WBGU Hauptgutachten: Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation

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Die Große Transformation: Ein heuristisches Konzept

Der WBGU begreift den anstehenden Wandel in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zur Bewältigung der in Kapitel 1 beschriebenen Herausforderungen als eine „Große Transformation“. Die zentralen Anforderungen, die sich an diese umfassende Transformation stellen, ergeben sich aus den Grenzen des Erdsystems, die einen Umbau der nationalen Ökonomien und der Weltwirtschaft innerhalb diesƒer Grenzen erzwingen, um eine irreversible Schädigung der Weltökosysteme und deren Auswirkungen auf die Menschheit zu vermeiden. Produktion, Konsummuster und Lebensstile müssen so verändert werden, dass Treibhausgasemissionen im Verlauf der kommenden Dekaden auf ein Minimum reduziert (Dekarbonisierung der Energiesysteme und Gestaltung klimaverträglicher Gesellschaften), essentielle Ressourcenknappheiten (vor allem Land, Wasser, strategische mineralische Ressourcen) durch signifikante Ressourceneffizienzsteigerungen minimiert und abrupte Veränderungen im Erdsystem (Kipppunkte) durch Wirtschafts- und Entwicklungsstrategien, welche die Leitplanken des Erdsystems (planetary b ­ oundaries) berücksichtigen, vermieden werden können. Ein solcher Umbau wird ohne ein bisher unerreichtes Niveau an weltweiter Kooperation, die Weiterentwicklung der normativen Infrastrukturen innerhalb des internationalen Systems, neue Wohlfahrtskonzepte, Technologiesprünge, vielfältige institutionelle Innovationen und veränderungsfähige Reformallianzen nicht gelingen. Der WBGU sieht in der Geschichte der Menschheit nur zwei große Transformationen, Veränderungsschübe oder Phasen der Zivilisation, die vergleichbar wären mit der Großen Transformation, die nun stattfinden muss: die Neolithische Revolution, die den Übergang von der Jäger- und Sammlergesellschaft zur Agrargesellschaft darstellte (Winkler, 2009; Kasten 3-1) sowie die Industrielle Revolution, die schon der ungarische Ökonom Karl Polanyi (1944) als „Great Transformation“ beschrieben hat (Kasten 3.2-1). Eine umfassende Theorie zur Erfassung der Komplexität großer Transformationen liegt bisher nicht vor. Ein Transformationskonzept ist jedoch notwendig, um diesen tiefgreifenden Wandel angemessen zu beschrei-

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ben, analytisch zu durchdringen und eine Systematik zu entwickeln, die es erlaubt, die Prozesse und Dynamiken, Handlungsebenen, Treiber von Veränderungen und Akteurskonstellationen der Großen Transformation sichtbar zu machen. Nur so können tragfähige politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Transformationsstrategien für den Übergang zu einer dekarbonisierten und ressourceneffizienten (Welt-)Wirtschaft und Gesellschaft entwickelt werden. Wie kann man eine große Transformation beschreiben und wie ist sie beeinflussbar? Wichtig ist zunächst, dass die Große Transformation über Veränderungen mittlerer Reichweite hinausreicht (Kap. 3.5), die durch unterschiedliche Theorien thematisiert werden: Die Theorie der „langen Wellen wirtschaftlichen Wandels“ beschreibt „Kondratieff-Zyklen“, die durch Basisinnovationen angetrieben werden (Kondratieff, 1926; Mensch, 1975; Freeman und Louçã, 2001; Perez, 2002). Die Beobachtung ist in diesem Kontext, dass in einem Rhythmus von 40–60 Jahren zentrale Innovationen zu gravierenden Veränderungen in der Wirtschaft führen und transformative Investitionsschübe auslösen (1780–1850 Dampfmaschine, mechanischer Webstuhl, Kohle, Eisen; 1840–1890 Eisenbahn, Stahlproduktion, Agrartechniken; 1890–1940 Elektrizität, Chemie, Automobil, Massenproduktion; 1940–1990 Elektrotechnik, Petrochemie, Computer, Flugzeug bzw. Raketen; 1990 ff. Informations- und Kommunikationstechnologien). Die Große Transformation, die in eine Weltwirtschaft und -gesellschaft führt, die innerhalb der Grenzen des Erdsystems Wohlstand, Stabilität und Demokratie sichern kann, ist offensichtlich ebenfalls auf Basisinnovationen angewiesen, die klimaverträgliches und ressourceneffizientes Wirtschaften ermöglichen. Aber sie geht noch über die Zeithorizonte der Kondratieff-Zyklen hinaus, indem sie auf die Ablösung der Epoche des bisherigen Industrialismus abzielt. Sie umfasst zudem gesellschaftliche, kulturelle und politische Veränderungsprozesse, die nicht nur technologischer Natur oder technologisch determiniert sind. In der evolutorischen Ökonomik wird in Anlehnung an die Idee grundlegender Innovationen zwischen

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