Kunstausstellungen kennt!), andererseits waren subtile Regiemaß­ nahmen notwendig, um für die BesucherInnen möglichst schöne Erlebnissituationen zu bieten. Mein Dank gilt Thomas Hamann (Raumge­staltung), Lichtwitz Leinfellner visuelle Kultur KG (Grafik), Norbert Pfaffenbichler (Montage der Fundstücke), Dariusz Kowalski (Schnitt). Die Produktionsleitung lag in den bewährten Händen von Bärbl Schrems, die zum Teil sehr schwierige Beschaffung der Film- und Fotorechte sowie der Kopien bei Armin Loacker, Marlis Schmidt und Peter Spiegel vom Filmarchiv Austria. Über den Arbeitsauftrag hinaus unterstützte uns das Filmarchiv in der Person von Ernst Kieninger auf vielfältige Weise. Weitere wichtige Kooperationspartner sind das Österreichische Filmmuseum und das Filmfestival Kino unter Sternen. Wir haben versucht, das die Ausstellung beglei­ tende Katalogbuch so zu gestalten, dass es auch für die Zukunft Informationsspeicher sein kann. Die Grafik von Lichtwitz Leinfellner ist ein Garant dafür, dass nicht nur ein Lese-, sondern auch ein Schau-Buch vorgelegt werden kann. Ich danke den AutorInnen für ihre Beiträge und Christian Dewald, Michael Loebenstein und Werner Michael Schwarz für die Herausgeber­schaft. Einmal mehr kam es zu einer guten Zusammen­arbeit mit dem Czernin Verlag.

Wolfgang Kos ist Direktor des Wien Museums.


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Wolfgang Kos: Vorwort

Wien-Klassiker und Abseitiges Es gibt Filme, die in einer Ausstellung mit Wien­ bildern einfach vorkommen müssen. Allerdings gibt es keine kanonisierte und über Jahre hinweg liebevoll gepflegte Liste à la Die 100 besten Alben der Rockgeschichte. Deshalb war die Auswahl der Filme ein ziemlich offenes Spiel. Es sind auch viele dabei, die man nur vom Hörensagen oder gar nicht kennt – oder deren Einbeziehung ins Themenfeld Wien überrascht. Jedenfalls gab es in den Monaten der Ausstellungsvorbereitung viele Listen, beinahe 300 Filme wurden gesichtet, gut 200 kamen in die engere Auswahl. Mindestens so entscheidend wie Qualität, filmgeschichtlicher Stellenwert und Beispielstatus im Spiegelkabinett der WienKlischees war, wie aussagekräftig sie für die schließlich definierten Themen sind. Bestimmend war aber vor allem, ob es in den Filmen starke Ausschnitte gibt, die auch Eigenwert haben und filmästhetisch ‚funktionieren‘. Eine Ausstellung ist ja kein Filmfestival, sondern eine begehbare Anthologie von repräsentativen ‚Clips‘, die manch­ mal nicht einmal eine Minute lang sind. Und ein Ausstellungsraum sollte nie suggerieren, ein Kinoraum zu sein, denn der Reiz liegt ja gerade darin, dass die geläufige Kinosituation umgedreht wird. Nicht nur die Bilder sind in Bewegung, sondern auch die BesucherInnen. Film als Material einer Rauminszenierung. Und wenn man nun doch wissen will: Welche Filme sind für die Entwicklung von Wien-Images essenziell? Wir haben einige Filmexperten ein­ geladen, Listen mit markanten Wien-Sequenzen zusammenzustellen. Manche passten, weil sie sich keinen Gesamtüberblick über 100 Jahre anmaßen wollten. Einige ließen sich auf das Spiel ein, zum Beispiel Alexander Horwath (Österreichisches Filmmuseum): Als Kriterien für die Auswahl nannte er „die insgesamte Wien-Gesättigtheit“ der Filme und ihre „allgemeine Qualität“. Weitere Regel: nur ein Film pro Regisseur. Hier seine Top Ten: The Wedding March (R: Erich von Stroheim, 1928), Die Ausgesperrten (R: Franz Novotny, 1982), Liebelei (R: Max Ophüls, 1933), Schwitzkasten (R: John Cook, 1978), Ein Walzertraum (R: Ludwig

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Berger, 1925), The Case of Lena Smith (F: Josef von Sternberg, 1929), Vorstadtvarieté (R: Werner ­Hochbaum, 1935), Hundstage (R: Ulrich Seidl, 2001), The Third Man (R: Carol Reed, 1949), Der Komödiant von Wien (R: Karl Paryla, 1954). Auch Barbara Pichler, Intendantin der Grazer Diagonale, nannte eine Mischung aus Klassikern wie The Third Man, Barbara Alberts Nordrand oder Franz Novotnys Exit … nur keine Panik und Speziellerem wie Wien retour von Ruth Becker­ mann und Josef Aichholzer, Lufträume von Fridolin Schönwiese oder Angeschwemmt von Nikolaus Geyrhalter aus 1994: „Die Donau, nicht schön und auch nicht blau, aber doch der Fluss, der die Stadt prägt.“ Hans Langsteiner, langjähriger Film­­ experte von Ö1, wies lieber „auf ein paar abseitigere Wien-Filme“ hin, etwa The Boys from Brazil mit einer von Laurence Olivier gespielten SimonWiesenthal-Figur auf einer Tramway-Fahrt um die Ringstraße, „zu der Jerry Goldsmith einen schrägen Walzer komponiert hat“. Oder auf Lo Strangolatore di Vienna (Der Würger kommt auf leisen Socken) aus 1971 mit einem mordenden Fleischhauer, der seine Opfer zu Frankfurtern verarbeitet, die er mit seinem schäbigen Wurst­ wagen vor Schloss Schönbrunn anbietet. Der Historiker Gernot Heiß unterstrich die Bedeutung Wiens im Agentenfilm und nannte Scorpio, Avec la peau des autres, Permission to Kill und Firefox, in dem Wien für Moskau herhalten musste.

Experimentelle Ausstellung Für ein historisches Museum handelt es sich um eine ungewöhnliche, durchaus experimentelle Ausstellung. Denn es gibt keine materiellen Exponate, weder Filmkameras auf Sockeln noch Kinoprogramme in Vitrinen oder Plakate oder Fotos an den Wänden. Entlang des sich über zwei Geschoße erstreckenden Parcours findet das Auge ausschließlich auf abgehängte Projektionswände projizierte, also nicht auf ‚körperlichen‘ Monitoren wiedergegebene Filmausschnitte. Auch die auf hinterleuchteten Boxen angebrachten Kapiteltexte betonen die Immaterialität.

Doch selbst wenn „Dingobjekte“ mit ihrer speziel­ len Aura fehlen, sollte man sich nicht täuschen lassen: Nach 100 Jahren Filmgeschichte sind natürlich auch bewegte Bilder aus Licht authen­ tische, reale Exponate. Die Institution Museum hat – mit Ausnahme von spezialisierten „Film­­ museen“ – lange nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass Filme für die Bildgeschichte des 20. Jahr­hunderts ebenso wichtig sind wie Ölbilder oder Plakate. Während diese penibel in den Katalogen als Ausstellungsobjekte mit allen technischen Angaben vermerkt werden, fehlten und fehlen in Ausstellungen gezeigte Filmaus­ schnitte zumeist. Lange Zeit liefen Filme im Museum in der Sonderkategorie „Medienstation“, als nette, zeitgemäße Ergänzung zur ‚echten‘ Museumsware in Vitrinen und an Wänden. In Ausstellungen des Wien Museums, von Großer Bahnhof über 2000 Jahre Karlsplatz – da mischte sich die Verfolgungsjagd von Burt Lancaster und Alain Delon in der U-Bahn-Baustelle (Scorpio) in den Materialmix aus Kunst und Alltagsobjekten – bis Kampf um die Stadt, hatten in den letzten Jahren Spiel­filme immer wieder große Auftritte und dienten als Leit- und Schlüsselobjekte. Medien­geschichte und Stadtgeschichte sind untrennbar miteinander verbunden.

Der Weg zur Ausstellung und Dank Die Initialzündung, eine Ausstellung mit Wien-­ Filmen zu machen, kam von Werner Michael Schwarz, Filmhistoriker und Kurator am Wien Museum. Bald war klar, dass es keine konventio­ nelle kulturhistorische Ausstellung werden sollte, sondern eine, die ausschließlich aus Filmbildern besteht. Um nicht ins Uferlose zu geraten, wurden Dokumentar- und Fernsehfilme exkludiert. Zum Glück gibt es auch einen Kottan als Kinofilm. Wir einigten uns, dass die Filmbilder die Stadtgeschichte nicht bloß illustrieren, sondern eine eigene, film­ spezifische Geschichte erzählen sollten. Ein Zitat von Schwarz aus einem frühen Konzeptpapier: „Mit jedem neuen Blick auf die Stadt ist in der Regel im­ mer auch ein neuer Blick auf das Kino und seine bis dahin üblichen Darstellungen der Stadt intendiert.“

Konzept und Auswahl lagen schließlich bei einem Kuratorenteam, bestehend aus drei ausgewiesenen Filmhistorikern mit hoher Kompetenz für das historische Kino: Christian Dewald und Michael Loebenstein als Gastkuratoren und Werner Michael Schwarz als Hauskurator. Ihr Arbeitspensum war enorm, mit großer Sorgfalt und Improvisations­ bereitschaft entwickelten sie Ausstellungsnarrativ und Film-Mix. Ihnen gilt ganz besonderer Dank. Es war klar, dass eine derartig ungewohnte Ausstellung auch an Architekten, Grafiker und Mediengestalter besondere Anforderungen stellt (Licht, Akustik, Textverortung). Einerseits sollten die Räume möglichst offen bleiben (keine „Videokobel“, wie man sie aus Kunstausstellungen kennt!), andererseits waren subtile Regiemaß­ nahmen notwendig, um für die BesucherInnen möglichst schöne Erlebnissituationen zu bieten. Mein Dank gilt Thomas Hamann (Raumge­staltung), Lichtwitz Leinfellner visuelle Kultur KG (Grafik), Norbert Pfaffenbichler (Montage der Fundstücke), Dariusz Kowalski (Schnitt). Die Produktionsleitung lag in den bewährten Händen von Bärbl Schrems, die zum Teil sehr schwierige Beschaffung der Film- und Fotorechte sowie der Kopien bei Armin Loacker, Marlis Schmidt und Peter Spiegel vom Filmarchiv Austria. Über den Arbeitsauftrag hinaus unterstützte uns das Filmarchiv in der Person von Ernst Kieninger auf vielfältige Weise. Weitere wichtige Kooperationspartner sind das Österreichische Filmmuseum und das Filmfestival Kino unter Sternen. Wir haben versucht, das die Ausstellung beglei­ tende Katalogbuch so zu gestalten, dass es auch für die Zukunft Informationsspeicher sein kann. Die Grafik von Lichtwitz Leinfellner ist ein Garant dafür, dass nicht nur ein Lese-, sondern auch ein Schau-Buch vorgelegt werden kann. Ich danke den AutorInnen für ihre Beiträge und Christian Dewald, Michael Loebenstein und Werner Michael Schwarz für die Herausgeber­schaft. Einmal mehr kam es zu einer guten Zusammen­arbeit mit dem Czernin Verlag.

Wolfgang Kos ist Direktor des Wien Museums.


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Erzählte Stadt, ­ gefilmtes Wien Der Stadtraum als ­Handlungsraum im ­österreichischen und ­internationalen Kino Christian Dewald, Michael Loebenstein, Werner Michael Schwarz

Die vom 17er Haus, A 1932

Jesus von Ottakring, A 1976

Die Vier im Jeep, CH 1951

1 Fred Truniger: Wunderbar ­wandelbare Stadt. Thom ­Andersens Los Angeles Plays Itself, in: Cinema, Themenheft Stadt 54 (2009), S. 128.

Die Stadt im Spielfilm ist ein Erzählraum und kein bloßes Abbild des physischen urbanen Raums. In Anlehnung an die Geschichte der ­Malerei könnte man davon sprechen, dass das Medium Film historisch hinter die geometrische Perspektive zurücktritt und ­seine Raumordnung in erster Linie von Bedeutungen in der Erzählung bestimmt wird. Größenverhältnisse und Entfernungen werden mit den spezifischen Mitteln des Kinos, in erster Linie der Montage, verschoben und zu einer für die Erzählung relevanten, jeweils neuen Topografie zusammengesetzt. Die Architektur der Stadt – und hier erscheint der Unterschied unerheblich, ob diese nachgebaut oder vorgefunden ist – wird zumeist nicht in ihrer realen Umgebung, ihrer tatsächlichen Funktion und Dimension gezeigt, sondern in Relation zu den handelnden Figuren und dem Fortgang der Geschichte. Bauwerke oder Straßenzüge greifen über die Art, diese ins Bild zu setzen, auf vielfältige Weise in das Geschehen ein. Sie schaffen für das Publikum Orientierungen in mehrfachem Sinn: Sie charakterisieren Figuren, etablieren Handlungsräume, konturieren Gefühlszustände, verdichten sich zu Spannungslandschaften oder unterstreichen als Attraktionen den Möglichkeitssinn des Kinos. Die Intensität, mit der die Städte jeweils auf die Geschichten einwirken und in Beziehung zu den Figuren treten, weist indes große Unterschiede auf. Das zeigt sich zunächst in historischer Perspektive. Ihre Bedeutung als Handlungsorte differiert in den unterschiedlichen Perioden der Filmgeschichte erheblich. Im US-amerikanischen und europäischen Kino liegen die Schwerpunkte in der Zwischenkriegszeit sowie in den 1970er-Jahren auf der Affinität zwischen Kino und Stadt. Die erste Phase reflektiert die Entfaltung der modernen Städte und eines großstädtischen Alltags, die zweite ihren angenommenen Niedergang. In beiden Fällen steht die Stadt mehr im Allgemeinen zur Disposition und ihr Potenzial für Geschichten in einer tendenziell idealen Zeit- und Raumordnung. Die unterschiedliche Einwirkung der Stadt auf die Erzählung wird vor allem dann sichtbar, wenn es um konkrete Orte geht. Thom Andersen hat in seinem anregenden Filmessay über die Repräsentation der nach seiner Aussage am häufigsten gezeigten Stadt im Kino, Los ­Angeles Plays Itself (USA 2003), drei Kategorien unterschieden. In der Stadt als „Background“ beschränkt sich die Verbindung zur Erzählung vor ­allem auf den Effekt der Wiedererkennung, in der Stadt als ­„Character“ knüpfen die Geschichten hingegen an reale und konkrete Momente der Stadt(geschichte) an. In der Stadt als „Subject“ tritt die gebaute Stadt in den Hintergrund und wirkt über die „sozialen und ­historischen Lebenswirklichkeiten“1 ihrer BewohnerInnen.


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Erzählte Stadt, ­ gefilmtes Wien Der Stadtraum als ­Handlungsraum im ­österreichischen und ­internationalen Kino Christian Dewald, Michael Loebenstein, Werner Michael Schwarz

Die vom 17er Haus, A 1932

Jesus von Ottakring, A 1976

Die Vier im Jeep, CH 1951

1 Fred Truniger: Wunderbar ­wandelbare Stadt. Thom ­Andersens Los Angeles Plays Itself, in: Cinema, Themenheft Stadt 54 (2009), S. 128.

Die Stadt im Spielfilm ist ein Erzählraum und kein bloßes Abbild des physischen urbanen Raums. In Anlehnung an die Geschichte der ­Malerei könnte man davon sprechen, dass das Medium Film historisch hinter die geometrische Perspektive zurücktritt und ­seine Raumordnung in erster Linie von Bedeutungen in der Erzählung bestimmt wird. Größenverhältnisse und Entfernungen werden mit den spezifischen Mitteln des Kinos, in erster Linie der Montage, verschoben und zu einer für die Erzählung relevanten, jeweils neuen Topografie zusammengesetzt. Die Architektur der Stadt – und hier erscheint der Unterschied unerheblich, ob diese nachgebaut oder vorgefunden ist – wird zumeist nicht in ihrer realen Umgebung, ihrer tatsächlichen Funktion und Dimension gezeigt, sondern in Relation zu den handelnden Figuren und dem Fortgang der Geschichte. Bauwerke oder Straßenzüge greifen über die Art, diese ins Bild zu setzen, auf vielfältige Weise in das Geschehen ein. Sie schaffen für das Publikum Orientierungen in mehrfachem Sinn: Sie charakterisieren Figuren, etablieren Handlungsräume, konturieren Gefühlszustände, verdichten sich zu Spannungslandschaften oder unterstreichen als Attraktionen den Möglichkeitssinn des Kinos. Die Intensität, mit der die Städte jeweils auf die Geschichten einwirken und in Beziehung zu den Figuren treten, weist indes große Unterschiede auf. Das zeigt sich zunächst in historischer Perspektive. Ihre Bedeutung als Handlungsorte differiert in den unterschiedlichen Perioden der Filmgeschichte erheblich. Im US-amerikanischen und europäischen Kino liegen die Schwerpunkte in der Zwischenkriegszeit sowie in den 1970er-Jahren auf der Affinität zwischen Kino und Stadt. Die erste Phase reflektiert die Entfaltung der modernen Städte und eines großstädtischen Alltags, die zweite ihren angenommenen Niedergang. In beiden Fällen steht die Stadt mehr im Allgemeinen zur Disposition und ihr Potenzial für Geschichten in einer tendenziell idealen Zeit- und Raumordnung. Die unterschiedliche Einwirkung der Stadt auf die Erzählung wird vor allem dann sichtbar, wenn es um konkrete Orte geht. Thom Andersen hat in seinem anregenden Filmessay über die Repräsentation der nach seiner Aussage am häufigsten gezeigten Stadt im Kino, Los ­Angeles Plays Itself (USA 2003), drei Kategorien unterschieden. In der Stadt als „Background“ beschränkt sich die Verbindung zur Erzählung vor ­allem auf den Effekt der Wiedererkennung, in der Stadt als ­„Character“ knüpfen die Geschichten hingegen an reale und konkrete Momente der Stadt(geschichte) an. In der Stadt als „Subject“ tritt die gebaute Stadt in den Hintergrund und wirkt über die „sozialen und ­historischen Lebenswirklichkeiten“1 ihrer BewohnerInnen.


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Christian Dewald, Michael Loebenstein, Werner Michael Schwarz: Erzählte Stadt, gefilmtes Wien

Von innen und von außen Für Wien als filmischen Erzählraum ergeben sich zunächst zwei zentrale Wahrnehmungsregister. In österreichischen beziehungsweise deutschsprachigen Produktionen erhält Wien eine andere Filmkontur als im internationalen Kino. Das lässt sich als Widerhall der histo­ rischen Zäsuren im 20. Jahrhundert begreifen. In der inter­natio­nalen Perspektive wurde Wien lange Zeit noch mit der Metropole des Kaiserreiches assoziiert und aus dem nationalen, kleinstaatlichen Kontext herausgehoben. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb Wien als Grenzstadt für das Erzählkino attraktiv, in wenigen Fällen wurde die Stadt auch wegen ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit und Gegenwart aufgesucht. Im internationalen Kino wurde das filmische Wien als Erzählraum dominant um einige Motive gebaut, die sich an realen historischen Ereignissen und Figuren orientierten oder die aus literarischen und musikalischen Wien-Imaginationen schöpften. Zu Ersteren zählen Motive aus dem Umkreis des ehemaligen Herrscherhauses, des Adels und der Kirche, die vor allem in den Stumm­filmen des Wien-Emigranten Erich von Stroheim zur Geltung ­kommen, erstaunlich früh seit den 1930er-Jahren auch die Psychoanalyse (oft Gegenstand für Komödien beziehungsweise für die Zuspitzung des Konflikts zwischen ‚alter‘ Feudalordnung und ­Moderne). Bedeutsam ist die Figur des „Wiener Mädels“ oder des Walzers als wichtiger Kultur-Export ­beziehungsweise -Re-Import Wiens. Auch wenn es bei diesen Motiven zu Überschneidungen mit dem deutschsprachigen Kino kommt, so zeigen die Erzählungen in narrativen Details sowie in ihren Relationen zur Stadt gravierende Unterschiede. Die Darstellung des Kaiserhauses, höfisches Zeremoniell oder das Zusammenspiel von Architektur und (Gefühls-)Leben der Charaktere findet sich mit analytischer Schärfe oder bissigem Spott nahezu ausschließlich im Blick von außen. Wobei hier eine zentrale Einschränkung gemacht werden muss. Der Blick von außen war lange Zeit auch einer von innen, da Wien im internationalen Kino vor allem durch den direkten Einfluss von Emigranten als Erzählraum tradiert wurde. Auch die Geschichten aus dem Motivkreis des „Wiener Mädels“ auf der Grundlage der Literatur um 1900 wurden nur hier konsequent weiterentwickelt, sei es ins Tragische (bei Stroheim, Max Ophüls oder Josef von Sternberg), Komische oder Frivole (bei Ernst Lubitsch und Billy Wilder). Das gilt ebenso für den scharfen Blick auf die Stadt in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, der die Beobachtung der ä­ußeren und inneren Verwüstungen so kombinierte, dass der Schmerz über die Verluste in der Regel auch die Frage nach Verantwortung und Schuld miteinschloss. Auch beim Walzer wird die Differenz anschaulich: Im internationalen Kino wird er in der Regel historisiert und auf seine Formensprache untersucht, im deutsch­sprachigen Kino ­erscheint der Walzer tendenziell als eine überzeitliche und

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klassenübergreifende Kraft, die weniger von den Berührungen und ­ egegnungen, sondern von Opulenz und Genie angetrieben wird. B

Blass, zugleich überdeutlich Wien ist im österreichischen beziehungsweise deutschsprachigen Kino lange Zeit blass und zugleich überdeutlich. Blass in dem Sinn, dass die Stadt in ihrer Gestalt, in ihren architektonischen Eigenheiten und Veränderungen, in den sozialen und politischen Zäsuren nur vage durch die filmischen Bilder und Erzählungen hindurchscheint. Im Gegensatz zur privaten Sphäre, die mit viel Detailtreue ausgestattet ist, wird der Außenraum selten explizit einbezogen, erscheint das ­öffentliche Leben oft nur als eine Zone des notwendigen Übergangs. Wiener Geschichten springen häufig von Haus zu Haus, von Wohnung zu Wohnung und zeigen Straßen und Plätze als Zwischenräume oder in malerischen Andeutungen. Überdeutlich in dem Sinn, dass die Stadt trotz ihrer eigentlich ­physischen Absenz dennoch übermächtig das Geschehen und die ­Charaktere disponiert. Wien spielte sich in der Regel in den Vordergrund, mit Ausnahme jener wenigen Filme, in welchen es, wie in den 1920er- und wieder ab den 1950er-Jahren, mehr um Stadt im All­ gemeinen ging, wenn Montagen aus Leuchtreklamen oder Nacht­clubSzenen Großstadt anzeigten oder die Gegenüberstellung von Palais und Elendsquartieren deren soziales Auseinanderbrechen vermittelte. In vielen Wiener Geschichten erscheinen die Relationen zwischen der Erzählung und dem Stadtraum in einer Weise, dass Milieus und Charaktere nicht entwickelt werden, sondern aus dem Raum förmlich herauswachsen, immer schon da sind, nur an diesen Orten möglich erscheinen. Zeitlosigkeit, Stabilität, aber auch – in einem fast bio­ logischen Sinn – Empfindlichkeit und eine ‚natürliche‘ ­Aversion gegen Fremdes sind die Konsequenzen. Die Höfe von Alt-Wien beispiels­ weise, die bis in die 1950er-Jahre eine so große Rolle im Kino spielten, lassen sich als Orte des Kleinbürgertums nur unzulänglich beschreiben, vielmehr vermitteln sie gerade im Zusammenspiel zwischen der räumlichen Disposition und den Figuren Vorstellungen von Liebe, Glück und einer bestimmten idealen (politischen) Ordnung. In den Musikerbiografien, die im österreichischen beziehungsweise deutschsprachigen Kino zunächst in großer Dichte produziert ­wurden (und in den 1950er-Jahren schlagartig verschwinden), erscheint „Alt-Wien“ als ein Ort, dessen Genius direkt auf seine BewohnerInnen übergeht, wobei sie neben ihrer Behaglichkeit auch eingeschränkt ein moder­ nisierendes und gesellschaftsveränderndes Potenzial entfalten können. Nur selten erlaubte sich das Kino in der Hochphase dieser Wien­ erzählungen einen Blick hinter diese stark konservativen, fallweise


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Christian Dewald, Michael Loebenstein, Werner Michael Schwarz: Erzählte Stadt, gefilmtes Wien

Von innen und von außen Für Wien als filmischen Erzählraum ergeben sich zunächst zwei zentrale Wahrnehmungsregister. In österreichischen beziehungsweise deutschsprachigen Produktionen erhält Wien eine andere Filmkontur als im internationalen Kino. Das lässt sich als Widerhall der histo­ rischen Zäsuren im 20. Jahrhundert begreifen. In der inter­natio­nalen Perspektive wurde Wien lange Zeit noch mit der Metropole des Kaiserreiches assoziiert und aus dem nationalen, kleinstaatlichen Kontext herausgehoben. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb Wien als Grenzstadt für das Erzählkino attraktiv, in wenigen Fällen wurde die Stadt auch wegen ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit und Gegenwart aufgesucht. Im internationalen Kino wurde das filmische Wien als Erzählraum dominant um einige Motive gebaut, die sich an realen historischen Ereignissen und Figuren orientierten oder die aus literarischen und musikalischen Wien-Imaginationen schöpften. Zu Ersteren zählen Motive aus dem Umkreis des ehemaligen Herrscherhauses, des Adels und der Kirche, die vor allem in den Stumm­filmen des Wien-Emigranten Erich von Stroheim zur Geltung ­kommen, erstaunlich früh seit den 1930er-Jahren auch die Psychoanalyse (oft Gegenstand für Komödien beziehungsweise für die Zuspitzung des Konflikts zwischen ‚alter‘ Feudalordnung und ­Moderne). Bedeutsam ist die Figur des „Wiener Mädels“ oder des Walzers als wichtiger Kultur-Export ­beziehungsweise -Re-Import Wiens. Auch wenn es bei diesen Motiven zu Überschneidungen mit dem deutschsprachigen Kino kommt, so zeigen die Erzählungen in narrativen Details sowie in ihren Relationen zur Stadt gravierende Unterschiede. Die Darstellung des Kaiserhauses, höfisches Zeremoniell oder das Zusammenspiel von Architektur und (Gefühls-)Leben der Charaktere findet sich mit analytischer Schärfe oder bissigem Spott nahezu ausschließlich im Blick von außen. Wobei hier eine zentrale Einschränkung gemacht werden muss. Der Blick von außen war lange Zeit auch einer von innen, da Wien im internationalen Kino vor allem durch den direkten Einfluss von Emigranten als Erzählraum tradiert wurde. Auch die Geschichten aus dem Motivkreis des „Wiener Mädels“ auf der Grundlage der Literatur um 1900 wurden nur hier konsequent weiterentwickelt, sei es ins Tragische (bei Stroheim, Max Ophüls oder Josef von Sternberg), Komische oder Frivole (bei Ernst Lubitsch und Billy Wilder). Das gilt ebenso für den scharfen Blick auf die Stadt in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, der die Beobachtung der ä­ußeren und inneren Verwüstungen so kombinierte, dass der Schmerz über die Verluste in der Regel auch die Frage nach Verantwortung und Schuld miteinschloss. Auch beim Walzer wird die Differenz anschaulich: Im internationalen Kino wird er in der Regel historisiert und auf seine Formensprache untersucht, im deutsch­sprachigen Kino ­erscheint der Walzer tendenziell als eine überzeitliche und

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klassenübergreifende Kraft, die weniger von den Berührungen und ­ egegnungen, sondern von Opulenz und Genie angetrieben wird. B

Blass, zugleich überdeutlich Wien ist im österreichischen beziehungsweise deutschsprachigen Kino lange Zeit blass und zugleich überdeutlich. Blass in dem Sinn, dass die Stadt in ihrer Gestalt, in ihren architektonischen Eigenheiten und Veränderungen, in den sozialen und politischen Zäsuren nur vage durch die filmischen Bilder und Erzählungen hindurchscheint. Im Gegensatz zur privaten Sphäre, die mit viel Detailtreue ausgestattet ist, wird der Außenraum selten explizit einbezogen, erscheint das ­öffentliche Leben oft nur als eine Zone des notwendigen Übergangs. Wiener Geschichten springen häufig von Haus zu Haus, von Wohnung zu Wohnung und zeigen Straßen und Plätze als Zwischenräume oder in malerischen Andeutungen. Überdeutlich in dem Sinn, dass die Stadt trotz ihrer eigentlich ­physischen Absenz dennoch übermächtig das Geschehen und die ­Charaktere disponiert. Wien spielte sich in der Regel in den Vordergrund, mit Ausnahme jener wenigen Filme, in welchen es, wie in den 1920er- und wieder ab den 1950er-Jahren, mehr um Stadt im All­ gemeinen ging, wenn Montagen aus Leuchtreklamen oder Nacht­clubSzenen Großstadt anzeigten oder die Gegenüberstellung von Palais und Elendsquartieren deren soziales Auseinanderbrechen vermittelte. In vielen Wiener Geschichten erscheinen die Relationen zwischen der Erzählung und dem Stadtraum in einer Weise, dass Milieus und Charaktere nicht entwickelt werden, sondern aus dem Raum förmlich herauswachsen, immer schon da sind, nur an diesen Orten möglich erscheinen. Zeitlosigkeit, Stabilität, aber auch – in einem fast bio­ logischen Sinn – Empfindlichkeit und eine ‚natürliche‘ ­Aversion gegen Fremdes sind die Konsequenzen. Die Höfe von Alt-Wien beispiels­ weise, die bis in die 1950er-Jahre eine so große Rolle im Kino spielten, lassen sich als Orte des Kleinbürgertums nur unzulänglich beschreiben, vielmehr vermitteln sie gerade im Zusammenspiel zwischen der räumlichen Disposition und den Figuren Vorstellungen von Liebe, Glück und einer bestimmten idealen (politischen) Ordnung. In den Musikerbiografien, die im österreichischen beziehungsweise deutschsprachigen Kino zunächst in großer Dichte produziert ­wurden (und in den 1950er-Jahren schlagartig verschwinden), erscheint „Alt-Wien“ als ein Ort, dessen Genius direkt auf seine BewohnerInnen übergeht, wobei sie neben ihrer Behaglichkeit auch eingeschränkt ein moder­ nisierendes und gesellschaftsveränderndes Potenzial entfalten können. Nur selten erlaubte sich das Kino in der Hochphase dieser Wien­ erzählungen einen Blick hinter diese stark konservativen, fallweise


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Christian Dewald, Michael Loebenstein, Werner Michael Schwarz: Erzählte Stadt, gefilmtes Wien

katholisch, fallweise national gefärbten Imaginationen und zeigte ­ ngewöhnliche Orte und Charaktere. In wenigen Fällen – besonders u in den nahezu unbekannten Revuefilmen, die nach 1933 von Emigranten aus dem nationalsozialistischen Deutschland in Österreich pro­duziert wurden – werden Handlungsräume oft g ­ egen jede Wahrscheinlichkeit erweitert. Zeit wird konsequent in die Gegenwart oder Zukunft gelegt. Die Glücksschmiede der Krisenzeit rechnen in anderen Dimensionen. Ihnen setzt die Gegenwart zu. Der Horizont ihrer Hoffnungen richtet sich auf die Zukunft. Dort wird das Glück wohnen. Doch unablässig übersetzt sich Zukunft in Gegenwart. Deswegen wird in diesen Filmen wendig, ­flexibel und gewitzt auf Glück hingearbeitet. Kollektives Glück und diesmal eine explizite Infragestellung der dominanten Wienerzählungen zeigten einige wenige Spielfilme, die in den späten 1920er- und frühen 1930er-Jahren zur Wahlwerbung von der Sozialdemokratie in Auftrag gegeben wurden. Die Orte des scheinbar zeitlosen Wien vermitteln sich als Nährboden eines ­falschen politischen Bewusstseins und müssen ganz in der für Wienfilme ­typi­schen Relation von Raum und Erzählung auch physisch den neuen städtischen Wohnanlagen weichen. Um das Wiener Herz zu verändern, muss es von Alt- nach Neu-Wien umgesiedelt werden.

Nekropole und „Mythos Wien“ Eine Fortsetzung fand diese Kritik – ohne ihre optimistischen Versprechungen und von vorsichtigen Anfängen nach dem Zweiten Weltkrieg abgesehen – erst in den 1960er-Jahren. Das (pseudo-)kleinbürgerliche Milieu wurde zunächst von der Avantgarde, zehn Jahre später auch im Spielfilm ins Visier genommen und heftig attackiert. Die rabiaten „Kleinbürger“, die „Fenstergucker“, die Alten, die hinter Türspionen und zugezogenen Vorhängen verborgen eine schweigende Mehrheit darstellten, wurden dem impliziten, bisweilen auch expliziten Vorwurf ausgesetzt, dass sie für den Faschismus und den Nationalsozialismus der Jahre 1934 bis 1945 hauptsächlich verantwortlich waren. Ins Topografische übersetzt sich dieses Unbehagen an der Nachkriegs­ ordnung über eine verstärkte Aufmerksamkeit des Kinos für Oberflächen und Texturen des gebauten Raums. Beginnend mit den Trümmern des Krieges, die internationale Filme wie The Third Man (1949) oder Abenteuer in Wien (1952) spektakulär inszenieren, rücken Patina und Verfall, die verwitterten Hinterlassenschaften der einstigen Metropole ins Zentrum der Erzählungen. Die Räume, die im österreichischen Autorenfilm der 1960er- bis 1980er-Jahre, aber auch in den inter­ nationalen Agententhrillern der 1970er-Jahre aufgesucht werden, liegen oftmals brach, künden gleichermaßen von einstiger städte­ planerischer Größe (wie die Bauten Otto Wagners) und den nicht

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bewältigten Traumata des 20. Jahrhunderts. Das Wien im Film jener Ära verharrt in einer Zone der Unentschiedenheit: Zum einen ist es eine Nekropole an der Schnittlinie zwischen Ost und West, zum ­anderen knüpft es ungebrochen an Traditionen der Wienerzählung an und setzt seine imperialen Landmarks vor allem in internationalen Produktionen postkartengleich ins Bild. Es erscheint ratsam, die Wechsel in der Perspektive auf Wien, welche die Ausstellung und der vorliegende Katalog reflektieren, auf ihre Positionierung zur Tradition filmischer Wienerzählungen zu be­fragen. Verweist die Peripherie, die seit den 1970er-Jahren verstärkt zum Schauplatz geworden ist, auf ein an der Wirklichkeit und Gegenwart der Stadt und ihrer BewohnerInnen tatsächlich interessiertes Kino? Oder zeigen sich im Gewand der Milieubeschreibung vielmehr nur jene Abgründe, die sich in der Seele der Stadt vermeintlich jederzeit öffnen können? Wird doch eine Versöhnung mit dem Wien der ­Hinterhöfe, Stiegenhäuser, Flure möglich, gelingt ein Wechsel des Blickwinkels, der diese Orte nicht mehr der Überwachung, Diszipli­ nierung und Einschließung einschreibt, sondern, in Anlehnung an inter­nationale Großstadtgeschichten, zumindest im Kleinen Anteilnahme und ­Solidarität hervorbringen lässt? Das wurde zumindest im Film der 1990er-Jahre erprobt. Was und wo ist Wien? Diese Frage beantwortet das Kino der jüngeren Vergangenheit auf unterschiedliche Weise: eine dynamische Metropole, die ihre Faszination in den Zonen des Übergangs und in der Ver­ netzung von diversen Lebensgeschichten, Kulturen und Lebensstilen zeigt. Eine Stadt des grenzenlosen Ausrinnens, mit der Peripherie als topografischem Leitimage. Eine Konsumstadt mit neuen Zentren, auch jenseits der Donau. Wien aber auch als normale Stadt, die auf ihre tatsächliche Bedeutung geschrumpft ist und in der sich Geschichten zutragen wie in jeder anderen Stadt. Oder doch eine Stadt, die in ihren Traditionen verhaftet bleibt, mit denen ihre Bewohnerinnen und Bewohner umzugehen haben. Am vorläufigen Ende von 100 Jahren Filmgeschichte steht die Stadt selbst zur Disposition. Gibt es noch einen gemeinsamen „Mythos Wien“? Sind überhaupt noch Bilder möglich, die mehr vermitteln als einzelne Orte? Bilder, die sich zu etwas Drittem und Eigenem ver­ binden und die Kraft haben, die Stadt immer wieder neu zu zeigen? Fragen, die auch die Ausstellung ins Offene führen, die aus „Wien im Film“ in die Stadt Wien entlassen. Christian Dewald, Filmhistoriker im Filmarchiv Austria, Wien. Michael Loebenstein, Filmhistoriker (Ludwig ­Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft; Österreichisches Filmmuseum). Werner Michael Schwarz, Historiker, Kurator im Wien Museum.


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Christian Dewald, Michael Loebenstein, Werner Michael Schwarz: Erzählte Stadt, gefilmtes Wien

katholisch, fallweise national gefärbten Imaginationen und zeigte ­ ngewöhnliche Orte und Charaktere. In wenigen Fällen – besonders u in den nahezu unbekannten Revuefilmen, die nach 1933 von Emigranten aus dem nationalsozialistischen Deutschland in Österreich pro­duziert wurden – werden Handlungsräume oft g ­ egen jede Wahrscheinlichkeit erweitert. Zeit wird konsequent in die Gegenwart oder Zukunft gelegt. Die Glücksschmiede der Krisenzeit rechnen in anderen Dimensionen. Ihnen setzt die Gegenwart zu. Der Horizont ihrer Hoffnungen richtet sich auf die Zukunft. Dort wird das Glück wohnen. Doch unablässig übersetzt sich Zukunft in Gegenwart. Deswegen wird in diesen Filmen wendig, ­flexibel und gewitzt auf Glück hingearbeitet. Kollektives Glück und diesmal eine explizite Infragestellung der dominanten Wienerzählungen zeigten einige wenige Spielfilme, die in den späten 1920er- und frühen 1930er-Jahren zur Wahlwerbung von der Sozialdemokratie in Auftrag gegeben wurden. Die Orte des scheinbar zeitlosen Wien vermitteln sich als Nährboden eines ­falschen politischen Bewusstseins und müssen ganz in der für Wienfilme ­typi­schen Relation von Raum und Erzählung auch physisch den neuen städtischen Wohnanlagen weichen. Um das Wiener Herz zu verändern, muss es von Alt- nach Neu-Wien umgesiedelt werden.

Nekropole und „Mythos Wien“ Eine Fortsetzung fand diese Kritik – ohne ihre optimistischen Versprechungen und von vorsichtigen Anfängen nach dem Zweiten Weltkrieg abgesehen – erst in den 1960er-Jahren. Das (pseudo-)kleinbürgerliche Milieu wurde zunächst von der Avantgarde, zehn Jahre später auch im Spielfilm ins Visier genommen und heftig attackiert. Die rabiaten „Kleinbürger“, die „Fenstergucker“, die Alten, die hinter Türspionen und zugezogenen Vorhängen verborgen eine schweigende Mehrheit darstellten, wurden dem impliziten, bisweilen auch expliziten Vorwurf ausgesetzt, dass sie für den Faschismus und den Nationalsozialismus der Jahre 1934 bis 1945 hauptsächlich verantwortlich waren. Ins Topografische übersetzt sich dieses Unbehagen an der Nachkriegs­ ordnung über eine verstärkte Aufmerksamkeit des Kinos für Oberflächen und Texturen des gebauten Raums. Beginnend mit den Trümmern des Krieges, die internationale Filme wie The Third Man (1949) oder Abenteuer in Wien (1952) spektakulär inszenieren, rücken Patina und Verfall, die verwitterten Hinterlassenschaften der einstigen Metropole ins Zentrum der Erzählungen. Die Räume, die im österreichischen Autorenfilm der 1960er- bis 1980er-Jahre, aber auch in den inter­ nationalen Agententhrillern der 1970er-Jahre aufgesucht werden, liegen oftmals brach, künden gleichermaßen von einstiger städte­ planerischer Größe (wie die Bauten Otto Wagners) und den nicht

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bewältigten Traumata des 20. Jahrhunderts. Das Wien im Film jener Ära verharrt in einer Zone der Unentschiedenheit: Zum einen ist es eine Nekropole an der Schnittlinie zwischen Ost und West, zum ­anderen knüpft es ungebrochen an Traditionen der Wienerzählung an und setzt seine imperialen Landmarks vor allem in internationalen Produktionen postkartengleich ins Bild. Es erscheint ratsam, die Wechsel in der Perspektive auf Wien, welche die Ausstellung und der vorliegende Katalog reflektieren, auf ihre Positionierung zur Tradition filmischer Wienerzählungen zu be­fragen. Verweist die Peripherie, die seit den 1970er-Jahren verstärkt zum Schauplatz geworden ist, auf ein an der Wirklichkeit und Gegenwart der Stadt und ihrer BewohnerInnen tatsächlich interessiertes Kino? Oder zeigen sich im Gewand der Milieubeschreibung vielmehr nur jene Abgründe, die sich in der Seele der Stadt vermeintlich jederzeit öffnen können? Wird doch eine Versöhnung mit dem Wien der ­Hinterhöfe, Stiegenhäuser, Flure möglich, gelingt ein Wechsel des Blickwinkels, der diese Orte nicht mehr der Überwachung, Diszipli­ nierung und Einschließung einschreibt, sondern, in Anlehnung an inter­nationale Großstadtgeschichten, zumindest im Kleinen Anteilnahme und ­Solidarität hervorbringen lässt? Das wurde zumindest im Film der 1990er-Jahre erprobt. Was und wo ist Wien? Diese Frage beantwortet das Kino der jüngeren Vergangenheit auf unterschiedliche Weise: eine dynamische Metropole, die ihre Faszination in den Zonen des Übergangs und in der Ver­ netzung von diversen Lebensgeschichten, Kulturen und Lebensstilen zeigt. Eine Stadt des grenzenlosen Ausrinnens, mit der Peripherie als topografischem Leitimage. Eine Konsumstadt mit neuen Zentren, auch jenseits der Donau. Wien aber auch als normale Stadt, die auf ihre tatsächliche Bedeutung geschrumpft ist und in der sich Geschichten zutragen wie in jeder anderen Stadt. Oder doch eine Stadt, die in ihren Traditionen verhaftet bleibt, mit denen ihre Bewohnerinnen und Bewohner umzugehen haben. Am vorläufigen Ende von 100 Jahren Filmgeschichte steht die Stadt selbst zur Disposition. Gibt es noch einen gemeinsamen „Mythos Wien“? Sind überhaupt noch Bilder möglich, die mehr vermitteln als einzelne Orte? Bilder, die sich zu etwas Drittem und Eigenem ver­ binden und die Kraft haben, die Stadt immer wieder neu zu zeigen? Fragen, die auch die Ausstellung ins Offene führen, die aus „Wien im Film“ in die Stadt Wien entlassen. Christian Dewald, Filmhistoriker im Filmarchiv Austria, Wien. Michael Loebenstein, Filmhistoriker (Ludwig ­Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft; Österreichisches Filmmuseum). Werner Michael Schwarz, Historiker, Kurator im Wien Museum.


Glas im Film

Die Stadt als Projektionsfläche des Begehrens Klaus Neundlinger

STADT UND FILM

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Aufeinandertreffen Begegnungen – zu bestimmten Zwecken, vereinbart, einem Ziel unterworfen, regelmäßig wiederkehrend einerseits; andererseits aber auch unvorhergesehen, unbeabsichtigt, keinem Zweck und keiner Regelmäßigkeit gehorchend. Die Stadt ist der tägliche Schauplatz dieser ‚Fragmente‘ von bestehenden, vergangenen, künftigen oder auch nur möglichen, niemals gelebten Beziehungen. Der Film bemüht sich, ein Narrativ für die zweckbestimmten wie für die zweckfreien, jeden Sinn entbehrenden Begegnungen zu finden, die Fragmente zu einer Einheit zusammenzufügen. Es handelt sich um Formen des Aufeinandertreffens, deren Möglichkeitsraum in der gelungenen oder gescheiterten Erfüllung von Wünschen besteht, ob dies nun das berufliche Leben, die romantische Liebe oder das Ausleben devianter, krankhafter, gewaltbestimmter Fantasien betrifft. Die narrative Einheit wiederum stattet uns nicht mit einem fertigen Urteil aus, auf das wir mit dem ­Erwerb einer Kinokarte Anspruch haben, sondern bleibt vieldeutig, der Interpretation, der unterschiedlichen Wahrnehmung und ­Bewertung zugänglich. Das Material Glas macht uns – auch im Film – den Umstand bewusst, dass die Stadt ein symbolgeladener Raum ist, der uns nicht nur selbst in wünschende Wesen verwandelt. Wir jagen nicht bloß als begehrende Subjekte den vielen Zeichen nach, die uns beim Entschlüsseln unserer Wünsche helfen sollen, sondern werden auch zu Zeugen wunschbestimmten, von unterschiedlichsten Begehrensformen getriebenen Handelns und Einander-Begegnens. Wir suchen nicht nur uns selbst in den Dingen, sondern reflektieren unser Handeln auch im Handeln der unbekannten anderen. Der architektonische Einsatz des Glases schafft im städtischen Raum die Bühne für eine solche Inszenierung des Begehrens. Das Begehren nach etwas, nach einer Ware, einem Statussymbol, oder das Verlangen nach jemandem, einer anderen Person, kann sich erfüllen, es kann ans Ziel gelangen und muss längst nicht immer tragisch enden – und doch hat es Hürden zu überwinden, Trennungen und Hindernisse zu passieren. Es muss sich angesichts der Vielzahl an Möglichkeiten, angesichts seiner Zufälligkeit, die es eigentlich zu nichts berechtigt, bewähren.

Gebrochene Blicke, gebrochenes Urteilsvermögen So werden wir etwa in einer Szene aus dem Film 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls (1994) von Michael Haneke zu Zeugen eines Tauschaktes – ein paar Geldscheine wechseln den Besitzer –, und doch können wir, wenn wir nur diese eine Szene betrachten, der Geste keine rechte Bedeutung beimessen. Anstatt das Gespräch mitzuhören, aus dem wir vielleicht schließen könnten, was der Empfänger des 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls, A 1994


Glas im Film

Die Stadt als Projektionsfläche des Begehrens Klaus Neundlinger

STADT UND FILM

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Aufeinandertreffen Begegnungen – zu bestimmten Zwecken, vereinbart, einem Ziel unterworfen, regelmäßig wiederkehrend einerseits; andererseits aber auch unvorhergesehen, unbeabsichtigt, keinem Zweck und keiner Regelmäßigkeit gehorchend. Die Stadt ist der tägliche Schauplatz dieser ‚Fragmente‘ von bestehenden, vergangenen, künftigen oder auch nur möglichen, niemals gelebten Beziehungen. Der Film bemüht sich, ein Narrativ für die zweckbestimmten wie für die zweckfreien, jeden Sinn entbehrenden Begegnungen zu finden, die Fragmente zu einer Einheit zusammenzufügen. Es handelt sich um Formen des Aufeinandertreffens, deren Möglichkeitsraum in der gelungenen oder gescheiterten Erfüllung von Wünschen besteht, ob dies nun das berufliche Leben, die romantische Liebe oder das Ausleben devianter, krankhafter, gewaltbestimmter Fantasien betrifft. Die narrative Einheit wiederum stattet uns nicht mit einem fertigen Urteil aus, auf das wir mit dem ­Erwerb einer Kinokarte Anspruch haben, sondern bleibt vieldeutig, der Interpretation, der unterschiedlichen Wahrnehmung und ­Bewertung zugänglich. Das Material Glas macht uns – auch im Film – den Umstand bewusst, dass die Stadt ein symbolgeladener Raum ist, der uns nicht nur selbst in wünschende Wesen verwandelt. Wir jagen nicht bloß als begehrende Subjekte den vielen Zeichen nach, die uns beim Entschlüsseln unserer Wünsche helfen sollen, sondern werden auch zu Zeugen wunschbestimmten, von unterschiedlichsten Begehrensformen getriebenen Handelns und Einander-Begegnens. Wir suchen nicht nur uns selbst in den Dingen, sondern reflektieren unser Handeln auch im Handeln der unbekannten anderen. Der architektonische Einsatz des Glases schafft im städtischen Raum die Bühne für eine solche Inszenierung des Begehrens. Das Begehren nach etwas, nach einer Ware, einem Statussymbol, oder das Verlangen nach jemandem, einer anderen Person, kann sich erfüllen, es kann ans Ziel gelangen und muss längst nicht immer tragisch enden – und doch hat es Hürden zu überwinden, Trennungen und Hindernisse zu passieren. Es muss sich angesichts der Vielzahl an Möglichkeiten, angesichts seiner Zufälligkeit, die es eigentlich zu nichts berechtigt, bewähren.

Gebrochene Blicke, gebrochenes Urteilsvermögen So werden wir etwa in einer Szene aus dem Film 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls (1994) von Michael Haneke zu Zeugen eines Tauschaktes – ein paar Geldscheine wechseln den Besitzer –, und doch können wir, wenn wir nur diese eine Szene betrachten, der Geste keine rechte Bedeutung beimessen. Anstatt das Gespräch mitzuhören, aus dem wir vielleicht schließen könnten, was der Empfänger des 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls, A 1994


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Klaus Neundlinger: Glas im Film

STADT UND FILM

Geldes im Gegenzug gibt (Informationen?) oder gegeben hat, beobachten wir die Szene durch die Glasscheiben des Cafés, in dem die Begegnung stattfindet. In den Scheiben spiegeln sich die Gestalten der Vorbeigehenden, die von der Szene keine Notiz nehmen. Wir werden zurückgeworfen auf den Standpunkt der Stadt selbst – wir haben einer von vielen, unendlich vielen Begegnungen beigewohnt, die sich im Stadtraum ereignen. Verpflichtet uns unser neugieriger Blick also zu nichts? Steht er dem zufälligen Treiben ohne Möglichkeit des Urteils, der Kritik, des Unterscheidens gegenüber? Offensichtlich nicht, denn wir unterstellen der Szene einen Sinn, eine Richtung, wie eben auch die Kamera danach nicht ziellos irgendeinem Passanten hinterherirrt, sondern einem der beiden Männer folgt und uns zeigt, wie er ein im Café befindliches öffentliches Telefon benutzt (um die erhaltene Information weiterzugeben oder ein weiteres Treffen mit einer anderen Person zu vereinbaren?). Wie oft in Hanekes Werk setzt das Bild damit den Betrachter seiner eigenen Urteilsfähigkeit aus, und zwar nicht im Sinne der Möglichkeit, souverän über den Dingen zu stehen, sondern im Sinne der komplexen Rekonstruktion eines Gewaltzusammenhangs, der einzelne Existenzen verbindet, von denen man im ersten Moment annimmt, dass sie nichts miteinander zu tun haben. Es geht nicht um ein abschließendes Urteil, um eine letzte Erkenntnis, sondern um die Aufhebung der Indifferenz, um die Auseinandersetzung mit dem, was uns trennt und verbindet.

Begehren in der Krise: Zerstörerische Gefahr und Möglichkeit der Gestaltung Geld eröffnet die Möglichkeit, an der Welt der tauschbaren Objekte teilzuhaben, und daran hängt viel. Es ist nicht nur das begehrte Objekt, die Ware, die durch die Schaufensterscheiben hindurch inszeniert wird. Es ist die Möglichkeit des sozialen Lebens selbst, die sich in der Warenästhetik zum mannigfachen Ausdruck bringt. Das Objekt wird nicht nur begehrt, sondern eben auch erworben und benutzt. Und der Gebrauch kann durchaus verschiedenen Zweckbestimmungen unterliegen. Wir sehen eine Szene aus dem Film Sonnenstrahl (1933) von Paul Fejos und René Sti, in der ein junges, hoffnungsfrohes Paar sich vor einem Automobilgeschäft einfindet und durch die gläsernen Fensterscheiben hindurch einen ausgestellten Wagen begutachtet. Nachdem der Mann inmitten der Wirtschaftskrise gerade ein Stellen­ angebot entgegengenommen hat, lebt die Hoffnung auf, diesen Wagen eines Tages vielleicht erwerben zu können. Die Trennung vom ­begehrten Objekt erhält in diesem Film eine besondere Bedeutung: Der Wille, angesichts der aussichtslosen ökonomischen Situation aus dem Leben zu scheiden, führt die beiden zu Beginn der Geschichte

21

zufällig zusammen. Der junge Mann rettet die Frau vor dem Ertrinken, obwohl er selbst gerade noch ins Wasser gehen wollte, um seiner Existenz ein Ende zu setzen. Für seine gute Tat erhält er ein paar Schilling, die er als Einstiegskapital in ein neues Leben, in eine gemeinsame Zukunft mit der von ihm geretteten Frau verwendet.

Sonnenstrahl, A 1933

Die große Liebe, A 1931

In dem sozialutopischen Film aus der Zeit der Depression werden die Transparenz und die Durchlässigkeit, die das Glas im städtischen Raum zu schaffen imstande ist, nicht nur als Form der Inszenierung einer unerreichbaren Warenwelt gedeutet. Sie werden zum Symbol für die Möglichkeit, die eigenen Wünsche zu strukturieren, sich der zerstörerischen Wirkung des Begehrens zu entziehen und Schritt für Schritt wieder im Leben anzukommen. Der Traum von Glück erlangt einen konkreten Gebrauchswert. Er verwandelt sich in die selbst­ bestimmte Ver- und Bearbeitung des eigenen Schicksals. Viel nüchterner wirkt auf den ersten Blick die Szene eines weiteren Films aus dem Wien der frühen 1930er-Jahre, in der tatsächlich ein Auto gekauft wird. In Otto Premingers erstem Werk Die große Liebe (1931) wird der Autokauf als symbolischer Akt nicht so sehr mit der Strukturierung des Begehrens als Wunschrealisierung in Verbindung gebracht, sondern mit dem Thema der Verpflichtung. Auffällig an der Umsetzung der Szene ist zunächst die gewiss auch der Frühzeit des Tonfilms geschuldete Experimentierfreudigkeit auf der akustischen Ebene. Obwohl die Kamera von außen filmt, wie der potenzielle Käufer das Geschäft betritt, werden die Straßengeräusche ausgeblendet, sobald die Tür zufällt, so als ob sich der Zuschauer bereits ebenfalls im Inneren des Geschäfts befinden würde. Der Ton geht gewissermaßen dem Bild voraus und verstärkt so das symbolisch aufgeladene Spiel mit den Außen- und Innenräumen, mit der Zugänglichkeit bzw. der Regulierung des Zugangs im urbanen Raum. Das Verkaufsgespräch bezieht sich keineswegs auf die ästhetischen Aspekte oder den Nutzen des Automobils, sondern auf die Zahlungsmodalität. Der Käufer hat ein hoch dotiertes Sparbuch mitgebracht, das als Sicherheit für den Kauf dienen soll. Er betont jedoch, dass das auf dem Sparbuch liegende Geld nur als Sicherheit und nicht für den Kauf verwendet werden soll, da er selbst den Kaufpreis bis zum letzten Schilling ‚abarbeiten‘ will. Der Käufer wird das Auto nämlich nicht privat verwenden, sondern als Arbeitsinstrument. Er möchte in Wien als Taxifahrer unternehmerisch tätig werden. Der Blick auf das begehrte Objekt ist demnach ein anderer als im Film Sonnenstrahl. Obwohl auch der Protagonist in Premingers Film sein Leben in der Wirtschaftskrise selbst in die Hand nehmen will, bedeutet in seinem Fall der Gebrauch des Automobils nicht das Ziel seiner Träume als ­potenzieller Konsument, sondern den Anfang seiner Tätigkeit als


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Klaus Neundlinger: Glas im Film

STADT UND FILM

Geldes im Gegenzug gibt (Informationen?) oder gegeben hat, beobachten wir die Szene durch die Glasscheiben des Cafés, in dem die Begegnung stattfindet. In den Scheiben spiegeln sich die Gestalten der Vorbeigehenden, die von der Szene keine Notiz nehmen. Wir werden zurückgeworfen auf den Standpunkt der Stadt selbst – wir haben einer von vielen, unendlich vielen Begegnungen beigewohnt, die sich im Stadtraum ereignen. Verpflichtet uns unser neugieriger Blick also zu nichts? Steht er dem zufälligen Treiben ohne Möglichkeit des Urteils, der Kritik, des Unterscheidens gegenüber? Offensichtlich nicht, denn wir unterstellen der Szene einen Sinn, eine Richtung, wie eben auch die Kamera danach nicht ziellos irgendeinem Passanten hinterherirrt, sondern einem der beiden Männer folgt und uns zeigt, wie er ein im Café befindliches öffentliches Telefon benutzt (um die erhaltene Information weiterzugeben oder ein weiteres Treffen mit einer anderen Person zu vereinbaren?). Wie oft in Hanekes Werk setzt das Bild damit den Betrachter seiner eigenen Urteilsfähigkeit aus, und zwar nicht im Sinne der Möglichkeit, souverän über den Dingen zu stehen, sondern im Sinne der komplexen Rekonstruktion eines Gewaltzusammenhangs, der einzelne Existenzen verbindet, von denen man im ersten Moment annimmt, dass sie nichts miteinander zu tun haben. Es geht nicht um ein abschließendes Urteil, um eine letzte Erkenntnis, sondern um die Aufhebung der Indifferenz, um die Auseinandersetzung mit dem, was uns trennt und verbindet.

Begehren in der Krise: Zerstörerische Gefahr und Möglichkeit der Gestaltung Geld eröffnet die Möglichkeit, an der Welt der tauschbaren Objekte teilzuhaben, und daran hängt viel. Es ist nicht nur das begehrte Objekt, die Ware, die durch die Schaufensterscheiben hindurch inszeniert wird. Es ist die Möglichkeit des sozialen Lebens selbst, die sich in der Warenästhetik zum mannigfachen Ausdruck bringt. Das Objekt wird nicht nur begehrt, sondern eben auch erworben und benutzt. Und der Gebrauch kann durchaus verschiedenen Zweckbestimmungen unterliegen. Wir sehen eine Szene aus dem Film Sonnenstrahl (1933) von Paul Fejos und René Sti, in der ein junges, hoffnungsfrohes Paar sich vor einem Automobilgeschäft einfindet und durch die gläsernen Fensterscheiben hindurch einen ausgestellten Wagen begutachtet. Nachdem der Mann inmitten der Wirtschaftskrise gerade ein Stellen­ angebot entgegengenommen hat, lebt die Hoffnung auf, diesen Wagen eines Tages vielleicht erwerben zu können. Die Trennung vom ­begehrten Objekt erhält in diesem Film eine besondere Bedeutung: Der Wille, angesichts der aussichtslosen ökonomischen Situation aus dem Leben zu scheiden, führt die beiden zu Beginn der Geschichte

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zufällig zusammen. Der junge Mann rettet die Frau vor dem Ertrinken, obwohl er selbst gerade noch ins Wasser gehen wollte, um seiner Existenz ein Ende zu setzen. Für seine gute Tat erhält er ein paar Schilling, die er als Einstiegskapital in ein neues Leben, in eine gemeinsame Zukunft mit der von ihm geretteten Frau verwendet.

Sonnenstrahl, A 1933

Die große Liebe, A 1931

In dem sozialutopischen Film aus der Zeit der Depression werden die Transparenz und die Durchlässigkeit, die das Glas im städtischen Raum zu schaffen imstande ist, nicht nur als Form der Inszenierung einer unerreichbaren Warenwelt gedeutet. Sie werden zum Symbol für die Möglichkeit, die eigenen Wünsche zu strukturieren, sich der zerstörerischen Wirkung des Begehrens zu entziehen und Schritt für Schritt wieder im Leben anzukommen. Der Traum von Glück erlangt einen konkreten Gebrauchswert. Er verwandelt sich in die selbst­ bestimmte Ver- und Bearbeitung des eigenen Schicksals. Viel nüchterner wirkt auf den ersten Blick die Szene eines weiteren Films aus dem Wien der frühen 1930er-Jahre, in der tatsächlich ein Auto gekauft wird. In Otto Premingers erstem Werk Die große Liebe (1931) wird der Autokauf als symbolischer Akt nicht so sehr mit der Strukturierung des Begehrens als Wunschrealisierung in Verbindung gebracht, sondern mit dem Thema der Verpflichtung. Auffällig an der Umsetzung der Szene ist zunächst die gewiss auch der Frühzeit des Tonfilms geschuldete Experimentierfreudigkeit auf der akustischen Ebene. Obwohl die Kamera von außen filmt, wie der potenzielle Käufer das Geschäft betritt, werden die Straßengeräusche ausgeblendet, sobald die Tür zufällt, so als ob sich der Zuschauer bereits ebenfalls im Inneren des Geschäfts befinden würde. Der Ton geht gewissermaßen dem Bild voraus und verstärkt so das symbolisch aufgeladene Spiel mit den Außen- und Innenräumen, mit der Zugänglichkeit bzw. der Regulierung des Zugangs im urbanen Raum. Das Verkaufsgespräch bezieht sich keineswegs auf die ästhetischen Aspekte oder den Nutzen des Automobils, sondern auf die Zahlungsmodalität. Der Käufer hat ein hoch dotiertes Sparbuch mitgebracht, das als Sicherheit für den Kauf dienen soll. Er betont jedoch, dass das auf dem Sparbuch liegende Geld nur als Sicherheit und nicht für den Kauf verwendet werden soll, da er selbst den Kaufpreis bis zum letzten Schilling ‚abarbeiten‘ will. Der Käufer wird das Auto nämlich nicht privat verwenden, sondern als Arbeitsinstrument. Er möchte in Wien als Taxifahrer unternehmerisch tätig werden. Der Blick auf das begehrte Objekt ist demnach ein anderer als im Film Sonnenstrahl. Obwohl auch der Protagonist in Premingers Film sein Leben in der Wirtschaftskrise selbst in die Hand nehmen will, bedeutet in seinem Fall der Gebrauch des Automobils nicht das Ziel seiner Träume als ­potenzieller Konsument, sondern den Anfang seiner Tätigkeit als


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Klaus Neundlinger: Glas im Film

Sehnsucht 202, D/A 1932

Geißel des Fleisches, A 1965

STADT UND FILM

23

Produzent einer Dienstleistung. Er verschuldet sich zunächst, indem er das Auto auf Raten kauft. Das Erreichen seiner Träume hängt also davon ab, ob er als Unternehmer erfolgreich ist. Erst dann, so erklärt ihm der Verkäufer streng, wird er das Auto sein Eigen nennen können.

­ esentlicher Mangel eingeschrieben ist. So wie dieser die grundlegenw de Qualität des angebotenen Produkts, nämlich den Duft des Parfums, nicht erfahrbar machen kann, bleibt auch das Begehren von seinem Gegenstand getrennt.

Inszenierungen des weiblichen Körpers – der männliche Blick, …

… der Körper als Objekt … Noch stärker verdichtet sich die Überlagerung von sexuellem Begehren und Konsumwelt in den Anfangsschnitten des Films Geißel des Fleisches (1965) von Eddy Saller. Collageartig verschränkt der Film, der von einem Sexualmord an einer Tänzerin in einer Wiener Ballettschule handelt, das geänderte Stadtbild zur Hochzeit des fordistischen Massenkonsums mit der durch Modetrends und Emanzipation ermöglichten Inszenierung des weiblichen Körpers. Immer wieder durchquert der Blick der Kamera dabei die luftige Transparenz suggerierenden Fensterscheiben von Cafés oder die Windschutzscheiben modischer Autos und dient als Synekdoche zum krankhaften Auge des Sexualmörders, der verstohlen hinter die Türen und durch die Fenster der Ballettschule blickt, um sich an sein Opfer heranzumachen. Erneut taucht das Motiv der Reflexion auf, über das Spiegelglas im Probensaal der Tanzschule, wo die Schülerinnen in die strenge Disziplin der Bewegungen und Schritte des Balletts eingeführt werden. Es steht für die Verinnerlichung des Blicks, der die Körperdisziplin erst ermöglicht, aber auch für die Möglichkeit des Selbstbezugs, der selbst gewählten, bewussten Inszenierung.

In Zeiten der Krise rückt die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ noch stärker in den Mittelpunkt der Geschäftsstrategien. Es geht darum, das äußerst verknappte Interesse, zu konsumieren bzw. zu investieren, auf die eigenen Produkte oder Leistungen zu lenken. Nicht nur die Warenästhetik wird deshalb in der filmischen Reflexion über das Glas zum Thema, immer stärker wird sich die Thematisierung des Blicks auch mit dem sexuellen Begehren auseinandersetzen. In einer Szene aus dem Film Sehnsucht 202 (1932) von Max Neufeld setzt eine junge Verkäuferin all ihre Kreativität ein, um das Schaufenster einer Drogerie neu zu gestalten. Zunächst bleibt niemand stehen, um sich, wie auf dem Fenster steht, die „brennende Frage“ zu stellen, welches Parfum er oder sie dieses Frühjahr verwenden soll. Als die Verkäuferin dann aber ihren Kollegen bittet, einen am Boden befindlichen Ventilator einzuschalten, und sich dadurch ihr Rock zu heben beginnt, bildet sich vor dem Fenster eine immer größer werdende – vorwiegend aus Männern bestehende – Menschentraube. Belustigt beobachten diese die Verkäuferin, die noch nicht bemerkt hat, dass sie ­unbeabsichtigt eine so geballte Aufmerksamkeit auf sich zieht, da sie mit dem ­Rücken zur Straße im Schaufenster steht.

Obwohl der Film von Beginn an eine recht durchsichtige moralisierende und psychologisierende Interpretation der Geschichte vorgibt, bleibt er durch den selbst produzierten Blick auf den weiblichen Körper als Symbol für alle Konsumobjekte und den sittlichen Verfall der Gesellschaft zweideutig. Über die Nahaufnahmen des vermeintlich verbrecherischen männlichen Auges inszeniert der Film eine Spaltung zwischen einem reifen, sittsamen und einem unsittlichen, perversen Umgang mit der Sexualität, die als solche nicht durchzuhalten ist. Zu dicht sind die Blicke aller Beteiligten, auch der Kontrollinstitutionen wie der Justiz, der Polizei, der Medizin, im Geflecht des städtischen Raums verwoben.

Man sieht zwei Bettler, die gegenüber dem Geschäft auf der Straße stehen und auf mildtätige Passanten warten. Einer der beiden trägt eine dunkle Sonnenbrille und ein Schild um den Hals, auf dem „Blind“ geschrieben steht. Allerdings ist er der Erste der beiden, der die Frau im Schaufenster erblickt und seinen Kollegen darauf aufmerksam macht, dass es da etwas Besonderes zu sehen gibt. Kurz entschlossen nimmt er die Sonnenbrille ab, dreht sein Schild um, auf dessen Rückseite „Taub“ steht, und begibt sich auf die andere Straßenseite. Er verwandelt sich also nicht bloß in einen potenziellen Konsumenten, der ebenfalls am dargebotenen Spektakel teilhaben will, sondern passt – wie man heute sagen würde – auf höchst flexible Weise sein Geschäftsmodell den geänderten Marktbedingungen an.

… und als Subjekt

Inzwischen hat die junge Verkäuferin im Schaufenster ebenfalls ein Schild aufgestellt, auf dem die Passanten aufgefordert werden, näher zu treten, denn: „Wir können nicht alles im Schaufenster zeigen.“ Das Begehren wird über diese zufällig entstandene Zweideutigkeit da­ rauf verwiesen, dass dem Blick über die Distanz, die er erzeugt, ein

Das Thema der selbstbestimmten Lebensgestaltung begegnet uns auch im Film Unter achtzehn (Noch minderjährig) (1957) von Georg Tressler. In diesem Film versucht Elfie, eine junge Frau aus dem proletarischen Milieu, den Beruf der Kleidervorführerin zu ergreifen. Allerdings ist sie, wie der Titel sagt, noch nicht volljährig und muss Unter achtzehn, A 1957


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Klaus Neundlinger: Glas im Film

Sehnsucht 202, D/A 1932

Geißel des Fleisches, A 1965

STADT UND FILM

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Produzent einer Dienstleistung. Er verschuldet sich zunächst, indem er das Auto auf Raten kauft. Das Erreichen seiner Träume hängt also davon ab, ob er als Unternehmer erfolgreich ist. Erst dann, so erklärt ihm der Verkäufer streng, wird er das Auto sein Eigen nennen können.

­ esentlicher Mangel eingeschrieben ist. So wie dieser die grundlegenw de Qualität des angebotenen Produkts, nämlich den Duft des Parfums, nicht erfahrbar machen kann, bleibt auch das Begehren von seinem Gegenstand getrennt.

Inszenierungen des weiblichen Körpers – der männliche Blick, …

… der Körper als Objekt … Noch stärker verdichtet sich die Überlagerung von sexuellem Begehren und Konsumwelt in den Anfangsschnitten des Films Geißel des Fleisches (1965) von Eddy Saller. Collageartig verschränkt der Film, der von einem Sexualmord an einer Tänzerin in einer Wiener Ballettschule handelt, das geänderte Stadtbild zur Hochzeit des fordistischen Massenkonsums mit der durch Modetrends und Emanzipation ermöglichten Inszenierung des weiblichen Körpers. Immer wieder durchquert der Blick der Kamera dabei die luftige Transparenz suggerierenden Fensterscheiben von Cafés oder die Windschutzscheiben modischer Autos und dient als Synekdoche zum krankhaften Auge des Sexualmörders, der verstohlen hinter die Türen und durch die Fenster der Ballettschule blickt, um sich an sein Opfer heranzumachen. Erneut taucht das Motiv der Reflexion auf, über das Spiegelglas im Probensaal der Tanzschule, wo die Schülerinnen in die strenge Disziplin der Bewegungen und Schritte des Balletts eingeführt werden. Es steht für die Verinnerlichung des Blicks, der die Körperdisziplin erst ermöglicht, aber auch für die Möglichkeit des Selbstbezugs, der selbst gewählten, bewussten Inszenierung.

In Zeiten der Krise rückt die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ noch stärker in den Mittelpunkt der Geschäftsstrategien. Es geht darum, das äußerst verknappte Interesse, zu konsumieren bzw. zu investieren, auf die eigenen Produkte oder Leistungen zu lenken. Nicht nur die Warenästhetik wird deshalb in der filmischen Reflexion über das Glas zum Thema, immer stärker wird sich die Thematisierung des Blicks auch mit dem sexuellen Begehren auseinandersetzen. In einer Szene aus dem Film Sehnsucht 202 (1932) von Max Neufeld setzt eine junge Verkäuferin all ihre Kreativität ein, um das Schaufenster einer Drogerie neu zu gestalten. Zunächst bleibt niemand stehen, um sich, wie auf dem Fenster steht, die „brennende Frage“ zu stellen, welches Parfum er oder sie dieses Frühjahr verwenden soll. Als die Verkäuferin dann aber ihren Kollegen bittet, einen am Boden befindlichen Ventilator einzuschalten, und sich dadurch ihr Rock zu heben beginnt, bildet sich vor dem Fenster eine immer größer werdende – vorwiegend aus Männern bestehende – Menschentraube. Belustigt beobachten diese die Verkäuferin, die noch nicht bemerkt hat, dass sie ­unbeabsichtigt eine so geballte Aufmerksamkeit auf sich zieht, da sie mit dem ­Rücken zur Straße im Schaufenster steht.

Obwohl der Film von Beginn an eine recht durchsichtige moralisierende und psychologisierende Interpretation der Geschichte vorgibt, bleibt er durch den selbst produzierten Blick auf den weiblichen Körper als Symbol für alle Konsumobjekte und den sittlichen Verfall der Gesellschaft zweideutig. Über die Nahaufnahmen des vermeintlich verbrecherischen männlichen Auges inszeniert der Film eine Spaltung zwischen einem reifen, sittsamen und einem unsittlichen, perversen Umgang mit der Sexualität, die als solche nicht durchzuhalten ist. Zu dicht sind die Blicke aller Beteiligten, auch der Kontrollinstitutionen wie der Justiz, der Polizei, der Medizin, im Geflecht des städtischen Raums verwoben.

Man sieht zwei Bettler, die gegenüber dem Geschäft auf der Straße stehen und auf mildtätige Passanten warten. Einer der beiden trägt eine dunkle Sonnenbrille und ein Schild um den Hals, auf dem „Blind“ geschrieben steht. Allerdings ist er der Erste der beiden, der die Frau im Schaufenster erblickt und seinen Kollegen darauf aufmerksam macht, dass es da etwas Besonderes zu sehen gibt. Kurz entschlossen nimmt er die Sonnenbrille ab, dreht sein Schild um, auf dessen Rückseite „Taub“ steht, und begibt sich auf die andere Straßenseite. Er verwandelt sich also nicht bloß in einen potenziellen Konsumenten, der ebenfalls am dargebotenen Spektakel teilhaben will, sondern passt – wie man heute sagen würde – auf höchst flexible Weise sein Geschäftsmodell den geänderten Marktbedingungen an.

… und als Subjekt

Inzwischen hat die junge Verkäuferin im Schaufenster ebenfalls ein Schild aufgestellt, auf dem die Passanten aufgefordert werden, näher zu treten, denn: „Wir können nicht alles im Schaufenster zeigen.“ Das Begehren wird über diese zufällig entstandene Zweideutigkeit da­ rauf verwiesen, dass dem Blick über die Distanz, die er erzeugt, ein

Das Thema der selbstbestimmten Lebensgestaltung begegnet uns auch im Film Unter achtzehn (Noch minderjährig) (1957) von Georg Tressler. In diesem Film versucht Elfie, eine junge Frau aus dem proletarischen Milieu, den Beruf der Kleidervorführerin zu ergreifen. Allerdings ist sie, wie der Titel sagt, noch nicht volljährig und muss Unter achtzehn, A 1957


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Klaus Neundlinger: Glas im Film

STADT UND FILM

sich vor ihrer Fürsorgerin für alle ihre Entscheidungen verantworten. Dennoch entwickelt sie in der Sequenz, die uns zeigt, wie sie zu ihrem Job kommt, Selbstvertrauen und Eigeninitiative. Sie macht mit ihrer Freundin einen Spaziergang durch die Innenstadt, wo die beiden immer wieder vor Schaufensterscheiben stehen bleiben, um Schmuck, Schuhe und Kleider zu begutachten. Nachdem sie die Waren interessiert betrachtet haben, macht Elfie zunächst immer eine resignierende Handbewegung, da sie offensichtlich nicht das Geld hat, um sich die begehrten Dinge zu kaufen. Schließlich bleiben die beiden vor einer Modeboutique stehen, in der gerade eine Vorführung für eine reiche Kundin und deren Mann stattfindet. Elfie entschließt sich, die Boutique zu betreten, und sagt der Besitzerin, sie möchte auch Kleider vorführen. Diese bezeichnet sie zunächst als „ganz schön naiv“ und geht wieder zur Kundin. Als sie zurückkommt, hat Elfie schon ein Kleid angezogen. Die Besitzerin reagiert im ersten Moment verärgert, doch dann scheint sie sich auf das Spiel einzulassen und bittet sie, aus dem Umkleideraum he­ rauszukommen. Der anwesende Ehemann ist offensichtlich nicht nur vom Kleid angetan, sondern auch von der Vorführerin, weshalb die Chefin Elfie einen Job anbietet. Im anschließenden Gespräch mit ihrer Freundin thematisiert sie den begehrlichen, aber auch wertschätzenden Blick des Mannes. Sie weiß um ihr Kapital, die ‚gute Figur‘, und möchte dieses Kapital einsetzen, ohne zum von den Männern nur ‚benutzten‘ Objekt zu werden.

Der Raum der Repräsentation – Unmöglichkeit der Begegnung In der Schlussszene von Michael Hanekes Die Klavierspielerin (2001), der Verfilmung des Romans von Elfriede Jelinek, findet sich die Pro­ tagonistin vor Konzertbeginn allein im Foyer des Wiener Konzert­ hauses wieder, nachdem das Publikum bereits nach oben gegangen ist, um im großen Saal Platz zu nehmen. In Großaufnahme wird gezeigt, wie sie aus ihrer Tasche ein Küchenmesser hervorholt, es sich ins Herz rammt und wieder herauszieht. Im Hintergrund scheint sich der symmetrisch angeordnete leere Raum in den Reflexionen zu verlieren, die durch die Spiegel an den Säulen links und rechts ent­stehen. Anders als in der eingangs beschriebenen Einstellung aus dem Film 71 Fragmente zeichnen sich auf den Glasflächen keine ­Figuren mehr ab. Wir sehen uns mit der reinen Repräsentationsfläche der bürgerlichen Welt konfrontiert, die in diesem Fall zur Inszenierung der absoluten Unmöglichkeit von Begegnung und Beziehung wird. In der nächsten Einstellung sehen wir von außen die Flucht der Glas­türen, die den Eingangsbereich des Konzerthauses strukturieren. Die Pianistin eilt auf den Ausgang zu. Als sie das Gebäude verlässt, ist sie dennoch

Die Klavierspielerin, A/F 2001

nicht ganz draußen angelangt, denn dem Eingangsbereich ist ein weiterer verglaster Bau vorgelagert. Die abschließende Einstellung zeigt das Haus in Zentralperspektive, wobei der Fluchtpunkt hinter einer virtuell endlosen Folge von Glasfronten liegt. So wie die Hauptdarstellerin tödlich verletzt aus dem Bild stürzt und sich entfernt, wissen wir, dass sie dabei nur die Unmöglichkeit zelebriert, dieser transparenten, lichtdurchfluteten, rational geordneten Welt zu entrinnen.

Klaus Neundlinger, geb. 1973, Philosoph, Übersetzer, Lehrer für Deutsch als Fremdsprache. War an der Universität Neapel L’Orientale und am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft tätig; beschäftigt sich mit den symbolischen Aspekten von Gesellschaft und Wirtschaft. Zuletzt: Die Performance der Wissensarbeit. Immaterielle Wertschöpfung und Neue Selbstständigkeit (Wien/Graz 2010).

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Klaus Neundlinger: Glas im Film

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sich vor ihrer Fürsorgerin für alle ihre Entscheidungen verantworten. Dennoch entwickelt sie in der Sequenz, die uns zeigt, wie sie zu ihrem Job kommt, Selbstvertrauen und Eigeninitiative. Sie macht mit ihrer Freundin einen Spaziergang durch die Innenstadt, wo die beiden immer wieder vor Schaufensterscheiben stehen bleiben, um Schmuck, Schuhe und Kleider zu begutachten. Nachdem sie die Waren interessiert betrachtet haben, macht Elfie zunächst immer eine resignierende Handbewegung, da sie offensichtlich nicht das Geld hat, um sich die begehrten Dinge zu kaufen. Schließlich bleiben die beiden vor einer Modeboutique stehen, in der gerade eine Vorführung für eine reiche Kundin und deren Mann stattfindet. Elfie entschließt sich, die Boutique zu betreten, und sagt der Besitzerin, sie möchte auch Kleider vorführen. Diese bezeichnet sie zunächst als „ganz schön naiv“ und geht wieder zur Kundin. Als sie zurückkommt, hat Elfie schon ein Kleid angezogen. Die Besitzerin reagiert im ersten Moment verärgert, doch dann scheint sie sich auf das Spiel einzulassen und bittet sie, aus dem Umkleideraum he­ rauszukommen. Der anwesende Ehemann ist offensichtlich nicht nur vom Kleid angetan, sondern auch von der Vorführerin, weshalb die Chefin Elfie einen Job anbietet. Im anschließenden Gespräch mit ihrer Freundin thematisiert sie den begehrlichen, aber auch wertschätzenden Blick des Mannes. Sie weiß um ihr Kapital, die ‚gute Figur‘, und möchte dieses Kapital einsetzen, ohne zum von den Männern nur ‚benutzten‘ Objekt zu werden.

Der Raum der Repräsentation – Unmöglichkeit der Begegnung In der Schlussszene von Michael Hanekes Die Klavierspielerin (2001), der Verfilmung des Romans von Elfriede Jelinek, findet sich die Pro­ tagonistin vor Konzertbeginn allein im Foyer des Wiener Konzert­ hauses wieder, nachdem das Publikum bereits nach oben gegangen ist, um im großen Saal Platz zu nehmen. In Großaufnahme wird gezeigt, wie sie aus ihrer Tasche ein Küchenmesser hervorholt, es sich ins Herz rammt und wieder herauszieht. Im Hintergrund scheint sich der symmetrisch angeordnete leere Raum in den Reflexionen zu verlieren, die durch die Spiegel an den Säulen links und rechts ent­stehen. Anders als in der eingangs beschriebenen Einstellung aus dem Film 71 Fragmente zeichnen sich auf den Glasflächen keine ­Figuren mehr ab. Wir sehen uns mit der reinen Repräsentationsfläche der bürgerlichen Welt konfrontiert, die in diesem Fall zur Inszenierung der absoluten Unmöglichkeit von Begegnung und Beziehung wird. In der nächsten Einstellung sehen wir von außen die Flucht der Glas­türen, die den Eingangsbereich des Konzerthauses strukturieren. Die Pianistin eilt auf den Ausgang zu. Als sie das Gebäude verlässt, ist sie dennoch

Die Klavierspielerin, A/F 2001

nicht ganz draußen angelangt, denn dem Eingangsbereich ist ein weiterer verglaster Bau vorgelagert. Die abschließende Einstellung zeigt das Haus in Zentralperspektive, wobei der Fluchtpunkt hinter einer virtuell endlosen Folge von Glasfronten liegt. So wie die Hauptdarstellerin tödlich verletzt aus dem Bild stürzt und sich entfernt, wissen wir, dass sie dabei nur die Unmöglichkeit zelebriert, dieser transparenten, lichtdurchfluteten, rational geordneten Welt zu entrinnen.

Klaus Neundlinger, geb. 1973, Philosoph, Übersetzer, Lehrer für Deutsch als Fremdsprache. War an der Universität Neapel L’Orientale und am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft tätig; beschäftigt sich mit den symbolischen Aspekten von Gesellschaft und Wirtschaft. Zuletzt: Die Performance der Wissensarbeit. Immaterielle Wertschöpfung und Neue Selbstständigkeit (Wien/Graz 2010).

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