02/2013 - Weil er mich nie vernascht hat

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ISSN 2307-5694

Sommer 2013 | № 2 Dein Begleitheft zur Krise, 5 Euro

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Weil er mich nie vernascht hat


W

ir könnten“, sagte A-Glöckchen zu B-Glöckchen, „uns nächstes Jahr doch mal auf der anderen Talseite einquartieren“, und wippte ganz verzückt in der sachten Sommerbrise. „Wir könnten aber auch einfach mal über‘n Winter auf Urlaub fahren“, sagte B-Glöckchen und flatterte aufgeregt mit seinen Kronblättern. „Ja, wir könnten“, murrte C-Glöckchen und erhob störrisch sein Haupt, „wenn wir nur wollten.“

über.morgen Dein Florist um die Ecke

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Editorial ////////////////////

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Clara Gallistl: Ein Magazin zu machen ist vor allem eines: anstrengend. Für die über.morgen zu arbeiten heißt über. morgen zu sein, was wiederum heißt: Einem Team aus gleichberechtigten Mitgliedern anzugehören, das Entscheidungen im Kollektiv trifft. Der Grund für uns, die über.morgen zu machen, ist vor allem: Weil wir uns gefunden haben und weil wir gemeinsam arbeiten wollen. Matthias Hütter: Ich geb‘s jetzt gleich mal zu: Es überfordert mich. Damit meine ich nicht über.morgen an sich, sondern ganz klar: diesen Einstieg ins Editorial, der ja auch ein Prolog des Magazins sein soll. Aber, kurz und gut, so sei es. Für meinen Geschmack etwas zu schnulzig aufgetragen, zu viel der selbstreflexiven Gefühlsduselei, zu wenig „in your face“. Davon einmal abgesehen: So ist es. Ein Editorial gibt der Chefredaktion die Möglichkeit, sich an die LeserInnen zu wenden. Diese Möglichkeit ergibt sich allerdings zu einem Zeitpunkt, an dem das Ende nah und die Aufregung groß ist. Müdigkeit macht sich breit, Chefredaktion heißt Endredaktion, also herumfuzeln an jedem kleinen Scheiß. Damit es schön wird, wenn alles fertig ist. Schon besser. Obwohl, die metatextuelle Selbsterklärung anfangs: überflüssig. Und überhaupt: Jetzt verfalle ich in die Kommentar-Schiene. Aber: Bleibt mir denn etwas anderes übrig, da du [Clara] mir deine Editorials-Hälfte zuerst hast zukommen lassen? Was bleibt, ist Nörgelei: Der Job der Chefredaktion. Die Deadline drückt, deshalb lass ich das jetzt mal so stehen. Ich habe meinen Text über die Magna-Siedlung in Oberwaltersdorf schon so oft gelesen, dass ich resignierend seufze, wenn ich ein E-Mail bekomme, das mich auf neue Änderungsvorschläge meiner KollegInnen hinweist. Ich bin nah dran, den Hut draufzuhauen: Macht doch, was ihr wollt! Mir egal! – Warum ich nach vier Jahren immer noch im Team bin? Weil Alex (Photographie und Layout) bei der letzten Redaktionssitzung nach meinem Versuch, den Hut draufzuhauen, vom Tisch aufgestanden ist, sich mit den Worten „Ich glaube, die Clara braucht mal eine Umarmung“ neben mich gesetzt und mich so lange gedrückt hat, bis die Anspannung aus meinem Körper verschwunden ist. Diese Geschichte hat doch jeder mit seinen Texten zu durchleiden. Jetzt mal im Ernst: Du BIST nah dran, den Hut draufzuhauen? Warum das Präsens? Oder ist das jetzt erzählendes Präsens, und alles ist gut? Seit wann? Und das war bei der LETZTEN Redaktionssitzung? Bitte sag doch was das nächste Mal, wenn dich Resignation heimsucht. Nur zusammen sind wir stark! Wenn jeder seinen über.morgen-Frust individuell in sich selbst hineinfrisst, dann können wir einpacken und die Freizeit so verbringen, wie die Mehrheit unserer ZeitgenossInnen: vor dem Fernseher. Das nächste Mal bitte auch mich als potentiellen Anspannungswegdrücker in Erwägung ziehen.

Wir streiten und haben Ideen, die manche gut und andere schlecht finden. Wir teilen den Wunsch, ein interessantes und neues Magazin zu machen, das nicht nur uns gefällt. Wir wollen gemeinsam etwas Neues kreieren. Etwas Unerhörtes. Etwas, das nur in dieser Konstellation entstehen kann: unseren anachronistischen Print-Fetisch mit grünen Blättern und rosaroten Zitrusfrüchten, die wir so gerne in die Welt hinaustragen. Für diese Ausgabe hat Dario Summer den Schauspieler Manuel Rubey und Dompfarrer Toni Faber zu einem gemeinsamen Gespräch gebeten. Entstanden ist eine ehrliche Auseinandersetzung mit Glaubensfragen und Positionen der katholischen Kirche. Karin Stanger hat in Oberösterreich einen Schwermetaller interviewt, der erzählt, wie selbstverständlich es für ihn ist, Tote zu begraben. Matthias Hütter und Markus Schauta etablieren sich mehr und mehr als rasendes Reporterteam. Nachdem sie für die letzte Ausgabe in Kärnten waren, haben sie sich dieses Mal den Wiener Prater ausgesucht und sind mit allen Geisterbahnen gefahren. Markus Schauta ist zudem an den Bosporus gereist und hat sich am TaksimPlatz umgehört. Jakob Arnim-Ellissen hat Denise Kratochwill zu ihrem Baby befragt: Das erste Erotik-Magazin für Frauen auf dem österreichischen Markt. Aus einem schwierigen Thema ist eine neue Kategorie Text entstanden ... Nun gut. Der letzte Absatz war wieder ein Rückfall in printmedial prähistorische Verhaltensmuster. So etwas liest kein Mensch. Und wenn, dann schlafen ihr/ihm nach mindestens 15 Sekunden sämtliche Gliedmaßen, wenn nicht sogar die Zunge und im allerschlimmsten Fall sogar die Augen ein. Das gälte es ja zu verhindern. Aber so ... Ein erzähltes Inhaltsverzeichnis. Eine semantische Doppelung, um unsere 76 Seiten voll zu bekommen, wird der/die argwöhnische LeserIn (zurecht!) denken. Aber: Ich verstehe dich [Clara] ja. Als FreundIn des Lesens sich gegen den omnipräsent geschassten Informations-scan-Typus zur Wehr setzen zu wollen; dem/ der geschulten Cyber-LeserIn kohärente Texte vorsetzen zu wollen, ihm/ihr sagen zu wollen: Da gibt es noch etwas, außer der puren Information. Da gibt es Geschichten, wenn du das wüsstest, du würdest es nicht glauben … Danke an alle aus unserem Team und allen, die noch dazukommen werden. Applaus für uns alle! Und jetzt: Viel Spaß mit dem neuen Heft! Es war uns eine Freude, diese Chefredaktion übernommen zu haben. Noch einmal Danke mit metaphysischem Anspruch, dann Suhlung in Selbstlob und eine Botschaft an die Leserschaft. Dann aber, leider, ein umständlicher, sehr unglücklicher Schlusssatz: Freude. Was ist das schon. Ich würde sagen: Spaß. Und auch das wäre gelogen. Es war Arbeit. Gute Arbeit. Self-adulation rocks! Self-adulation sucks.

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Illustration: Albert Mitringer


Sommer 2013 Reportagen 18

Die Geburt des Grauens Ein Jubiläum! 80 Jahre Geisterbahn in Wien, wenn nicht auf der ganzen Welt! Zwei Reporter machen sich auf die Suche nach den Ursprüngen des Wiener Horrors.

Kolumnen 7

Jakob Arnim-Ellissen Der perfekte Shitstorm

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Clara Gallistl Brooklyn Decker

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Am Anfang ging es um die Bäume Eine Reportage aus Istanbul, der neuen Perle an der Kette der internationalen Protestwelle.

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Die unmögliche Rezension

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Editorial

Ein Selbstversuch: Als Mann ein Erotik-Magazin für Frauen kaufen, lesen und kommentieren.

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Impressum / Ausblick

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Kunststrecke

Von der neuen Transparenz Eine Reportage aus der Marktgemeinde Oberwaltersdorf, die zwischen alten Herren, jungen SchülerInnen und Leisure SportlerInnen auch Frank Stronach beheimatet.

Interviews 8

Da krieg ich einen Krebs Dompfarrer Toni Faber und Schauspieler Manuel Rubey haben sich in der Sakristei so einiges zu sagen.

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Ich hab auch meine Mutter eingegraben Nebenjob: Versenkungsrat. Ein Interview mit zwei Menschen, die genau das tun: Gräber ausheben und Verstorbene eingraben.

Essay 70

Sonstiges

Herbert hats geschafft Studium beendet, arbeitssuchend? — Die Geschichte eines Mannes, der es geschafft hat.

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Kolumne ///////////////////

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Der perfekte Shitstorm Jakob Arnim-Ellissen

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ie lesen also mit. NSA, CIA und wie sie alle heißen. Im Auftrag des gefallenen Hoffnungsträgers Präsident Obama. Über Facebook, Google, Microsoft und wer sonst noch unser Leben organisiert. Sie lesen mit und das ohne uns zu fragen. Also sind wir empört. Die AmerikanerInnen, weil AmerikanerInnen überwacht wurden, die EuropäerInnen, weil EuropäerInnen überwacht wurden und jetzt auch noch ein Unterschied zwischen AmerikanerInnen und EuropäerInnen gemacht werden soll. Und was machen wir mit Empörung normalerweise? Wir lassen sie raus. Doch diesmal gab es ein Problem. Anders als Amazon und Apple haben Geheimdienste eher selten Facebookseiten. Wir haben keine Onlinekonten bei der NSA und keine Kundenkarten von der CIA. Der Shitstorm, inzwischen natürlichster Ausdruck unserer Wut, wusste nicht wohin. Aber dann ist irgendwer drauf gekommen: Sie lesen ja mit. Wir brauchen gar nicht zu ihnen gehen, um unsere Empörung zu deponieren. Sie sind da, hier, überall dort, wo wir unsere digitalen Spuren hinterlassen. Leute, das ist er: der perfekte Shitstorm. Empören, nicht nur vom eigenen Sofa, sondern gleich von der eigenen Facebooktimeline. Wir müssen nicht mal mehr irgendwelche fremden Seiten ansurfen, sondern hängen einfach ein paar launige Bemerkungen an unser wöchentliches Fitnessposting. Verlinken ganz frech Osama Bin L. in den Fotos der letzten WG-Party. Hängen ein paar sarkastische Hashtags an unseren nächsten Tweet. Die werden dann nicht nur von den Schnüfflern mitgelesen, sondern auch direkt an unsere ganz individuelle, digitale Zielgruppe geliefert. So wissen nicht nur NSA und CIA, sondern auch all unsere Freunde gleich, wie empört wir sind. Bequemer geht es nun wirklich nicht.

So haben wir es also geschafft, den Aufwand von etwas zu verringern, das eigentlich gar kein Aufwand mehr war. Gut, es gibt da auch noch die diversen Petitionen - für den tapferen Whistleblower oder gegen die Datenschnüffelei - für die wir zumindest unseren digitalen Arsch ein paar Seiten weiter bewegen müssten. Doch wer unterschreibt die schon, wenn man auch Terrorschlagworte in privaten E-Mails verstecken kann? Früher hieß es einmal, die Feder sei mächtiger als das Schwert. Heute ist es die Tastatur, vor der wir die Mächtigen zittern glauben. Doch wir haben nicht das Schwert ersetzt. Es ist längst nicht mehr die Gewalt, auf die wir verzichten. Wir verzichten gleich auf jegliche Handlung, uns ist der Tweet mächtiger als der Akt. So klicken wir und posten und verlinken und reden uns ein unheimlich aktiv, vernetzt und überhaupt gut und toll zu sein. Und lassen doch selbst unser digitales Handeln lange enden, bevor irgendwer Konsequenzen fürchten müsste. Denn sobald der Shitstorm abgeflaut ist, haben auch wir uns wieder beruhigt. Kaufen wieder ein bei Amazon, finden uns mit den beschissenen Produktionsbedingungen bei Apple ab und nutzen weiterhin Facebook, Google, Microsoft und wer sonst noch unser Leben organisiert. So wird auch diese Aufregung vorüberziehen. Je gelungener unsere sarkastischen Bemerkungen, desto mehr Likes werden sie in den Datenbanken anhäufen und desto stärker werden wir uns auf die Schulter klopfen. Bald wird uns der nächste Shitstorm mitreißen, nichts verändern, abflauen. Und dann, wenn mir das alles wieder einmal zum Hals raushängt, schreibe ich einen neuen Kommentar. Der auch nichts ändern wird. Denn wir, wir sind die digitale Generation. Wir sind post-Akt.

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Papa 8

Manuel Rubey Jahrgang 1979, erlangte erste Bekanntheit mit der Rockband Mondscheiner, die sich mittlerweile aufgelöst hat. Zum Durchbruch verhalf ihm die Hauptrolle im Film „Falco - Verdammt, wir leben noch!“. Neben seinen kulturellen Tätigkeiten engagiert sich Rubey für humanitäre Projekte und setzt sich gegen Rechtsextremismus ein. Außerdem ist er Vater zweier Töchter.


Pfarrer 9

Anton „Toni“ Faber wurde 1962 geboren. Seine Priesterweihe erhielt er 1988. 1989 übernahm er das Amt des erzbischöflichen Zeremoniärs; zunächst bei Kardinal Groër, ab 1995 beim heutigen Kardinal Schönborn. Zum Dompfarrer des Stephansdomes wurde Faber 1997. Im Jahr 2000 erlangte er das Amt des Domkapitulars. Faber ist zudem ein allgegenwärtiger Adabei der Wiener Schickeria.


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Da krieg ich einen Krebs

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Text: Dario Summer, Fotos: Alexander Gotter


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Ein fiktiver Monsignore trifft auf einen realen Pfarrer; Schauspieler Manuel Rubey auf Dompfarrer Toni Faber. Ein Gespr채ch 체ber Morddrohungen, kirchliche Sexualmoral und politischen Spielraum.


Zwei Tage vor den Iden des Mai. Der Platz vor dem Wiener Stephansdom liegt verborgen vor der Vormittagssonne im Schatten. Immer mehr Menschen strömen aus den U-Bahnschächten an die Oberfläche. Langsam erwacht der Platz aus seiner Nachtruhe. Manuel Rubey schlendert dem Riesentor an der Westseite des Domes entgegen. Er raucht eine Zigarette, trägt unter seinem dunklen Sakko ein graues Shirt und am Revers das Red Ribbon, Symbol der Solidarität mit HIV-Infizierten und Aidskranken. Seine linke Sakkotasche wird von einem Buch ausgebeult. Am Weg Richtung Domportal schieben sich ihm zwei junge Mädchen in den Weg und fragen wohl, mit ihren Rot-Kreuz-Spendendosen klappernd, ob er es denn sei. Verschmitzt lächelnd wechselt er ein paar Worte mit den beiden Teenagern, die es aufgeregt versäumen ihm ihre Spendendose unter die Nase zu halten, wendet sich nach einem freundlichen Grußwort ab und geht weiter auf unseren Treffpunkt zu.

Wenn du in dem Land quasi öffentlich arbeitest und wenn du die ersten Morddrohungen kriegst, dann hast du es geschafft. (Rubey)

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Der 34-jährige Schauspieler ist anders als der 2008 von ihm verkörperte Falco. Mit seiner Hornbrille und dem krausen mit Gel in Form gebrachten Haar macht er einen sympathischen Eindruck. Der Zyniker, den er manchmal in der Öffentlichkeit gibt, kommt nicht zum Vorschein; weggeblasen ist jeder Hauch von Arroganz. Seine Zigarette fertigrauchend erklärt er, wie gespannt er auf das Gespräch sei, da er Dompfarrer Toni Faber noch nicht persönlich kenne. Dessen Pfarrkanzlei liegt einen Steinwurf vom Riesentor des Doms entfernt im ersten Stock des Hauses Stephansplatz 3. „Meine Hochachtung, Herr Monsignore!“, wie einen alten Freund empfängt der Dompfarrer den Schauspieler noch im Vorraum zur Pfarrkanzlei. Sofort zeigt sich Toni Faber, Dompfarrer zu St. Stephan und der Quotenhit von Seitenblicke, begeistert von der Fernsehserie Braunschlag und Rubeys

Verkörperung eines karrieregeilen, den fleischlichen Gelüsten verfallenden päpstlichen Gesandten. In einem Schwall des Lobes für diese Darbietungen führt uns der in einen schlichten grauen Anzug aus feinem Tuch und mit Kollar am Kragen seines schwarzen Hemdes gekleidete Geistliche an einen runden Holztisch in seinem Arbeitszimmer, der von rot bepolsterten, einfach gestalteten Barockstühlen gesäumt wird. Im lichtdurchfluteten Raum hängen zeitgenössische Gemälde. Am Schreibtisch steht eine kleine buddhistische Gebetsmühle neben dem Computerbildschirm. Faber ist gar nicht mehr zu bremsen. Er erfreut sich immer noch sehr der Serie Braunschlag: „Mit Lust und Humor hab ich das anschaun können und echt genossen. Also der Nicholas Ofczarek … Aber gerade Sie mit der Liebesgeschichte mit der Dame; das war lustig.“ – „Das freut mich sehr“, gibt sich Rubey geschmeichelt. Das Thema bildet einen runden Übergang zur Vita des Dompfarrers. „Ich bin heute deswegen da, weil der Kardinal Groër mich zufällig als Zeremoniär ausgewählt und mich nie vernascht hat“, sagt er locker, um dann doch etwas ins Stocken zu geraten, während Rubeys Lippen ein Lächeln zeichnen. „Es war immer irgendwie eigenartig. Aber ich war dann selber sehr erschüttert, wie das offenbar geworden ist. Ich bin aber ihm und auch dem Kardinal Schönborn sehr dankbar. Ich darf als Pfarrer hier nicht nur ‚Untergebener‘ sein, sondern auch formulieren, wie ich ‚Leben in der Kirche’ interpretiere.“ Der offene Umgang Fabers mit diesem Thema überrascht. Bewegte er sich doch im nahem Umfeld von Kardinal Groër, der in den 1990er Jahren mit dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs konfrontiert wurde. Die Causa führte zu einer schwierigen Krise in der österreichischen Kirche. Die Schuld Kardinal Groërs wurde später von hohen Würdenträgern der hiesigen Kirche eingestanden. Doch wie sich Gespräche so entwickeln, wird das Thema Missbrauch von den beiden Gesprächspartnern vorerst links liegen gelassen. Rubey greift die letzte Feststellung des Kirchenmannes auf: „Sie sind ja sogar auf Facebook.“ – „Ja, da muss ich gestehen, das macht mein Assistent. Da bin ich nicht so fit“, gibt Faber zu und verfällt, wie er es so gerne tut, einer Anekdote: „Da sind wir aber auch schon eingefahren! Wir sind von einem Laufhaus als Partner angefragt worden“, lachend fährt er fort, „von einer Rachel Laufhaus. Ein schönes Portraitfoto. Und der Besitzer vom Laufhaus hat dann gesagt: ‚Ja, wir haben versucht verschiedene Prominente auf Facebook anzusprechen, und der Dompfarrer hat zugesagt. Wir haben uns eh gewundert, aber er war noch nie da.‘“ Der Schauspieler lacht ebenfalls, um dann ernster fortzufahren: „Ja, ich glaube das ist eh eine wichtige Chance, wie die Kirche auch im Heute ankommt, egal wie man zu Facebook steht. Ich hab‘s auch lange verweigert.“ Faber führt den Gedanken weiter: „Da habe ich tolle Möglichkeiten, um ins Gespräch zu kommen, sozusagen meine ureigenste Aufgabe, die Sinnstiftung anzubieten und dem Leben zu dienen. Und das andere ist halt, am Leben, wie es heute geführt wird, teilzunehmen.“ Der Dompfarrer nutzt nicht nur online Netzwerke, um am Leben teilzunehmen: „Wenn ich die Medien auslasse, wäre ich dumm. Ich hab die Gelegenheit, manche Kontakte aufzugreifen und über die so verschriene Societyschiene ein


paar Leute zu erreichen.“ – „Aber ist da nicht ein bisschen die Schwierigkeit, dass das dann was Elitäres wird, wenn man sich in die Wiener Gesellschaft begibt? Weil die Kirche ja eigentlich …“, jäh wird Rubey in seinen Ausführungen von Faber unterbrochen: „Könnte sein, wenn ich nicht das andere hätte: Ich bin Gott sei Dank zu einem Drittel ganz normaler Pfarrer, zu einem Drittel Manager und betreibe zu einem Drittel Öffentlichkeitsarbeit. Es ist einfach genial hier am Stephansdom zu arbeiten, ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen. Ich bemitleide die Menschen, die sagen,

Der Zölibat ist ja nicht verantwortlich, dass Menschen pervers sind. (Faber)

sie setzen sich lieber hinter einen Kamin und sind zufrieden. Zuhause sitzen und warten, dass mir die Decke auf den Kopf fällt, das tue ich eigentlich nicht.“ Durch die Umtriebigkeit des Pfarrers überrascht fragt Rubey verdutzt: „Aber müssen Sie nicht beten?“ – „Immer; ich bete immer. Ich habe jeden Tag Gottesdienste. Aber sozusagen einen Abend nur alleine vor dem Fernseher verbringen, das kenne ich nicht“, kontert Faber gelassen. Der Schauspieler Manuel Rubey, der seinen zwei Kindern zuliebe nicht einmal einen Fernseher besitzt, kennt es, wenn man sich wie Faber in der Öffentlichkeit bewegt. Überlegend stellt er fest: „Mein Gitarrenlehrer hat mir mit 15 eine sehr wichtige Botschaft mitgegeben: Wenn du in dem Land quasi öffentlich arbeitest und wenn du die ersten Morddrohungen kriegst, dann hast du es geschafft.“ Zum ersten Mal in diesem Gespräch wirkt Dompfarrer Faber nachdenklich: „Und Sie haben welche bekommen?“ – „Ich hab während der Falco-Zeit damals tatsächlich welche bekommen. Da war‘s dann so weit. Ich hab ja nichts gegen Kritik und Auseinandersetzung; aber irgendwelche anonymen Geschichten muss ich mir nicht reinziehen.“ Das Gespräch kommt in Fahrt. Rubey taut auf. Langsam legt er die Zurückhaltung ab, die er sich wohl aufgrund der Amtswürde des Dompfarrers selbst auferlegt hat; erste Kritik an der Kirche wird laut und ist in einer persönlichen Geschichte verpackt: „Ich bin ja nicht völlig unbeleckt, weil ich tatsächlich noch gefirmt bin und meine Eltern sich sogar in einer katholischen Bewegung kennengelernt haben. Auch ist meine Großmutter gerade gestorben, da war ich seit langer Zeit wieder einmal auf einem Begräbnis; da hab ich das auch wieder verstanden, dass die Kirche Sicherheit gibt. Aber vor allem dieses bei älteren Menschen gepredigte ‚Man muss das Leben lang leiden, damit man dann erhört wird‘ ist eigentlich – natürlich abgesehen von undiskutierbaren Missbrauchsgeschichten – meine größte Schwierigkeit, weil ich finde, dass man sogar eine Verantwortung hat, dass es einem gut geht.“ Auf die Frage des Pfarrers, ob die Eltern Rubeys ihm das so vorgelebt hätten, verneint dieser und das diskutierte Problem verliert sich im Gespräch. Der Mime fährt kritisch fort: „Ich muss noch eine provokante Frage stellen: Ist das überhaupt ansatzweise zu korrigieren,

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solange so etwas wie der Zölibat permanent Dinge anrichtet, wie die Geschichte Groër? Können Sie das mit guten Dingen jemals wettmachen, was dieser Mann angerichtet hat?“ Jetzt ist es wieder da, das Thema, das anfangs noch elegant umschifft wurde. Diese Frage bringt den Gottesmann zum Innehalten. Groër war ein zentraler Fürsprecher in seiner kirchlichen Laufbahn. Er seufzt kurz auf: „Ich möchte da nicht hart dagegen halten. Ich war sieben Jahre an seiner Seite. Er ist einigen jungen Männern anscheinend zu nahe gekommen. Mir ist er nicht zu nahe gekommen. Aber ich habe tausende Menschen kennengelernt, für die er ein ganz großer Gewinn war. Und gleichzeitig: Der Zölibat ist ja nicht verantwortlich, dass Menschen pervers sind. Also da habe ich eine unverdächtige Zeugin: Die Sexualtherapeutin Professor Rotraud Perner gibt uns ganz klar Zeugnis davon, dass diese Kindesmissbrauchsgeschichten in keinster Weise mit dem Zölibat zusammenhängen, sondern in jeder anderen Berufsgruppe genauso vorkommen. So denke ich mir: Der Zölibat ist natürlich total anstößig in unserer Gesellschaft, aber viel weniger schwer zu leben als eine gute Ehe. Ich kenne viele Ehemänner und -frauen, Väter und Mütter, die sich ungeheuer schwer tun mit dem Ideal, das sie leben wollen und es nicht schaffen. Ich habe nicht die größere Aufgabe als sie. Ich muss mich nicht vor meiner Frau in Verantwortung gerufen wissen. Ich muss mich nicht Tag und


Nacht, 24 Stunden, als Vater fühlen wie Sie.“ Der junge Vater Rubey hört gespannt zu. „Natürlich fehlt mir sozusagen die Freude der innigsten Beziehung mit einer Frau. Aber selbst bei Ihnen als vorbildlichsten aller Ehemänner und Väter …“ Lachend wirft sein unverheiratetes Gegenüber ein: „Ich danke Ihnen für die Vorschusslorbeeren!“, während Faber fortfährt: „… wird es Momente geben, wo es nicht nur Honig und Wonne ist, weil es Beziehungsarbeit ist.“ Der Schauspieler stimmt den letzten Sätzen uneingeschränkt zu, doch ehe er weiter ausführen kann, unterbricht Faber ihn erneut: „Ich bin bei Ihnen, dass es uns heute nicht gelingt, zölibatären Lebensstil als etwas Normales zu verkaufen.“ Rubey versucht es von Neuem und erklärt stark gestikulierend: „Ich bin auch total bei der Theorie von der Frau Perner; das klingt sehr einleuchtend. Aber ich habe auch das Gefühl, dass Homosexualität in der Kirche ein großes Thema ist. Wenn man da toleranter wäre, könnte man das Recht einfordern, dass man sagt: ‚Zölibatär ist auch eine Form.‘ Warum denn nicht?“ Hier stimmt Faber Rubey wiederum zu: „Genau das ist der wunde Punkt an der kirchlichen Position. Dass wir so scheinheilig getan haben, das bricht uns das Genick. Und natürlich gibt es innerhalb der priesterlichen Amtsträger auch einige homosexuell Veranlagte und homosexuell Praktizierende. Es wirkt doppelt scheinheilig, wenn

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Dass ein rechtsnationaler Burschenschaftler quasi als Vertreter des Parlaments da sitzt, fand ich dann einen deutlichen Schritt zu weit. (Rubey) man sich dann offen gegen die Homosexualität ausspricht.“ Es ist zwar befremdlich, solche Aussagen von einem Mann Gottes zu hören, Toni Faber setzte aber schon in der Vergangenheit deutliche Zeichen der Akzeptanz homosexueller Partnerschaften in der Kirche. Nun geht er noch weiter: „Dass man offiziell sagen musste, wie es Papst Benedikt der XVI. in seinem vorletzten Buch getan hat, dass, wenn er wüsste, dass ein Priester in seiner Umgebung homosexuelle Akte setzen würde, er sich für dessen Absetzung einsetzen würde; da sag ich: Schaut sich der nicht um, wer da aller ist? Ich glaube nicht, dass die Welt darauf wartet, dass wir die Vorreiterposition übernehmen. Aber ich würde mir zumindest wünschen, Menschen mit homosexueller Gesinnung in keinster Weise das Gefühl zu geben, dass sie abgelehnt sondern herzlich willkommen sind.“ Sehr erstaunt zeigt sich Rubey von der Offenheit seines Gegenübers, weitet seine Kritik indes aus: „Ich finde, dass ja jede Religion dafür da ist, dem Menschen Verantwortung abzunehmen. Und das ist die nächste Schwierigkeit, die ich damit hab, weil ich finde, ich muss für meine Taten einfach geradestehen. Dass da der höchste Vertreter der Kirche quasi der Paradewegschauer ist, finde ich da gar nicht mal absurd, sondern leider konsequent logisch.“ Faber unterbricht: „Da hat unser Kardinal Gott sei Dank den großen Schritt gemacht, bei diesem Fall des Pfarrgemeinderates im


Weinviertel, der ja von seinem katholisch-erzkonservativen Pfarrer in die Ecke gestellt worden ist, weil er in einer homosexuellen Partnerschaft lebt. Da hat der Kardinal den alten jesuanischen Grundsatz ‚Der Mensch steht vor den Regeln‘ durchexerziert und gesagt, der junge Mann darf Pfarrgemeinderat bleiben. Das ist glaube ich unsere Kunst, dass wir uns einerseits trauen von Idealen zu schwärmen, ein Familienmodell als Ideal vor Augen zu haben, aber gleichzeitig auf jeden einzelnen Anderen schauen, ob wir für den auch Platz haben.“ Nicht ganz zufrieden erwidert Rubey: „Ja, ich finde es sogar fast vermessen zu sagen, dass das das Ideal ist. Weil die größte Mehrheit ist ja sowieso heterosexuell und wird sich auch weiterhin vermehren, solange das möglich ist. Das ist halt die Mehrheit, aber gleich ein Ideal zu benennen?“ – „Ja, wir trauen uns von Idealen zu schwärmen,“ bestätigt Faber selbstsicher. Die Zeit neigt sich langsam dem Ende zu. Die beiden haben uns eine Stunde zugesagt; 45 Minuten sind vergangen. Nachdem das Gespräch nun ein wenig ins Stocken geraten ist, versuche ich noch zwei Themen von mir unterzubringen. Ich wende mich an den Dompfarrer: „Sie haben die Obdachlosen im 1. Bezirk erwähnt. Die Frau Stenzel hätte die am Liebsten irgendwo versteckt, dass man sie im 1. Bezirk nicht sieht. Nutzt man seine prominente Stellung in der Öffent-

Wir sind von einem Laufhaus als Partner angefragt worden. (Faber)

lichkeit, um da was zu machen?“ Faber antwortet schnell, seine Versiertheit im Umgang mit Medien wird offenbar: „Ich glaube das ist ganz gut, dass ich diese Kontakte nütze. Ich bin mit Bezirksvorsteherin Uschi Stenzel und auch mit Bürgermeister Michael Häupl in engem Kontakt. Da muss ich mich halt in die Auseinandersetzung hinein begeben.“ Nachdenklich und ernst sagt Rubey: „Ich finde, dass es fahrlässig ist, als Chefin eines Bezirks zu behaupten: Wir müssen hier Säuberungen durchführen – so wird sie’s nicht formuliert haben, aber es ist ein Faktum, dass selbst in dieser wohlhabenden Stadt sich das Stadtbild verändert, die Menschen immer weniger haben und es immer mehr gibt, die unter die Armutsgrenze fallen. Und dann im Herzen der Stadt so zu tun, als wäre alles gut und die brauchen wir hier nicht, finde ich einfach unfassbar.“ Nun merkt man dem sonst besonnenen Schauspieler eine gewisse Erregung an. Der Pfarrer hingegen versucht zu beschwichtigen: „Wir sind zu lebbaren Verhältnissen gekommen. Wir telefonieren jetzt oft in der Woche zwei- bis dreimal und können Dinge einfach klären; das war am Anfang angespannter.“ Nicht oft hat man einen Schauspieler vor sich sitzen, der sich gerade emotional zu einem politischen Thema äußert. Die Stimmung legt nahe, ihm einen markanten Satz zu entlocken. Ich frage vorsichtig: „Als Schauspieler beziehungsweise Kabarettist und Musiker hat man auch gewisse Chancen politische Statements zu setzen. Wie weit kannst oder würdest Du dabei gehen?“ Seine Antwort formuliert er ebenso vorsichtig wie ich meine Frage: „Das ist auch eine

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Ja, wir trauen uns von Idealen zu schwärmen. (Faber)

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total schwierige und heikle Geschichte, weil ich auch nicht finde, dass Künstler zu jedem Thema gleich den Mund aufmachen müssen. Wir sind nicht klüger als die anderen. Auf der anderen Seite finde ich aber, dass man politisch leben muss. Ich hab mich, aber auch da halte ich mich nicht für besonders toll, einfach für das Humanistische entschieden; weil es unglaublich ist, was immer wieder salonfähig wird; wo ich auch sag: Da krieg ich einen Krebs. Aber ich zieh die Grenze ganz klar: Alles was quasi parteipolitisch passiert, mach ich nicht. So versuche ich das irgendwie auszutarieren.“ Richtig markiger Satz war da keiner dabei. Ich versuche es erneut: „Hast Du dich nicht den Grünen angeschlossen, als du den Rücktritt des damals neu eingesetzten Dritten Nationalratspräsidenten Martin Graf gefordert hast?“ Das hat jetzt doch einen Nerv getroffen. Anfangs noch diplomatisch: „Natürlich ist man da quasi auf einer Linie“, um dann sehr deutlich und gegen Ende verächtlich lachend fortzufahren, „aber das war für mich einfach ein Punkt, wo ich mir gedacht hab: ‚Das Parlament gehört allen, die Demokratie gehört allen.‘ Dass ein rechtsnationaler Burschenschaftler quasi als Vertreter des Parlaments da sitzt, fand ich dann einen deutlichen Schritt zu weit.“ Etwa 55 Minuten haben wir gesprochen. Eigentlich ist die Zeit schon um. Die letzten Minuten wollen wir für einen Dombesuch nutzen. Doch plötzlich greift Faber erneut die Serie Braunschlag auf und kehrt thematisch zum Anfang des Zusammentreffens zurück: „Was ich noch sagen wollte: Also ganz typisch und urwitzig war diese Rolle des afrikanischen Priesters im Waldviertel mit dem Kauderwelsch, den der zusammengepredigt hat. Das war sensationell.“ Rubey begeistert: „Das ist meine Lieblingsszene in den ganzen acht Folgen.“ – „Sensationell! Wir haben in Österreich Polen, Afrikaner und Inder als Priester, die lieb sind, wie der im

Wir sind nicht klüger als die anderen. (Rubey)

Film, die aber nicht ankommen, weil man sie nicht versteht. Und als Stilmittel ist das deswegen so toll, weil wir ja auch österreichische Priester haben, die in einer theologischen Abgehobenheit predigen mit genau demselben Ergebnis. Die reden wie der Blinde von der Farbe und in einer theologisch abgehobenen Sprache; die Leute gehen dann gerne in eine Kindermesse, weil sich da der Pfarrer endlich bemüht verständlich zu reden. Manche Predigten sind so weit über die Leute hinweg, dabei sind sie dankbar, wenn etwas vom Leben vorkommt. Gut, schauen wir in den Dom?“ Dank der Schlüssel des Pfarrers führt der Weg über ein normalerweise verschlossenes Seitentor ins Innere des Domes. Zahlreiche geführte Gruppen und einzelne TouristInnen tummeln sich dort. Faber erklärt Rubey die Lichtinstallation von Victoria Coeln. Die beiden schlendern durch die heiligen Hallen. Als sie kurz vor dem Bildnis Papst Johannes Paul II. innehalten, fragt eine ältere Frau Toni Faber: „‘Tschuldigung, geben S‘ ma da bitte a Kraxn her, die Unterschrift?“ – „Meine Unterschrift?“ – „Ich erkenn Sie.“ – „Ja bitte! Gerne. Bitteschön.“ – „Sehr höflich, danke!“ – „Alles Gute Ihnen.“ – „Danke.“


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Die Geburt des Grauens aus den Geistern des Praters Text: Matthias Hütter Text: Markus Schauta Fotos: Christopher Glanzl, Illustration: Christine Julius

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in Jubiläum! 80 Jahre Geisterbahn in Wien, wenn nicht auf der   ganzen Welt! Zwei Reporter hauen sich in den windigen Wurstelprater und suchen nach den Ursprüngen des Wiener Horrors. Ein Jubiläumsbeitrag vom Ort des Grauens.


„Kolnhofer?“ „Guten Tag, Hütter spricht, vom Magazin über.morgen.“ „Jo?“ „Wir wollen eine Reportage über Geisterbahnen in Wien bringen. Haben Sie Zeit für ein Interview?“ „Wos woin S’ n do wissn?“ „Das Geisterschloss ist die älteste Geisterbahn Österreichs. Sie als Betreiberin können uns da sicher Genaueres erzählen ...“ „Jo und von mir, wos woin S´ n do genau wissen?“ „Alles rund um die Entstehung und den Betrieb der Geisterbahnen im Prater. Die erste Wiener Geisterbahn eröffnete ja bereits 1933 und wird von manchen sogar als die erste ‚typische’ Geisterbahn weltweit angesehen. Und diese Bahn hieß ja auch Geisterschloss ...“ „Des woa vor meiner Zeit. Wir hom die Bohn 1955 übernommen. Die oide Bohn woa a poa Meter weiter, wo genau, des waß i ned. Oba zur Gschicht von uns steht jo eh alles

online.“ „Aber das zum Beispiel steht nicht online ... Und vielleicht könnten Sie uns eine Führung ins Innere der Bahn geben, hinter die Kulissen ...“ „Do kennan S’ damit foan. Donn siacht ma eh alles … I tät Ihnen folgendes vorschlagen: Gengan S’ amoi in’ Proda und foan S’ mit olle Geisterbohnan, damit S’ amoi wissn, um wos dass do überhaupt geht. Weil de san nämlich ned olle gleich. Do is a jede vollkommen ondas. Und donn, wonn S’ mit olle gfoan san, donn ruafn S’ mi noch amoi on und donn moch ma si an Termin aus.“ „Okay, das klingt sehr vernünftig ...“ „Najo, wia gsogt: Foan S’ amoi mit olle, donn schau ma weiter.“ „Vielen Dank für den Tipp, ich werd mich wieder bei Ihnen melden.“ „Mochn S’ des. Auf Wiedahean.“

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10. Mai  16:00 Uhr


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18:00

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„Cheeeeese!“, sag ich laut und versuch so etwas wie ein motivierendes Lächeln auf meine Visage zu zaubern. „One more please“, meint der Tourist, nachdem er das erste Resultat inspiziert hat und bedeutet mir, dass er gerne das ganze Riesenrad mit drauf hätte. Und ja, tatsächlich geh ich in die Knie. Der Fotomensch posiert mit seiner Freundin, ich sag „Cheeeeese“, er gibt ihr ‘nen Kuss und ich drück ab. Der Küsser unternimmt die nächste Fotoinspektion. Ich hau ab.

Ein Foto von der ersten Geisterbahn aus dem Jahr 1933 suche ich vergebens im Pratermuseum. Statt dessen lockt ein Plakat aus dem vorvorigen Jahrhundert mit „Lebenden Ungeheuerlichkeiten und menschlichen Abnormitäten“: Das mooshaarige Mädchen, der menschliche Vogel Strauß, der hartköpfige menschliche Ambos und Jo-Jo, der Pudelmensch. Sie waren die Attraktionen im Wiener Prater bevor der große Krieg Legionen von Menschen verkrüppelte und die Abnormitäten-Schauen wohl irgendwie an Reiz verloren.

Am sündhaft teuer auf billige Outlet-City gestylten PraterVorplatz. Durchkomponierte Geschmacklosigkeit. Stimmig bis ins kleinste Detail. Ich sitze am Unterbau der zentralen Statue und warte auf Markus, der noch ins Pratermuseum wollte. Aus dem Sockel wummert mir die Basslinie von billigen Strauß-Walzern das letzte Wurstsemmerl hoch. Kurz mal aufstehen. Die Schwerkraft tut ihren Job. Jetzt geht’s wieder. Die Leute posieren. Das Riesenrad dreht sich. Ich denk mir, dass ich mir nichts denken soll ... Wir schreiben das Jahr 1933 und der Friedrich Holzdorfer, alias Praterkönig, erfindet die Geisterbahn. Im Wurstelprater. Bam! Faktum. 2013 – wir feiern 80 Jahre Geisterbahn! Weltweit, sagen die Österreicher, das heißt also zumindest österreichweit. Was für ein Teufel wird ihn wohl geritten haben, den Praterkönig, als er sie erdacht hat? War’s ein Alptraum, eine dunkle Vorahnung? Wollte er die Leute auf kommende Zeiten vorbereiten? Emotional abhärten? Werden wir nie herausfinden. Memoiren hat er keine hinterlassen ... „Foto?“, fragt eine Touristin und hält mir ihre winzige Digitalkamera hin. Da! Erlösung. Markus spaziert durch den pappigen Eingangsbogen. Ab geht’s zur Geisterbahn ...

Heute wäre Jo-Jo der Pudelmensch sozial- und pensionsversichert. Und damals? Das Internet gibt sein Wissen am Bildschirm meines Smartphones preis: Im 19. Jahrhundert waren die „Ungeheuerlichkeiten“ von Leuten wie dem USAmerikaner Theodore Lent abhängig, der mit seiner Kuriositätenschau durch Europa tingelte. Seine Attraktion war die Mexikanerin Julia Pastrana: Keine 1,40 Meter groß, Haare am ganzen Körper, mit großen Ohren und einer breiten Nase wurde sie dem Publikum als „hässlichste Frau der Welt“ vorgeführt. Lent zeugte ein Kind mit der „Affenfrau“, sie und ihr Sohn starben wenige Tage nach der Geburt. Der geschäftstüchtige Lent ließ die beiden ausstopfen. Mit Leichengrinsen und rotem Flitterkleid, neben ihr das behaarte Kind, konnten sie fortan im Prater begafft werden. Nach den Wirren des Zweiten Weltkrieges gelangte der ausgestopfte Leichnam nach Norwegen, wo er bis 1970 ausgestellt wurde, bevor man ihn 2013 nach Mexiko überstellte. Im Prater blühen wieder die Bäume, hinter Büschen versteckte Lautsprecher dudeln Musik von Johann Strauß. Vor dem Riesenrad fotografiert Matthias ein japanisches Pärchen beim Schmusen.


19. Mai 18:00 Uhr Prater-Vorplatz

Das mooshaarige Mädchen, der menschliche Vogel Strauß, der hartköpfige menschliche Ambos und Jo-Jo, der Pudelmensch.

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19:00 Uhr Knusperh채uschen

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19:00

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„Jack the Ripper!“, sagt Markus, „Da starten wir unsere Tour. Dramatischer Endpunkt: das Geisterschloss!“ Die PraterApp fürs Smartphone berichtet von fünf Geisterbahnen im Wurstelprater. Man ist gespannt. Eintrag ins Notizbuch: „Knusperhäuschen, Ecke Straße des 1. Mai/Fortunagasse. Anständiger Kaffee. Sehr schön.“

Der Alte an der Bar zündet sich eine Gauloises an. Vor ihm am Tresen liegt eine offene Packung, drei Zigaretten griffbereit bis zum Filteransatz herausgezogen: „Seit 1966 bin ich das erste Mal wieder im Prater.“ – Der Geschmack einer roten Gauloises auf der Zunge und der Kick von 0,6 mg Nikotin im Kopf – das wär‘s jetzt.

„Was schreiben S’ denn da?“, erkundigt sich der ältere Herr mit dem wuchernden Rauschebart vom Nachbars-Barhocker. „Wir schreiben eine Story über Geisterbahnen.“ Er nimmt einen Schluck Bier und wischt sich den Mund am Ärmel ab. „Schaun S’!“, sagt er, hält mir den Abwisch-Arm vor die Nase und deutet auf die zerkratzte Blechuhr: „Mein Firmgeschenk!“ – „Gratuliere!“, sag ich. „Trag sie seither täglich“, sagt er. „Gratuliere. Das riecht man“, will ich jetzt sagen, sag aber doch: „Aha.“ Er streichelt das Kondenswasser vom Bierglas. „Wie lang haben S’ denn noch offen?“, fragt er die Kellnerin. „Bis zehn.“ Markus kommt vom Klo. Ich gehe dort hin. Blick aus dem Häuslfenster. Bum-BumMusik. Geschrei. Hie und da ein Lacher. Omas und Opas mit Eis schleckenden Enkelkindern. Besoffene Teenager.

„Es war der Firmausflug. Der Onkel Rainer hat mich nach Wien eingeladen. Er war der Firmpate.“ Der Alte zieht am Tschick, die Zigarettenspitze glüht auf, er inhaliert, stößt den Rauch aus, der in kleinen Wirbeln im Lichtkegel der Barbeleuchtung tanzt. „Zum Ringlspüfahren. Des war eine Hetz!“ Ich nehme einen Schluck vom Espresso. Eindeutig, hier fehlt etwas. „Zigarette?“, der Alte hält mir seine Gauloises hin. „Nichtraucher, seit drei Wochen“, hör ich mich sagen. Den Greifreflex leite ich um, zupfe mir einen Zahnstocher aus dem Glas und steck ihn mir in den Mund.

1933 also ... New on stage: Hitler, Dollfuß. Großer Auftritt: Faschismus, Diktatur, Verfolgung, Marschiererei, Fähnchen und und und. Emotionen high level hier und dort. Menschliche Zombies so weit das Auge reicht. Wollte der Geisterbahn-Erfinder der gesellschaftlichen Realität ein Pendant im Vergnügungsviertel entgegensetzen? Wollte er den Wurstelprater an den Zeitgeist anpassen?

Der ehemalige Firmling bestellt sich jetzt ein Herrengedeck. Den Klaren stürzt er mit einem Schluck runter. Das kleine Bier hat er geleert, als Matthias vom Klo zurückkommt. „Fertig?“ – „Zahlen bitte!“ Der Alte rutscht vom Barhocker und folgt uns, während er weiter von seinem Firmausflug faselt.

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20:00 Der Nazi-Sensometer schlägt Alarm und ortet eine perfide Verschwörung. „1888“ prangt über der Tür und auf jedem Grabstein vor der Fassade. „Das ist das Jahr, in dem Jack the Ripper Höchstform erreichte.“ – „Aha. Okay.“ – „Monster – Schlucht – Hölle“, informiert eine Leuchtschrift. Drinnen Labyrinth. Man durchschreitet es zu Fuß. Ich verirre mich. Da und dort szenische Grauslichkeiten aus Pappmaschee. Fletschende Kobolde üben sich im fachmännischen Gedärmerauswinden. Das endlose Geschrei und Gekreische hebt den Stresspegel. Die Dunkelheit, die macht das ganze eben dunkel. Beim Lift, der dann abstürzt, steht ein Liftboy. Mitten in der Geisterbahn. Jetzt erst verstehe ich das „Hölle“ an der Fassade. Nachdem ich den Lift verlassen habe, geht vor meiner Nase eine Tür zu. Gefangen im Korridor zwischen Lift und nächstem Raum. Ich langweile mich ein, zwei Minuten. Mir ist fad. Mir ist sogar so fad, dass ich überlege, was mich jetzt erschrecken würde. Und ja, hier ein bis zwei Stunden festzusitzen würde meine Langeweile in Panik verwandeln ...

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Der Friedl Holzdorfer und seine Sternstunde der Vergnügungsmenschheit ... 1933! Okay: Repression ist in. Terror ist in. Zerstreuung gibt’s im Vergnügungspark. Wir brauchen zeitgemäße Volksbelustigung, einen modernisierten Volksprater! – Ringelg’spü is da zu wenig, wird er sich gedacht haben, der Friedl. Achterbahn ist pipikack. Ewiges Rauf und Runter, Kurve hier, Looping da – das schockt nicht mehr, ist nicht mehr up to date im Hormonhaushalt der 1930er. Ihre von den Hungerjahren verzerrten, schiachn Gfrieser wollen die Leut auch nicht sehen. Zu arg. Unzumutbar. Spiegelkabinett ist also vollkommen out. Grottenbahn – out. Dschungelbahn – viel zu unmenschlich. Dracula, Frankenstein – das ist in! Monster mit menschlichem Antlitz, menschliche Monster, das Monster Mensch. Das wird er sich gedacht haben, der Praterkönig. Weiter geht’s in eine Schaukel. Im letzten Saal ersticht ein vogelscheuchenartiger Mörder sein weibliches Opfer. Im Minutentakt. Immer und immer wieder. In klapprig-mechanischer Ultrazeitlupe. Die Tür des Geisterhauses „Jack the Ripper“ geht auf. Ich bin frei. Der Eindruck: Es gibt zumindest einen Menschen am Planeten Erde, der diesen Ort zurecht grausam findet.


20:00 Uhr Jack the Ripper

20:00 Der Alte drückt mir eine Flasche an die Brust. Er kommt mir dabei so nahe, dass sein säuerlicher Körpergeruch in meine Nase steigt. „Ganz was Gutes! Aus steirischen Kriecherln.“ Sei mein Saufkumpan, befehlen seine geröteten Schweinsaugen. Ich geh zum Kaffeeautomaten am Eck und drück mir einen Espresso schwarz raus. Das Geisterhaus „Jack the Ripper“ im viktorianischen Stil ist die jüngste Gruselattraktion im Prater. Hinter trübem Fensterglas hebt ein Kerl das Messer zum finalen Stich. Ein weibliches Opfer kreischt. Messer und Schrei starten eine Filmszene in meinem Kopf: Ein Holzhaus wie dieses, nachts auf einem Hügel. Regen? Vielleicht. Dazu die Stimme vom irren Norman Bates, der sich mit seiner imaginären Mutter streitet: Psycho. Ich stecke den Jeton in den Schlitz. Hinter dem Drehkreuz führt ein Gang in muffige Dunkelheit. Figuren aus Holz werden gefoltert und erniedrigt. Folterknechte aus Pappmaschee schneiden und dehnen. Schreie und Spottgelächter. Zwischen den Szenen ist es finster. Dort werden meine Schritte vorsichtiger. Ich erwarte Norman, der aus der Wand bricht und mit dem Messer über mich herfällt. Statt dessen taucht Jack the Ripper auf und sticht einer Lady den Dolch in den Rücken – geräuschlos. „Wie hört es sich an, wenn ich jemandem eine Klinge in den Körper ramme?“, fragt Matthias. „Wie wenn du auf eine türkische Wassermelone einstichst.“ – „Hä?“ – „Mit dem Geräusch hat Hitchcock den Messer-Mord unter der Dusche im Film Psycho vertont ...“ Die Tür fällt krachend ins Schloss. Matthias ist verschwunden. Ich stehe mit dem Alki in einer Kammer, die jetzt zu schaukeln beginnt. Oder bewegen sich nur die Projektionen an den Wänden auf und ab? Jemand lacht im Dunkeln: „Schneller!“ — „Höher!“ Es stinkt nach Schnaps.

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21:00 Uhr Zum roten Adler  21:00

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„Onkel Rainer hat mir damals auch mein erstes Bier gezahlt“, erzählt der Alte, der uns wie ein Schatten verfolgt. „Ah ja“, meint Markus, „Firmausflug, hm?“ — „Jawohl, Firmausflug“, antwortet der Alte und wischt sich die schweißigen grauen Haarsträhnen aus der zerfurchten Stirn. „Ein Hundling war das, der Onkel Rainer, kannst du dir nicht vorstellen“, bricht es aus ihm heraus. „Da sind wir mit dem Riesenrad gefahren ... Und gesoffen hat der, das geht auf keine Kuhhaut mehr, das sag ich dir“, setzt er nach. Dann knallt er mir seine Pranke auf die Schulter und befiehlt: „Trink!“ Meine Knie wetzen sich am Waggon wund, als er sich in die unzähligen Kurven haut und lautstark durch die Eisentore stürzt. Der Alte und ich klemmen im Fahrgestell. Er hat sich zu mir in den Wagen gepfercht. Mein persönlicher Top-Horror: zu kleine Sitze. Monsterpuppen am Wegesrand huschen vorbei. Aber auch diese Bahn wird fade. Und zwar nach maximal 30 Sekunden ... Der Friedl denkt sich 1933: Was wir brauchen im Prater ist der Tod! Sonst kommen die Leut ja nicht mehr her. Angst, Schock und Horror. Da können’s dann Nachbildungen ihrer ausgemergelten Fratzen aus Pappmaschee angaffen und sich erschrecken und nachher sagen: Gott sei Dank nur a Pupperl! Da können’s sich dann anscheißen vor den Untoten, und sich davon ablenken, dass sie selber von solchen terrorisiert werden, draußen auf der Straße, im Parlament, im Bundeskanzleramt. Dass sie selber welche geworden sind. Dass sie der Bestialitäts-Virus selbst schon infiziert hat. Ablenkung brauchen’s – und Abhärtung. Ja, so soll’s sein. Mach ma a Geisterbahn! Das wird ein Hit! Die Tür geht auf, der Waggon hält an, der Spuk ist vorbei.


21:00 Der Alte will auf eine Runde Budweiser einladen, die wir aber nicht bekommen, weil wir im Gösser-Eck sitzen. „Nehmt‘s an Schluck – ganz was Gutes!“ Seine Schnapsflasche ist zur Hälfte leer, ich winke ab. Am Balkon der Geisterbahn „Zum roten Adler“ bewegt ein einsamer Pappmascheegorilla die Arme, als wolle er jemanden an sich drücken. Eine endlos wiederholte Bewegung, die ins Leere geht ... Der Trinker mit dem roten Kopf macht obszöne Gesten zur Kellnerin. „So, wir müssen jetzt!“, sag ich und stehe auf. „Immer weiter!“, grölt er und stolpert uns hinterher. Rein in den Wagen, dem wortkargen Kassier 3,50 Euro in die Hand gedrückt und los geht‘s. Im Blitzlicht tauchen hölzerne Schreckensgestalten auf, die seit 1951 mit Hilfe von Pressluft und Mechanik zum Leben erweckt werden. Der Thrill kommt, wenn überhaupt, auf den dunklen Strecken zwischen den Monstren. Das Grauen, wusste schon H. P. Lovecraft, ist das Ungewisse, das in der Finsternis scharrt. 160 Meter Schienen schlängeln sich durch die Geisterbahn. Der Wagen rattert in den ersten Stock und über eine Rampe wieder hinunter. Nach zwei Minuten ist’s vorbei. Die Dunkelheit am Fuße der Kellertreppe meiner Kindheit ist durch nichts zu schlagen, weiß ich, als ich aus dem Wagen steige. Da wartet schon der Alte, der sich mir in den Weg stellt: „Trink das, macht Spass!“

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21:30 Uhr, Zum Kuckuck  21:30

21:30

„Damals beim Bundesheer …“, plärrt der alte Typ und fängt an zu johlen: „Es steht ein kleiiines, kleines Eeedelweiß …“ Ich schau Markus fragend an. „... auf einer steiiilen, steiiilen Felsenhöh, ja Höh!“, grölt der Alte. Wir beschleunigen den Schritt. „Umgeben ist’s von Schneeee, ja Schneeee und Eis …“, lärmt es. Wir haben etwas Abstand gewonnen. „Das kleine Eeedel- … Eeedel- … weiß!“, brüllt er aus tiefster Kehle und hat uns beim Würstelstand „Zum Kuckuck“ wieder eingeholt. Die nette Standlerin klärt uns auf: Es gibt nur mehr vier Geisterbahnen im Prater. Die fünfte, das „Zombies“, wurde heuer abgerissen. War auch eine zum Durchgehen. Musste etwas Kurzatmigerem weichen, so die Dame, während sie Markus den fettigen Lángos über die Theke reicht.

„Stell dich der Herausforderung und beweise dein Können. FUN FAKTOR 3.000: FUN BALL!“, kracht es als Endlosschleife aus dem Lautsprecher nebenan. Brain-Fuck! Ob das bei der Würstelbudenfrau über die Wochen und Monate hinweg bleibende Schäden hinterlässt? Ich suche ein paar Euros aus meiner Hosentasche, um dem Säufer ein Ticket für diesen Fun-Ball-Irrsinn zu kaufen. Der Hindernisparcours auf zwei Stockwerken würde uns genug Vorsprung verschaffen, um den Typen loszuwerden. Der Alte führt jetzt einen Monolog mit einem Sandler. Der nickt ständig. Dass er zuhört, bezweifle ich. Den Schnaps nimmt er gerne. Drei Russen suchen schwarze Nutten. Ich will ihnen sagen, dass der Straßenstrich erst um 22:00 Uhr öffnet – Erlass der Stadtverwaltung. Doch die Russen haben es eilig. Ich suche in der Prater-App nach „S“ wie „Straßenstrich“ – dazu gibt’s keinen Eintrag.

Drei Männer schwanken uns entgegen. Einer bricht aus der Gruppe heraus und kommt auf mich zu. „Wo sind hier die schwarzen Frauen?“, erkundigt er sich harsch mit russischem Akzent. Mein Autopilot übernimmt: Die Hand schnellt hoch, zeigt die Straße entlang und es schießt aus mir heraus: „Up this way and then left.“


22:00 Uhr, Große Geisterbahn  22:00

22:00

Der uralte Eisenwagen rollt durch den schwarzen EingangsSchlund. Das Rattern der Räder, die sich durch die Geleise winden. Absolute Finsternis. Ein Scheinwerfer blitzt auf. Eine tellergroße Pappmaschee-Fratze klappt vor den Wagen. Der erste Schreck. Ich hör ganz kurz jemanden aufheulen. Okay. Das war ich. Dann wieder Schwärze. Drei bis vier Fratzen später konzentriere ich mich darauf, deren brachiale künsterlische Gestaltung zu studieren. Fast schon absurd primitiv. Eine Brücke, die einstürtzt, wieder jede Menge Pappmaschee und dann Ausgang. Die Große Geisterbahn, längste Geisterbahn des Praters: Sie setzt noch auf good old Vintage-Schreck. Es funktioniert.

Der Waggon mit Matthias rumpelt über den Balkon der Großen Geisterbahn, knallt gegen die Schwingtür und verschwindet. Ich sitze auf einer Holzbank, kaue auf meinem Zahnstocher herum und notiere: 1948 eröffnet. Englische Besatzungssoldaten schossen zum Zeitvertreib auf Geister – radikale Art der Angstbewältigung? ‘83 abgebrannt, 1985 neu eröffnet. Punkt. Der Zahnstocher zerbricht beim Kauen. Kleingeld für einen Espresso schwarz? Fehlanzeige, ging für das Funballticket drauf.


22:30 Uhr, Geisterschloss  22:30

22:30

„Waren eigentlich mal echte Menschen in der Geisterbahn und haben die Leute erschreckt?“, fragt Markus den Kassier des Geisterschlosses. „Ja, früher. Aber das ist jetzt verboten.“ – „Warum?“ – „Keine Ahnung, da müssen S’ beim Magistrat nachfragen.“ Im Madame Tussauds in London wird man nämlich noch durch Schauspieler erschreckt und in Deutschlands Vergnügungsparks gibt’s auch Horror-LiveErschrecker ...

„Dass es keine echten Geister mehr gibt, is mit der Modernisierung kumman. Olles muss sicherer und noch sicherer sein“, raunzt der Kassier. Ich klettere in den zweiten der sieben Wagen. „Vor gut zwanzig Jahren hat der Magistrat darauf hingewiesen, dass echte Geister nicht mehr gewollt sind. Man könnte ja jemand erschrecken ...“ Der Elektroantrieb startet und los geht’s. Krachend stößt der Wagen die klapprige Schwingtür auf und Dunkelheit verschluckt mich. Metallisches Gelächter, Knarren und Heulen. Monster im kurz aufblitzenden Licht. Rein in die Kurven, rauf und runter – das alles hat Tradition. 1948 neben den Ruinen der im Krieg ausgebrannten Geisterbahn von 1933 erbaut. ‘55 von den Kolnhofers übernommen. Und … was ist das jetzt? Lasereffekte! … ständig upgedated. Am Ende der Fahrt hält mir der Kassier eine Scream-Maske vor’s Gesicht. Eigentlich würde er lieber als Geist arbeiten, anstatt Tickets zu verkaufen.

Genau so stell ich mir die Geisterbahn der Zukunft vor: Ich geh, mich belustigend und nichts ahnend, zu Fuß durch ein Labyrinth wie jenes im „Jack the Ripper“. Plötzlich, nachdem sich vor dem Lift eine kleine Menschentraube gebildet hat, hält der Liftboy eine Hand in die Höhe. Zu sehen ein Joystick mit rotem Knopf. Mit der anderen Hand schiebt er das Hemd zur Seite. Zum Vorschein kommt ein Selfmade-Suicide-Kit der Marke „I don’t give a damn shit any more and blow myself up for god’s sake!“ Er schreit: „Alle auf den Boden! Kein Mucks, oder ich jag’ uns alle in die Luft!“ Und niemand würde noch einen Mucks machen. Ich schwör’s. Vielleicht würde er auch einen auf Dschihad machen und sich zu aller Schreck zu einem letzten Gebet niederlassen. Dann, irgendwann würde er den Knopf betätigen und die Lifttür ginge auf. Und alle würden auf ihre Kosten gekommen sein.

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Die Fahrt durchs Geisterschloss – mit scharf, will heißen: Lasershow. In der letzten Kurve dann die erste KunstblutSichtung überhaupt. Ein gepfählter Gummikopf erbricht es literweise. Als der Wagen das finale Tor ins Freie durchstößt, trifft mich ein Blitz. Kurzer Schreck, dann Gelächter. Der Kassier hat mir eine schlabbrige Gummimaske vors Gesicht gehalten. Er macht das bei jeder heraus kommenden Fuhre.

20. Mai  16:00 Uhr

„Kolnhofer?“ „Schauta mein Name vom Magazin über.morgen. Wegen dem Interview ruf ich an.“ „Aha, jo. Wonn soll ma´s denn mochn?“ „Samstag vielleicht?“ „Najo, schwierig.“ „Könnten wir einfach jetzt gleich ein Telefoninterview machen?“ „Oiso guat.“ „Frau Kolnhofer, glauben Sie als Geisterbahnbesitzerin an Geister?“ „Na, ich glaub nur on a Existenz nach dem Tod. Irgendwas is dahinter noch, oba kane Geister!“


23:00 Uhr, Praterstrich  23:00

23:00

Markus will jetzt mit einer Prostituierten über ihre Arbeit reden. „Warum denn?“ – „Na, weil s’ ein Teil vom Prater sind“ – „Mit Geisterbahnen hat das aber nur bedingt zu tun.“ – „Wie lang sie da stehn zum Beispiel würd ich sie fragen.“ – „Offenbar die ganze Nacht.“ – „Und was eine Dienstleistung kostet.“ – „Mit zehn Euro bist ba an Blowjob dabei. Ohne Gummi“, schaltet sich ein Stehtisch-Nachbar ein. Markus geht zum Würstelstand und kauft noch eine Dose Bier. „Die Ausweise bitte!“, fährt mir eine Frauenstimme ins Genick. Eine Polizistin in Zivil.

Dass wir jetzt hier stehen mit einer Dose Bier in der Hand, während hinter uns die Farben des Praters erlöschen, ist eher Zufall als Kalkül. Das Neonlicht der Würstelbude hat uns angelockt. Genauso wie die anderen Nachtschwärmer, die Burenheitln essen, oder billigen Sex suchen. Den gibt’s am Straßenstrich vor uns. Morgen das Interview mit der Geisterbahn-Lady, dann ist die Sache gegessen. Die strenge Blonde will unsere Ausweise sehen – geh bitte! Jetzt hamma die Zivil-Kiwarei am Hals! „Ja, ich bin Presse.“ – „Ja, er auch, mein Kollege. Recherchen, Sie wissen schon.“

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„Im Prater gibt’s drei Geisterbahnen und ein Geisterhaus. Die Konkurrenz ist recht groß?“ „Jo und das is ned unbedingt angenehm. Oba sogn ma so: Konkurrenz belebt des Geschäft. Do muss ich mir hoid wos einfoin lossn, wonn‘s ned funktioniert.“ „Im Geisterschloss haben Sie sich was einfallen lassen. Die Lasereffekte gibt’s bei den anderen Bahnen nicht.“ „Jo, oba sogn S’ des niemand, weil des braucht kana wissn! Sonst mochn‘s die anderen auch.“ „Woher holen Sie sich neue Ideen?“ „Die Laserspiele kenn ich aus einer Unterwasserbahn in Shanghai – die Chinesen sind do jo relativ sehr weit. Und do hob i gsehn, wie man a bissl wos aufmotzn konn.

A bissl wos hoid, weil so klane Bohnan wie meine kannst ned waß Gott wie umbaun. Will ich auch ned, weil es is a oide Bohn und solls auch bleibn.“ „Fürchten sich die Leute eigentlich, die mit Ihrer Geisterbahn fahren?“ „Na, des is jo nur Unterhaltung. Die Leute hom a Gaude damit. Die wolln sich ned beweisen, die wolln nur Spaß hobn.“ „Frau Kolnhofer, danke fürs Gespräch.“ „Jo, und schickn S’ mir so a Magazin, wo S’ des Interview abdrucken.“ „Machen wir. Auf Wiederhören“ „Wiedahean.“


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Am Anfang ging es um die Bäume Text: Markus Schauta, Fotos: Flo Smith

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E

rdogan, Sohn eines Seemanns aus dem Istanbuler Hafenviertel Kasımpaşa, steuert sein Land gerade in den wirtschaftlichen Olymp. Seit er 2003 Ministerpräsident wurde, hat sich die Anzahl der Autos auf den türkischen Straßen verdoppelt. Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s allen gut. Abgesehen von Pressefreiheit, Mitbestimmung und Transparenz. Denen steht im fauligen Bauch des Staatsschiffes die Kieljauche bis zum Hals.


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„Der Gezi-Park ist ein Park, kein Platz zum Besetzen.“ - Erdogan „Früher haben meine Freunde nicht verstanden, warum ich auf Demos gehe. Heute sind die alle hier“, sagt Kerem und schmunzelt. Noch vor einer Woche kämpfte er in den Straßen von Izmir gegen die Polizei. Jetzt sitzt er im Gezi-Park vor seinem Zelt und ist fest entschlossen zu bleiben. „Vielleicht erreichen wir nichts, aber es ist unsere Verantwortung Widerstand zu leisten“, sagt der Anarchist und schiebt mir einen Plastiksessel hin. In den vergangenen zwei Wochen ist im Gezi-Park eine Zeltstadt gewachsen. Zwischen den Bäumen hängt der nach gegrilltem Fleisch duftende Rauch von Holzkohlen. Fahnen und Spruchbänder flattern im Wind. In Sitzkreisen politisieren die Menschen bei Efes-Bier, tanzen zu türkischer Volksmusik. Andere räumen Abfall weg oder versorgen die Camper mit Wasserflaschen und Decken. Das Pressezentrum füttert das Internet mit News vom Protest und nimmt

mit der Free-Speech-Kamera die Solidaritätsbekundungen von Parkbesuchern auf. „Am Anfang ging es um die Bäume“, sagt Kemal, der sich zu uns gesetzt hat. Er hält inne, um sich eine Zigarette anzuzünden. Inzwischen sei der Park zum Symbol für die Unzufriedenheit mit Erdogans Politik geworden. „Kannst du dir vorstellen, was hier vor zwei Wochen los war, als die Polizei den Park räumen wollte? Hunderte Verletzte, aber die staatlichen Medien haben nichts darüber berichtet!“ „Gezi-Park ist zurzeit save heaven“, sagt Kerem. Viele Kamera-Teams seien daher nach Ankara und Izmir gefahren. „Aber nach dem Wochenende geht’s hier wieder los“, vermutet er, „vielleicht auch früher.“ Als er aufsteht, um Wasser zu holen, sehe ich Gasmaske und Schutzbrille, die griffbereit an der Zeltstange hängen.


„Wer seid ihr, dass ihr über mich entscheidet? Es ist nicht eure Sache.“ - Erdogan

Der Taksim-Platz ist voll von Menschen. Die Polizei, so denk ich mir, kann unmöglich jetzt einen Einsatz starten, die Menschen würden sich auf der Flucht vor Tränengas und Gummigeschossen zu Tode trampeln. Die Menge hat sich dem Atatürk-Kulturzentrum am Rande des Platzes zugewandt. Die Front des Betonkastens aus den 70ern ist mit Transparenten behangen, die der Welt sagen, was die Demonstranten von Erdogan halten. Hoch oben, am Dach des Kulturzentrums, schwenken eine Handvoll Menschen Fahnen und zünden Bengalische Feuer, die sich in den blassblauen Himmel brennen. Ich habe mich einer kleinen Pressegruppe angeschlossen, die runter zu den Barrikaden will. „Wir treffen uns beim Eingang zum Kulturzentrum“, sagt jemand. Dann spült mich das Menschenmeer weiter, drängt mich an die verbeulte Karosserie eines gelben Übertragungswagens. „Rache für die Pinguin-Doku“, sagt Flo, ein Freelancer aus Innsbruck, der plötzlich wieder neben mir steht. CNN-Türkei habe irgendeine Tierdoku über Pinguine ausgestrahlt, während die Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern die Demonstranten vom Taksim fegte. Die Scheiben sind eingeschlagen, die Reifen platt – ein unmissverständlicher Aufruf an den Sender, seinen Aufgaben nachzukommen. Ich treffe die Kollegen in der Gasse, die zum Eingang des Kulturzentrums führt. Die Portiersloge ist unbesetzt, das Tor steht offen. Plötzlich laufen alle los, über den Parkplatz, rein ins Gebäude. Durch die riesige Glasfront einer Beton-Halle fällt trübes Licht. Menschen, die durch die zerbrochenen Fensterscheiben den Taksim knipsen, nehme ich als dunkle Silhouetten im aufgewirbelten Staub wahr. Ich zähle die Stockwerke nicht, die wir über ausgeschlagene Betontreppen hinauf laufen. Vor dem Zugang zum Dach staut es sich. Irgendein Ordnungshüter mit oranger Weste stellt sich uns in den Weg: „Ihr dürft erst rauf, wenn die anderen runter gekommen sind.“

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„Letzte Warnung!“ - Erdogan

Schwindel ist, wenn du meinst zu fallen, noch bevor es passiert. Die Spitze meines Turnschuhes schließt mit der Kante des Daches ab. 30 Meter tiefer jubeln die Menschen und schwingen Fahnen. An manchen Stellen steigt Rauch aus der Menge auf. „Sie feiern eine Party, aber noch ist nichts gewonnen.“ - „Doch“, sagt Michael aus Paris, „eine junge Generation ist aufgestanden. Damit ist fast alles gewonnen.“ „Zurücktreten!“, brüllt ein Mann in oranger Weste, der sich um die Sicherheit der Leute sorgt. Hektische Bewegungen der Fotografen, die zum anderen Ende des Daches laufen. Dort steht im weißen Abendkleid mit Seidenhandschuhen eine blonde Frau. Steht da, unter der blutroten Türkei-Flagge, mit gefiederten Engelsflügeln, die sich im Wind bewegen. Ein Dutzend Kameras sind auf sie gerichtet, fahren ihre Objektive aus und wieder ein und klacken was das Zeug hält. Das Knattern eines Hubschraubers lässt mich aufblicken. Vom Gezi-Park kommend umkreist er das Hochhaus. Zischend flitzen zwei Feuerwerksraketen vom Dach Richtung Hubschrauber. Der Engel ist verschwunden.


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„Unter den Demonstranten sind Extremisten, einige sind in den Terrorismus verwickelt.“ - Erdogan Vom Taksim-Platz schlängelt sich eine breite Straße zum Fußballstadion runter. Wir kommen an Barrikaden aus Bauzäunen vorbei. Am Ende der Straße, dort wo sie zum Dolmabahçe Boulevard abbiegt, ist eine Grünfläche. Während der Tag sich über das Goldene Horn nach Westen zurückzieht und der Nacht Platz macht, lassen sich immer mehr Menschen unter den Pinien nieder. Unten am Boulevard steht ein Wasserwerfer bereit. Polizisten mit Gummimunition und Tränengasgranaten warten in den Mannschaftsbussen. Wenn die Polizei losschlägt, wird sie es hier tun.

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Ohne meine Augengläser sehe ich durch die Schwimmbrille nicht besonders weit. Guy Fawkes, der auf der anderen Straßenseite mit einer Eisenstange Randsteine herausbricht, nehme ich nur verschwommen wahr. Dass der Mundschutz aus Stoff das Tränengas lange abhalten wird, bezweifle ich. „Wenn du Tränengas in die Augen bekommst, spül‘s mit Wasser aus.“ - „Essigwasser soll gut helfen“ - „Tres mal! Am besten wirkt Talcid, vermischt mit Milch.“ - „Unsinn, reines Placebo!“ Ich ziehe mir den Atemschutz vom Mund und stecke die Plastikbrille in die Tasche – dieses 5-Euro Riot-Package, das ich heute Morgen am Taksim gekauft habe, überzeugt mich nicht. „Besser als nichts“, kommentiert Flo, an dessen Gürtel Gasmaske und Schutzhelm hängen. Zwölf Barrikaden liegen zwischen mir und dem Taksim-Platz und ich beschließe, mich ganz schnell dorthin zurückzuziehen, wenn‘s kracht. Wie jeden Abend hat sich die internationale Presse hier versammelt. Journalisten aus Frankreich, Österreich und Spanien lagern im Gras. Verstreut am leicht abfallenden Hang liegen Splitter von Pflastersteinen – Überreste der letzten Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten. Solange es Pflastersteine gibt, ist das Volk immer bewaffnet, schrieb Hemingway irgendwo. Per SMS wird jemand informiert, dass es im Arbeiterviertel Gazi Ausschreitungen gibt. „Nehmen wir ein Taxi.“, schlagen die Franzosen vor. „Wohin genau?“ - Niemand weiß es - „Die Straßenkämpfe sollen heftig sein.“ - „Ich kenn‘ das Gebiet nicht, zu riskant.“ Wir bleiben wo wir sind.


„Ich hoffe, dass heute Abend alles vorbei sein wird.“ - Erdogan

Als das Gas kam, war ich schon lange fort. Bulldozer durchbrachen die Barrikaden und schaufelten weg, was von Ziegeln und Bauzäunen übrig geblieben war. Zwischen den Bäumen im Gezi-Park hängt der beißende Gestank von Tränengas. Fahnen und Spruchbänder am Kulturzentrum wurden heruntergerissen. Die Familien und Sympathisanten sind geflohen, kein Tanz und kein Efes-Bier. Ich erspare Ihnen die Details. Was das Tränengas angerichtet hat; die Festnahme der Anwälte, die gegen das brutale Vorgehen der Polizei protestierten; die hohen Geldstrafen für Sender, die live von den Protesten berichteten. Das Ausforschen jener Ärzte, die verletzten Demonstranten geholfen haben. All das würde Sie und mich nur deprimieren. Bei den Unruhen in der Türkei sind bisher vier Menschen gestorben, 5.000 wurden verletzt. Stand: Istanbul, 12.Juni 2013

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Die unmögliche Rezension reizvoll: Ein Erotikmagazin für Frauen

Text: Jakob Arnim-Ellissen, Kommentar: Clara Gallistl Fotos: Christopher Glanzl

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F

ür manche Geschichten ist man geboren. Etwa ein Erotikmagazin   für Frauen zu rezensieren. Als Mann. Genderfettnäpfchen sind unvermeidlich, Klischees unumgänglich, die Aufgabe unerfüllbar. Also scheiß drauf, ich geh einkaufen.


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Glück gehabt, die zweite Trafik hat ein Hinterzimmer. Klein, voller Magazine und abgetrennt vom gut besuchten Zigarettenverkaufsraum. Hier kann ich suchen, ohne neugierigen Blicken ausgesetzt zu sein. Und werde fündig zwischen dem „Missy Magazin“ und „Für mich“, direkt über den „Stricktrends“. „reizvoll“, gleich das einzige Erotikmagazin, das ich je gekauft haben werde. Ist das ungewöhnlich für einen 28-jährigen Mann? Nun, „reizvoll“ zu kaufen vermutlich schon. Erstens richtet es sich speziell an Frauen und zweitens halte ich gerade die erste Ausgabe in Händen. Und ist es seltsam, noch nie eines von den vielen Männermagazinen gekauft zu haben? In Zeiten des Internets bin ich selbst damit wahrscheinlich nicht alleine. Für den ersten Playboy in der Schule reichte schließlich der eine, ganz besonders coole Mitschüler und als es dann wirklich interessant wurde, bot das Internet längst alles, was sich ein pubertierender Jugendlicher so erträumen kann. Und noch viel mehr. Warum also, hätte ich mir diese peinlichen Momente in der Trafik je antun sollen? Und ja, es ist mir peinlich. Ich freue mich tatsächlich über das Hinterzimmer, achte besonders auf die Reaktion des Trafikanten. Gut, das Ausbleiben der Reaktion. Und dann ist mir peinlich, dass mir das Ganze peinlich ist und schreibe einen Einstieg.

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Kommentare

Das ist sehr klischierend gedacht. So baust du als Redakteur ein Klischee, anstatt Klischees durch die Reportage aufzubrechen.

Desiree Kratochwil ist das Ganze überhaupt nicht peinlich. Sie ist 29 Jahre alt, arbeitet bei einem Verlag, studiert Journalismus und hatte schon vor fünf Jahren eine Idee: „Eine Studienkollegin hat mir ein deutsches Erotikheft für Frauen auf den Tisch gelegt. Da habe ich mir gedacht, warum gibt es sowas in Österreich nicht?“ Wir sind in ihrer kleinen Wohnung in Mödling, gleichzeitig Büro und Redaktion des Magazins. Auf dem Sofa sind kartonierte Coverentwürfe verstreut. Im Schlafzimmer hängen alle 82 Seiten der ersten Ausgabe über dem Bett und am Schreibtisch zeigt ein Laptop die Website des Magazins. Überhaupt gibt es kaum einen Raum, in dem das Projekt keine Spuren hinterlassen hat. Vor sich eine Pressemappe, sitzt Desiree Kratochwil am Esstisch und erzählt lakonisch unaufgeregt, was hinter all dem steckt: eine Marktlücke. Denn wer sich von der Herausgeberin des jüngsten österreichischen Erotikmagazins eine schmuddelige Lebensgeschichte im entsprechenden Milieu erwartet, wird enttäuscht.

Und auch mit feministischer Aufklärungsarbeit hat sie wenig am Hut. Das Thema interessiere Frauen, also sei Platz für ein Nischenheft – so einfach (und fern jeder Peinlichkeit) ist das für sie. Nüchtern abgeklärte Geschäftsidee, erst noch mit wenig Sex. Bis das Projekt spruchreif und die Marktlücke geschlossen war, dauerte es aber eine ganze Weile. Und dann – hallo Klischee – war es ausgerechnet der drohende dreißigste Geburtstag, der den notwendigen Motivationsschub gab. Denn „ihr Projekt“ wollte Desiree Kratochwil unbedingt davor umsetzen. Dazu hieß es Gas geben. Jede freie Minute wurde in das Magazin investiert. 30 Stunden pro Woche, neben Job und Studium. StudienkollegInnen als unbezahlte Schreiberlinge und Websitemacher rekrutiert, Markenrechte gesichert, Vi-


sitenkarten gedruckt, Fotoshootings veranstaltet, Druck und Vertrieb organisiert, das Privatauto mit dem Magazinlogo verziert – eine ungeordnete und unvollständige Liste, an deren Ende jedenfalls das fertige Magazin steht. Natürlich war das alles nicht gratis und da AnzeigenkundInnen noch skeptisch waren, flossen auch die Ersparnisse in das Projekt – bisher über 10.000 Euro. Keine kleine Investition und das, obwohl ihr bewusst ist, dass sie nichts Einfaches vorhat. Nackte Haut und das gedruckte Wort klingen heute schließlich nicht unbedingt nach wirtschaftlich überzeugenden Argumenten. Für die Dosis Erotik muss man längst nicht mehr in den schmuddeligen Sexshop oder die Trafik im nächsten Bezirk. Wo wir uns doch nicht einmal mehr die Tageszeitung kaufen. Ein paar Mausklicks genügen, anonym, kostenlos und in jeder vorstellbaren Variation.

Warum also, hat sie es nicht bei einer Website belassen? Hätte das doch den Aufwand erheblich verringert, das Risiko minimiert und die wirtschaftlichen Erfolgschancen wären wohl auch nicht kleiner gewesen. „Ich wollte etwas in der Hand halten.“ Es geht ihr um das Haptische, sie möchte das Ergebnis all ihrer Anstrengungen angreifen, durchblättern können. Und ins Regal stellen. Gäbe es nicht das Internet, es wäre eigentlich so offensichtlich: Erotik ohne Angreifen, da fehlt doch was!

Die Variationen von kostenloser Pornographie im Internet beschränken sich leider meist auf gewaltverherrlichende Narrativa und/oder zeigen sich an männlichem Publikum orientiert. Die gängigste Pornodarstellungsform zeigt so Frauengesichter an der Lust/Schmerz-Grenze und männliche Oberkörper, die Macht ausüben.

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Und auch wenn ihr von Anfang an klar war – und bei der Produktion der ersten Ausgabe immer klarer wurde – wie schwierig es heute ist, ein Magazin auf die Beine zu stellen, zeigt sie sich von ihrer Geschäftsidee zumindest vorsichtig überzeugt. Trotz der Probleme beim Keilen von Anzeigen und hohen Vertriebskosten. Trotz Internet und Zeitungssterben. Mit dem ersten Heft als Anschauungsobjekt, so hofft sie, werden auch die WerberInnen ihre Scheu ablegen. Ihr langfristiges Ziel: In einem Jahr, also nach vier Ausgaben, soll „reizvoll“ sich selbst finanzieren. Bis dahin ist sie bereit, ihr eigenes Geld hineinzustecken. Raus aus der Trafik und rein in die Straßenbahn. Beim Durchblättern des Heftes wird mir schnell klar, um meinen guten Ruf muss ich mir kaum Sorgen machen. Trotz Stoßzeit. Denn die Aufmachung kommt kaum freizügiger daher als das letzte News über Österreichs Schlafzimmer. Die Woman meiner Sitznachbarin. Oder die überlebensgroße Skinny-Werbung vorne an der Straßenecke. Gründe dafür gibt es mehrere. Erst einmal muss sich das Magazin an gewisse Regeln halten, um nicht als Pornografie eingestuft zu werden.

Ein junges, modernes Erotik-Magazin für Frauen, das Angst vor der inhaltlichen Grenze zur Pornographie hat, finde ich langweilig.


Dann entscheidet jedeR TrafikantIn selbst, wo das Heft im Geschäft platziert wird – bei zu gewagter Optik droht es schnell in den einschlägigen Ecken verräumt zu werden. Ein Problem, wenn es um Laufkundschaft, der Supergau, wenn es um weibliche Laufkundschaft geht. Und natürlich reizen auch viele herkömmliche Magazine zumindest optisch die Grenze zwischen Erotik und Pornografie aus.

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Lob an den Redakteur! Sehr schöne Formulierung mit doppelter Codierung. Die Progression des Bücherstapels deutet wie versehentlich eine Errektion an. Schön, dass der Text über die Erotik, an dieser Stelle erotisch ist.

Die Vorsichtsmaßnahme gegen Sexismus besteht aus Wording und homosexuellen Themen? Wenn sich ein Magazin als „Frauenmagazin” darstellt, muss vor allem der Begriff „Frau” aufgearbeitet werden. Die Frage stellt sich ob die Trennung in Frauen- und Männermagazine nicht schon unter Sexismusverdacht steht. Darauf muss die Herausgeberin reagieren!

Das Problem, dass Sex und Erotik ständig verfügbar sind, dass ihre vermeintliche Marktlücke fast den Breitenmarkt zu übernehmen droht, ist auch Desiree Kratochwil bewusst. Doch sie sieht darin auch eine Chance. Schließlich sei die Gesellschaft in Bewegung gekommen. Auch wenn nicht alle Tabus verschwunden seien, die Berührungsängste, die würden abnehmen. Und existierende Frauen- und Lifestylemagazine – und wer sonst noch so aller Schlafzimmergeschichten bringt – würden dem kaum gerecht. Denn: „Das ist immer Einheitsbrei. Sie gehen nie wirklich ins Detail, bleiben oberflächlich. Auch die Themen heute sind dieselben, wie vor fünf Jahren.“ Um dem zu entgehen, hat sie viel recherchiert. In den deutschen Frauenmagazinen, die sie erst auf die Idee gebracht haben, aber auch in Männermagazinen und diversen Büchern. „Feuchtgebiete“ und „Schoßgebete“ von Charlotte Roche, „Das Penis Buch“ und „Das Vagina Buch“, „Ich hab mich unabsichtlich auf den Staubsauger gesetzt“, „Je kürzer desto länger“, „Sex in Wien“ ... der Turm vor ihr wird immer höher.

Habe ich mich vorher über zu wenig Sex beschwert? Nein, es ist nicht nur eine Geschäftsidee, es ist auch ein Thema, das Desiree Kratochwil interessiert. Und über das sie gerne und viel spricht. „Egal mit wem man redet, irgendwann kommt man immer darauf. Es gibt niemanden, den das nicht betrifft und es ist ein Thema, das sich nicht erschöpft.“ Sollte nach vier Ausgaben wirklich Schluss sein, dann wird es nicht daran gelegen haben, dass ihr die Ideen ausgegangen sind. Menschen, die über Sex reden – das ist dann auch das erste „reizvoll“. Mehr Leseheft als optisch stimulierend. Liegt das an den so umstrittenen Unterschieden zwischen Mann und Frau? Könnte man jedenfalls glauben, wenn man Desiree Kratochwil zuhört: „Das größte Lustzentrum der Frau ist ihr Kopf. Der Mann geht immer nach dem Optischen.“ Apropos Klischee: Dass es gerade bei diesem Thema nicht so leicht ist, ebendiese zu vermeiden, ist auch ihr bewusst. „Man muss sehr aufpassen, dass es nicht plump wirkt. Es muss immer ein bisschen anders sein.” Schwer zu vermeiden sind auch eingefahrene Rollenbilder. Doch vor Sexismusvorwürfen hat sie keine Angst. „Wir haben wirklich darauf geachtet beim Wording. Und wir haben ja auch homosexuelle Themen.”


Obwohl ein Mann, fange ich trotzdem mit den Artikeln an. Vielleicht aber auch nur, weil ich immer noch in der Straßenbahn sitze. Ein Interview mit einer Domina, der Reiz reifer Frauen, Poledancing, Sex im Freien, Sex im Auto, Fremdgehen – es liegt wohl an der Umsetzung, ob die Abgrenzung vom Einheitsbrei gelingt. Auch in den Texten scheint der Fokus aber auf Information und nicht Stimulation zu liegen. In launigen und durchaus interessanten Geschichten - die an dem einen oder anderen Klischee dann doch nicht vorbeikommen - wird das Thema Erotik journalistisch aufgearbeitet. Und bleibt dabei, zumindest in dieser ersten Ausgabe, Gespräch über Erotik, das nur selten selbst erotisch wird. Ich jedenfalls höre weiter zu, als ich längst zuhause angekommen bin. Zu verlockend ist der Blick auf Erotik von Frauen für Frauen ... ob und wie das Heft für die eigentliche Zielgruppe funktioniert, da sollten andere gefragt werden.

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foto: max tyler artist: triko wallace







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Von der neuen Transparenz Text: Clara Gallistl, Fotos: Alexander Gotter

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Frank Stronach will Österreich wahrer, transparenter und fairer machen. Rund um seinen Hauptwohnsitz hat der Neopolitiker eine in Österreich bisher unbekannte Wohnform umgesetzt. Im Lokalaugenschein gehen eine Reporterin und ein Fotograf dem neuen Gesellschaftsvertrag auf den Grund, der im Wohnparadies „Fontana“ das Licht der österreichischen Welt erblickt hat.

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Über die Südautobahn fahren wir an der Anschlussstelle Traiskirchen ab, erst die Schlosssee-, dann die Magnastraße entlang und nehmen im ersten Kreisverkehr im Ortsgebiet die erste Ausfahrt. 30 Kilometer von Wien entfernt sind wir erstaunlich unkompliziert und schnell im niederösterreichischen Grün. Über die Andeutung einer historisierenden Brücke, die über die Andeutung eines Grenzbaches führt, sind wir mit unserem kleinen Peugeot auf der Fontanaallee gelandet. Der Eingang ins „Wohnparadies“ hat uns überrascht. Statt der erwarteten Sicherheitstore, Wachmänner und Kameras fotografiert Alex ein

Da wohnen schon überall Leute, die gehören zu Magna. Die arbeiten jetzt wahrscheinlich. Arrangement, das der Disney-Version einer mittelalterlichen Zugbrücke ähnelt. Ein paar hundert Meter weiter bietet sich die erste Möglichkeit den Wagen zu parken. Wir steigen aus und stehen in einem Siedlungsgebiet, das den Werbefotos, die wir von der Homepage kennen, tatsächlich richtig ähnlich sieht. Während Alex losläuft, um erste Bilder zu schießen, stehe ich wie angewurzelt da. Ich würde mich gern auf eine Parkbank setzen, um den Eindruck der Miniatur-Südstaatenvillen auf mich wirken zu lassen, finde aber keine Verweilstation und beginne einen Fuß vor den anderen zu setzen.

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Das hier ist also Fontana. „Natur, Sport und Kulinarik vor der Haustüre“, „ein Biotop der Lebens- und Wohnfreude“, hatte die Homepage versprochen. Auf der Suche nach meinem Fotografen und der angekündigten Lebensfreude finde

ich tatsächlich ein kleines Baumhaus im äußersten Eck eines großen Gartens versteckt, das ein bisschen ungeplant und selbstgezimmert aussieht. Den Garten betreten können wir leider nicht. Die Beschaulichkeit der Wohnsiedlung wirkt: Ich traue mich nicht, mich zwischen parzellentrennende Hecken hindurch in den privat-luxuriösen Garten zu drücken. Eine halbe Stunde südlich von Wien ist hier eine Parallelwelt aus luxuriösen Appartments und Einfamilienhäusern entstanden. Der Grundstückspreis liegt nicht weit über dem durchschnittlichen eines Grundstücks in der Gegend Oberwaltersdorf. Doch die vertraglichen Vereinbarungen über Art und Geschwindigkeit des Hausbaus sowie die zu hinterlegende Kaution (falls man sich den Regeln der Siedlung zuwider verhält oder es versäumt, die massigen Betriebskosten zu bezahlen) ziehen die Grenze sehr deutlich zwischen denen, die es sich hier leisten können, und den anderen. Während wir zwischen den historisierenden Villen umher streunen, hält ein gelbes Postfahrzeug in unserer Nähe. Nachdem uns auch nach einer Viertelstunde keine BewohnerInnen begegnet sind, möchte ich vom Postler wissen, ob hier überhaupt Leute wohnen. Außer den Menschen hinter vereinzelten BMW- und Mercedes-Lenkrädern haben wir in der Wohnanlage nur GärtnerInnen gesehen. „Da wohnen schon überall Leute, die gehören zu Magna. Die arbeiten jetzt wahrscheinlich.“ Trotz der Erklärung des Postlers wirkt die Atmosphäre auf den Straßen hier irgendwie eigenartig. Die Sauberkeit der Straßen und Wiesen wird durch die Offenheit der Flächen unterstützt. Hell, offen, sicher wirkt hier alles. Niedrige Hecken, keine Gartenbänke, die Zäune zwischen den Parzellen bilden Abgrenzung ohne Sichtschutz. Sogar die meisten Gärten hinter den Häusern sind durch die Kreisstruktur der Wohnstraßen einsehbar. Künstlich angelegte Vorstadtidylle?


Die Geschichte des niederösterreichischen Fontanas beginnt 1994 mit einem etwas größeren Shopping-Trip. Frank Stronach erwirbt Schloss Oberwaltersdorf samt Gut, bezieht das Schloss, lässt den Gutshof und die alte Brennerei abreißen und an ihrer statt die Europazentrale des metallformenden Magna-Konzerns gestalten, dazu einen Golfplatz, ein Clubrestaurant und eine Tennishalle mit Außenplätzen. Die 2010 eingetragene Fontana Sportveranstaltungs GmbH ist als Bauträgerin für Erstellung und Vertrieb der Wohnimmobilien, die zwischen Konzernzentrale und Golfclub einen neuen Ortsteil bilden sollen, zuständig. Der Name der neu entstandenen Lebensgemeinschaft: „Fontana“. Eine Gated Community, Paradies einer vermögenden sozialen Gruppe, die sich in ihrer gemeinsamen Leidenschaft für Golf und Tennis verbunden sieht. Kann das für die OberwaltersdorferInnen okay sein? Beschwert sich hier niemand über die gesäuberte Oase inmitten der trostlosen Gegend Niederösterreich? Auf der Suche nach kritischen, pointierten, zitierfähigen Aussagen finden wir die Terrasse des Clubrestaurants, den Ausblick auf den frisch angelegten See, dessen Stille nur von frühlingshaftem Vogelgezwitscher und hin und wieder einem abgeschlagenen Golfball unterbrochen wird. Aus dem Nichts hat die Idylle unseren Arbeitsethos gebrochen. Leicht und frei ist die heile Welt auf unser Gemüt gesunken und hat uns eingelullt. Den Fotoapparat zur Seite gelegt, sitzt Alex im gemütlichen Gartenmobiliar, auf dem Tisch vor uns zwei Melange in weißen Tassen, eine Topfpflanze in hellen Blüten auf Porzellangeschirr. Vor uns das hellblaue Wasser, über uns der strahlende Himmel, eine Frühsommerbrise, zuvorkommendes Personal … „Krass, es ist so ruhig hier“, unterbricht Alex die Stille, „Mein Kopf ist den ganzen Tag über so voll mit Dingen, die ich erledigen muss, und jetzt –“ er lacht, „Das ist so entspannend hier! Ich fühl mich wie auf Urlaub.“

– „Kann man bei Ihnen Zimmer mieten?“, frage ich die Kellnerin der Fontana Sportsbar, Mitte zwanzig, ein Piercing im linken Ohrläppchen. Sie lächelt komplizenhaft, als wisse sie, dass ich auf den von Vermögenden reservierten Luxus der Anlage anspiele. „Nein, mieten können Sie hier nichts. Aber so ein Haus können Sie sich kaufen.“ Sie zeigt ans linke Ufer des Sees, lacht und stellt unsere großen Gläser Leitungswasser auf den Tisch. Auf der edlen Speisekarte sind auf dunkelgrünem Hintergrund zentriert zwei mal drei SchwarzWeiß-Fotos von Golfern aus verschiedenen Jahrzehnten angeordnet. Das Mittagsmenü schlägt uns knusprige Kalamari auf roh mariniertem Fenchel-Rucola-Salat um 13,80 Euro vor. Was für Leute hier wohnen, frage ich die Kellnerin, das sehe ja aus wie bei Desperate Housewives. Wieder lacht sie kurz und meint: „Ganz normale, aber das Nötige – muss man schon haben.“ Sie rubbelt ihre Finger in der interna-

Das Nötige muss man schon haben.

tional verständlichen Geste für Geld aneinander und zieht für einen Moment ihre Mundwinkel gespielt angeberisch nach unten. Mit einem Mal sieht sie den Herren am Nebentisch erstaunlich ähnlich, die sich in Krawatte und Anzug mit bronzener Anstecknadel im Revers über die Schönheit der Kapelle im benachbarten Traiskirchen unterhalten. An die dort recht unluxuriös untergebrachten Flüchtlinge verschwendet hier wohl niemand Gedanken. Alex und ich beschließen, nicht hier, sondern im „echten“ Ort zu Mittag zu essen. Im angedeuteten Ortszentrum finden wir jedoch nur ein schon länger geschlossenes Gasthaus

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und einen Kebab-Stand. Darauf habe ich keine Lust. Wir suchen weiter und finden schließlich an der Bundesstraße unweit einer Fahrschule, die mit betonierten Handabdrü-

Da darf man sich halt nicht wundern, wenn man in der Nacht drinnen spazieren geht und plötzlich fährt ein Security-Auto ganz langsam neben einem. cken von amerikanischen Filmstars wirbt, das “Kristall”. Zufrieden über unseren Spezialitäten-Tellern sitzend, frage ich den vorbeigehenden Koch nach den BewohnerInnen von „Fontana“. Gibt es Berührungspunkte zwischen denen in Fontana und denen hier im Ort? „Es gibt zwei Gruppen von Leuten da drüben. Die einen fahren in der Früh in die Firma mit ihrem Laptop. Da wohnen ja die ganzen Politiker und auch Sportler. Die haben die Frau und die Kinder da. Weil

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es ist halt sehr sicher wegen der privaten Security. Magna gibt vor, wie die Häuser auszusehen haben. Da gibt es enge Regeln. Aber: picobello der Rasen! 20 Gärtner und alles. Da darf man sich halt nicht wundern, wenn man in der Nacht drinnen spazieren geht und plötzlich fährt ein Security-Auto ganz langsam neben einem.“ Das klingt jetzt schon ziemlich nach den amerikanischen Vorbildern der Gated Communities, die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts wachsender Beliebtheit erfreuen. Geschlossene Wohnkomplexe werden auf verschiedene Art zugangsbeschränkt, um Sicherheit und Abschottung zu bieten. Eine Erhebung aus dem Jahr 2000 zeigte, dass zu diesem Zeitpunkt 3,2 Prozent der amerikanischen Gesamtbevölkerung in Gated Communities lebten. In Österreich scheint Fontana den ersten Vorstoß in diese Richtung Wohnbau zu geben, doch finden sich außer der unter Vegetation versteckten Umzäunung der Anlage keine einlassverweigernden Objekte oder Subjekte vor. Die Einfahrt lässt zwar an die potenziell leichte Anbringung eines Schrankens denken, doch vorhanden ist keiner. Keine Wachhütte, keine sichtbaren Überwachungskameras, kein Tor, keine Zugbrü-


cke über dem ästhetisierten Wassergraben, über den die Straße (im öffentlichen Besitz) in die Wohnanlage führt. Angesichts der Luxus-Sport-lastigen Ausrichtung des Gesamtparks, wirkt das Wohnprojekt des Magna-Konzerns eher als „Golf and leisure community“. Diese raumplanerische Sonderform einer am Lebensstil ihrer BewohnerInnen ausgerichtete abgeschlossene Gesellschaft, stellt das gemeinsame Interesse des Golf-Sports ins Zentrum der Gemeinschaftskultur. Wie im Lehrbuch für Wohnraumplanung bildet auch im niederösterreichischen Fontana das Clubrestaurant das Herz des Komplexes. Das Angebot ist perfekt auf eine Oberschicht zugeschnitten, die gerne abgegrenzt von anderen in Ruhe, Naturnähe und kultureller Homogenität wohnen möchte. „Die zweite Gruppe verbringt halt ihren Lebensabend da“, fährt der Koch aus dem „Kristall“ fort. „Die spielen Golf, sind am See. Die fahren dann auch mal mit ihrem Golfwagerl daher zum Billa, essen auch bei uns. Die mischen sich ein bisserl mehr drunter. Die anderen sieht man ja gar nicht. Außer in der Früh“, der Koch lacht, „da sieht man immer die Jogger, 15, 20. Die joggen. Das schaut witzig aus.“

Vor dem Wirtshaus „Kristall“ war mir ein schildbehangener Maibaum aufgefallen. Wie die Wirtin, die uns Kaffee und Nachspeise bringt, erklärt, zeigen die Schilder jene Gilden an, die gemeinsam die Oberwaltersdorfer Herrengilde bil-

Warum er sich das mit der Politik antut, frag ich mich.

den. Auf meine Frage, ob sie es komisch finde, dass es reine Männerbünde wie die Herrengilde überhaupt gäbe, zuckt die charmante Wirtin mit den Schultern: „Als Frau fang ich da gar nicht zum Mitreden an. Das bringt gar nichts. Im Fasching machen sie oft so Sketches, da verkleiden sie sich auch als Frauen. Das ist schon witzig manchmal. Aber die rennen ja auch so während des Jahres in ihren Kostümen herum. Rote Sakkos, schwarze Hosen und so graue Hüte. Auch bei Trauerzügen, wenn einer von denen gestorben ist.“ Eine ebenso skurrile wie gruselige Vorstellung macht

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kommen wir zufällig mit dem zehnjährigen Felix ins Reden. Er erzählt uns vom alljährlichen Kinderadvent. „Mit dem Ticket kommt man hinein, aber auch wieder heraus.“ Eine fast monarchistische Form der BürgerInnennähe zeigt sich in der Beschreibung dieser Festivität. Was die Wirtin zuvor kurz angedeutet hatte und Felix nun weiter aus-

Mit dem Ticket kommt man hinein, aber auch wieder heraus.

führt scheint einen besonders merkwürdigen Punkt der Begegnung zwischen Oberwaltersdorf und Frank Stronach darzustellen. Während der Festlichkeiten, die auf dem „Europaplatz“ genannten kleinen Hauptplatz stattfinden, können sich Kinder so im Schloss beglücken lassen.

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sich in meinen Gedanken breit. Die Wirtin des gemütlichen Wirtshauses, in dessen Gastgarten neben uns PensionistInnen, HacklerInnen und RadfahrerInnen ihre Mittagsplätze gefunden hatten, beginnt während der Erwähnung des sogenannten Kinderadvents von der Inneneinrichtung des Stronach-Schlosses zu schwärmen: „Da sind überall goldene Armaturen!“ – „Und der Stronach, kennen Sie den? Der wohnt ja gleich da drüben im Schloss, oder?“ – „Ja“, sie seufzt, „Zu den Journalisten ist er immer so forsch. So, wenn ich ihn auf der Straße seh, ist er schon ein netter Typ, alt halt schon. Warum er sich das mit der Politik antut, frag ich mich“, plaudert die Wirtin in die frühsommerliche Luft hinein. Und zum großen Wahlkampfthema Transparenz: „Da müsst er erst mal bei sich selber aufräumen.“ Mitglied der Herrengilde, die sich seit vierzig Jahren um die Verschönerung des Ortsbildes annimmt, ist Frank Stronach nicht. Das wär ja noch schöner gewesen. Das Bild der politischen Erneuerung Österreichs: Frank Stronach, schlecht als Frau verkleidet, pflanzt Blumen an den öffentlichen Plätzen in Oberwaltersdorf. Nach dem üppigen Essen am von Hauptschule, Gemeindeamt und Bundesstraße flankierten Europaplatz angelangt,

„Früher war der Kinderadvent offen für alle“, hatte die Wirtin erzählt, „Alles ist dann gratis da drinnen. Jetzt darf man aber nur mehr mit Ticket hinein. Pro Kind maximal zwei Begleitpersonen.“ Bis vor kurzem wurde den ortsansässigen Kindern und ihren Eltern der Eintritt ins Schloss an einem bestimmten Tag im Advent restriktionslos gewährt. „Es gibt dort verschiedene Altersgruppen.“ Felix ist auskunftsfreudig von seinem Fahrrad abgestiegen und zeigt über den Hauptplatz auf das verriegelte Schlosstor. „Von vier bis sechs, sieben bis zehn und elf bis zwölf Jahren. Da bekommt man verschiedene Geschenke, Brettspiele und so. Aber die Süßigkeiten sind immer gleich.“ Ob Felix hier in seiner kindlichen Wahrheit den Grund für den Ausgang der letzten Gemeinderatswahlen ausgeplaudert hat? Schließlich hat Stronachs Partei „Frank“ in Oberwaltersdorf im März 2013 fast 25 Prozent der WählerInnenstimmen eingefahren. Stimmenstärkste Partei ist trotzdem die ÖVP geblieben. Die Sekretärin des amtierenden Bürgermeisters teilt Felix‘ Auskunftsfreude nicht. Mit der Wohnsiedlung Fontana habe man als Marktgemeinde Oberwaltersdorf


nichts zu tun. Nach einem kurzen Telefonat mit Margit Petri, die von Magna mit dem Verkauf der Fontana-Grundstücke betraut wurde, verstehe ich die reservierte Haltung mir als Journalistin gegenüber noch weniger: Derzeit seien ungefähr 125 der Luxusappartments und circa 130 Einfamilienhäuser „komplett verkauft“. 45 neue Häuser sind bereits in Planung. Die Grundstücksgrößen spielen die numerische Skala ab 900 Quadratmeter aufwärts. Manche EigentümerInnen würden auch zwei Grundstücke kaufen. Dass dieser Bevölkerungszuwachs die Marktgemeinde Oberwaltersdorf unberührt lässt, ist schwer vorstellbar. Andererseits hat sich auch das vom Golfclub Fontana ausgerichtete Austrian Open weder in touristischen Angeboten, noch in Aufstockung von Fremdenzimmern niedergeschlagen. Kurz bevor wir zurück in die Stadt fahren, stehen wir nochmal am türkisblauen See. Wir verstehen das Konzept „Fontana“.

Da müsst er erst mal bei sich selber aufräumen.

Mit dem Privatwagen 30 Minuten von der Wiener City entfernt, in Flughafen-Nähe, schnell im Bäderparadies Baden, im Naherholungsraum Wiener Wald, in der Shopping City Süd und, für die Europazentrale des Magna-Konzerns nicht unwichtig, über die Autobahn schnell und unkompliziert in der wichtigsten Produktionsstätte der Firma: Graz. Und das geschniegelte Umfeld der Wohnsiedlung macht schon was her! Oberwaltersdorf als idealer suburbaner Standort. „Ich habe ja schon überlegt, ob wir unsere Badesachen mitnehmen sollen“, meine ich zu Alex, aber es ist ohnehin zu kühl. Da fällt mir auf, dass wir hier gar nicht ohne weiteres baden dürften. Für Nicht-Fontana-BewohnerInnen kostet die Benützung des Sees nämlich 70 Euro pro Tag. Eine kalkulierte Ausgrenzung von wenig vermögenden Badegästen. Ich denke an Felix und die anderen SchülerInnen der 200 Meter entfernt gelegenen Hauptschule, denen

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das Glück des Sommers so nahe vor der Nase liegt, doch überwacht verboten ist. Grobe Ressentiments gegen die BewohnerInnen der Fontana-Siedlung haben wir an diesem Tag nicht entdeckt. Heterogene Wohnformen sehen trotzdem anders aus. Wobei: Hier, im Wiener Becken, liegen auf wenigen Quadratkilometern das Flüchtlingslager Traiskirchen, die durchschnittlich attraktive niederösterreichische Marktgemeinde Oberwaltersdorf und ein elitärer Wohnpark nebeneinander: ein inaktiver Melting-Pot.

Literatur: Görgl, Peter Johannes – Die Amerikanisierung der Wiener Suburbia? Der Wohnpark Fontana. Eine sozialgeographische Studie. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008.


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Ich hab auch meine Mutter eingegraben Text und Fotos: Karin Stanger

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N

ebenjob: Versenkungsrat. Das Ehepaar Mitterlehner über den   Zweitberuf des Gräberaushebens, das Eingraben alter Bekannter und den Arbeitsalltag in einem Tausend-Seelen-Dorf im oberösterreichischen Mühlviertel.



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Herr Mitterlehner, wie sind Sie zu diesem ungewöhnlichen Job als Totengräber gekommen? Monika Mitterlehner: Das war eine Wirtshausgeschichte! Helmut Mitterlehner: Wie soll ich sagen … Ich arbeite bei der Voestalpine in Linz. Einmal sind wir von der Mittagsschicht heimgekommen und gleich beim Dorfwirt eingekehrt. Da ist der Herr Bauernfeind gesessen, der frühere Vizebürgermeister und der Amtsleiter von Pierbach. Kürzlich ist jemand gestorben bei uns im Dorf und sie haben darüber geredet, dass wir in Pierbach keinen Totengräber haben. Der Totengräber vom Nachbarort hat unser Dorf damals schon zwei Jahre mitgemacht. Ich habe natürlich schon etwas getrunken gehabt und dann etwas vorlaut gesagt: So ein Grab ausheben - das wird doch keine so große Affäre sein … (lacht) Am nächsten Tag haben Sie dann schon Ihren ersten Toten eingegraben? Helmut M.: Ja, am nächsten Tag um zehn Uhr Vormittag haben wir uns am Grab getroffen. Der Totengräber von Mönchdorf, vom Nachbardorf, hat mir alles gezeigt.

Ab dem Tag habe ich das gleich übernommen. Jetzt bin ich schon 25 Jahre dabei.

So ein Grab ausheben - das wird doch keine so große Affäre sein …

Das ist etwas schnell gegangen. Haben Sie es bereut? Helmut M.: Bereut kann man nicht sagen, wenn ich nicht im Dorf wohnen würde, würde ich es nicht für das Geld machen. Das Sonderbare war ja damals, dass wir noch kein Telefon hatten im Jahre 1988. Mein Vater wollte das nie. Es war etwas eigenartig, wenn dann meine Mutter zum Nachbarn gegangen ist, um wegen der Totengräberei zu telefonieren. Das war schon etwas umständlich. Man kann ja auch nicht sagen, ich verschiebe das auf morgen. Das ist nicht wie bei der Musikkapelle, wo man sagen kann, ich spiel morgen mal nicht. Das muss man schon ernst nehmen.


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Bekommen Sie eine Pauschale oder wird das privat abgerechnet? Helmut M.: Das wird pro Begräbnis direkt mit den Angehörigen verrechnet. Man sollte nicht reich werden dabei, aber arm auch nicht. 360 Euro kostet ein Tiefgrab, ein normales kostet 320 Euro. Ein paar von den anderen Totengräbern haben mich angerufen und mich gefragt, ob ich nicht ganz dicht bin, weil ich so günstig bin. Jahrelang habe ich dahingegraben und irgendwann hat sich das Finanzamt gemeldet. Da habe ich einiges nachzahlen müssen. Monika M.: Zuerst hat es geheißen, dass man keine Steuern zahlen muss. Dann ist ihnen eingefallen, dass man doch eine Einkommensteuererklärung ausfüllen muss. Helmut M.: Da habe ich erst mal tief durchatmen müssen, aber davonrennen kann man ja auch nicht. Ich habe das Geld nachgezahlt und habe es verkraftet. Was ist die erste Anlaufstelle nach einem Todesfall? Helmut M.: Zuerst gehen die Leute zum Pfarrer und zum Leichenbestatter, dann wird mit den beiden ausgemacht, wann es zeitlich am besten passt. 80 bis 90 Prozent kommen persönlich

zu uns. Man kennt sich ja. Das Ausmachen übernimmt meistens meine Frau. Für die Leichenhalle bin ich nicht zuständig, das macht der Leichenbestatter oder die Angehörigen selbst. Monika M.: Manchmal sprechen es die Leute zum ersten Mal bei mir aus, dass ein geliebtes Familienmitglied gestorben ist. Dann plaudert man etwas länger … Lassen sich die Menschen auch Angebote schreiben? Helmut M.: Nein, hauptsächlich gehen die Menschen zum Bestatter Aumayr in Schönau. Früher war das ein Monopol, da hat man ihn nehmen müssen. Heute kann man es sich aussuchen. Wann fängt bei Ihnen die Arbeit an? Helmut M.: Das Problem ist ja, dass ich in der Voestalpine Schichtarbeit am Hochofen mache, das ist schon eine Harakiri-Arbeit. Das ist dann nicht immer so einfach, mit der Einteilung. Ich habe Glück gehabt, dass mir meine Frau nach fünf Jahren eingesprungen ist. Aber das Grab muss ich alleine ausheben, da geht mir sonst niemand rein. Monika M.: Das muss ich nicht haben ... Helmut M.: Meine Frau mag nicht bis auf den Boden rein gehen ins Grab. Höchstens unser Bub. Aber Christian ist auch erst drei Jahre dabei, selbst hat er erst ein Grab alleine geschaufelt, als ich im Krankenstand war.


Wie lange dauert das Ausheben eines Grabes durchschnittlich? Helmut M.: Wenn ich Freischicht habe, fange ich um acht Uhr Vormittag an. Dann kommt meine Frau nach einer Stunde meistens nach. Ich trage einstweilen die Schalung zum Grab und befestige sie. [Anm.: Eine Schalung ist eine flächige Konstruktion aus Brettern. Die provisorischen Stützwände sorgen dafür, dass das Grab nicht wieder zusammenbricht, bevor der Sarg drin ist.] Auf die anderen Gräber rundherum gebe ich Plastik, damit sie nicht beschmutzt werden. Dann zeichne ich auf, wie ich runter muss, damit man schön in der Mitte den richtigen Gang erwischt. Die Erde rauszuschaufeln ist körperlich sehr anstrengend. Über mittags schaufeln meine Frau und ich meistens weiter, dann sind wir um vier, halb fünf am Nachmittag fertig.

Furchtbar, wenn die Leute gerade herausgehen aus der Leichenhalle und ich schaue heraus aus dem Grab.

dem Grab!” Helmut M.: Furchtbar, wenn die Leute gerade herausgehen aus der Leichenhalle und ich schaue heraus aus dem Grab. Monika M.: Man muss aufpassen. Es hat auch schon einige Totengräber verschüttet. Welche Geräte verwenden Sie zum Ausheben des Grabes? Helmut M.: Ich habe einen kleinen Bagger, den verwende ich, wenn ich zum Grab hinkomme. Aber in Pierbach liegen die Gräber sehr dicht beieinander, da kommt man oft nicht heran. Sonst habe ich dicke Lederstiefel, Schaufeln, eine Spitzschaufel und eine eigene Schalung. Wenn es sehr stark regnet, benutze ich ein Vier-Mann-Party-Zelt. Im Winter, wenn der Boden gefroren ist, verwende ich auch noch einen Kompressor, um die Erde zu lockern. Das machen mir aber dann die Gemeindearbeiter. Am besten wäre es, einen richtigen Friedhofsbagger zu kaufen, aber bis sich der abzahlt, arbeitet man 20 Jahre. Da müsste man 4.000 Einwohner haben, dann zahlt sich das aus. Einmal habe ich ein Grab ausgehoben, das war nur mehr

Beim Begräbnis eines alten Mutterls gibt es weniger Reden.

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Ist der Boden in Pierbach so hart? Helmut M.: Auf der Lagerhausseite des Friedhofs ist der Boden wie Lehm. Manchmal muss ich schon nach 40 Zentimetern mit der Schalung anfangen. Bei einem Tiefgrab grabe ich zwei Meter hinunter, bei einem normalen 1,80 Meter. Das mit den prunkvollen XXL-Särgen gibt es bei uns Gott sei dank nicht. Da würde ich auch eine größere Schalung brauchen. Normalerweise sind sie eher schlicht ... (überlegt kurz) Außer beim Edi Bangerl letztes Jahr. Wie ich den eigenartigen Sarg gesehen habe, ist mir kurz die Muff’n gegangen, weil ich dachte, der ist zu groß und passt nicht rein. Dann habe ich nochmal nachgemessen und es ist sich doch ausgegangen. Zum Schluss gebe ich noch die kleinen Schauferln zum Grab, damit die Angehörigen noch etwas Erde auf den Sarg geben können. Die Seile und zwei Balken lege ich auch bereit. Gab‘s schon Pannen beim Schaufeln der Grube? Helmut M.: Letzten April hatten wir eine Beerdigung, da ist der Boden richtig aufgegangen, der vorher gefroren war. Plötzlich hat es einen Schnalzer gemacht und die Schalung ist eingebrochen. Überall ist das Wasser hereingeronnen. Monika M.: Ein Horrorerlebnis! Da schämt man sich vor den Angehörigen. Der Leichenzug ist schon gekommen und die wollten den Sarg hinunterlassen. Die Leute haben wieder zurück müssen in die Leichenhalle. Ich hab noch zu Helmut gesagt: “Bitte Helmut, komm jetzt sofort raus aus

ein kleines Stück. Da habe ich mich so viel geschunden, dass ich mir gedacht habe, was habe ich Trottel verbrochen, dass ich das verdient habe. Ich habe gedacht, ich werde überhaupt nicht mehr fertig. Es war, als ob ich Beton gestemmt hätte. Da habe ich mir geschworen, dass ich mir das nicht mehr antue. Man wird ja auch nicht jünger, ich habe zum Beispiel Probleme mit meinem Kreuz und dem Knie. Wie viel Arbeit ist dann noch nach dem Begräbnis? Helmut M.: Die Begräbnisse sind meistens um zehn Uhr Vormittag oder um zwei Uhr Nachmittag, je nachdem. Beim Begräbnis eines alten Mutterls gibt es weniger Reden, da können meine Frau und ich dann schon um halb zwölf anfangen. Wenn das Begräbnis im Winter erst am Nachmittag ist, müssen wir schnell sein, denn um halb fünf wird es finster. Da arbeiten wir dann oft mit Schweinwerfern. Ich habe da ein System. Auf der einen Seite des Grabes habe ich die Erde mit der untersten Schicht des Aushubes, wo auch noch Knochen drin sein können und auf der anderen Seite den oberen Teil der Erde, wo nichts drinnen ist. Wenn man schlampig arbeitet, hat man natürlich die Knochen oben. Die können dann Menschen finden, wenn sie Blumen auf das Grab geben oder es herrichten, das muss nicht sein. Drei Stunden brauchen wir ungefähr für das Zumachen, denn ich will es auch schön machen. Ich möchte keine schlechte Nachrede haben.


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Findet man noch viele Überreste in den Gräbern? Helmut M.: Ich denke, das hat einmal einer aufgebracht oder habe ich es selbst gesagt - jedenfalls soll ich gesagt haben, wenn jemand Knochensuppe will, soll er sich eine holen. (grinst) Man braucht auch ein wenig Humor in dem Job. Die großen Knochen wie Hüftknochen und Schädelknochen brauchen am längsten zum Verwesen. Nach zehn Jahren kann man ein Grab aufmachen, da findet man aber noch so einiges. Manchmal findet man noch sehr deutliche Überreste. Da braucht man einen guten Magen. Einmal habe ich in einem Grab vier oder fünf Köpfe ausgegraben. Da dachte ich schon, wie viele sind denn da noch drinnen? Ich weiß nicht genau, wie das gegangen ist. In den Sechzigern ist der Friedhof einmal verlegt worden, vielleicht ist das da passiert … Monika M.: Tiefgräber sind da besonders schlimm. Manchmal ist das wirklich nicht mehr zumutbar, wenn man das ausbuddeln muss. In dem lehmigen Boden in Pierbach kommen manchmal noch nach zwanzig Jahren Sachen hervor, die woanders nach zehn Jahren nicht mehr da sind. Knochenreste, aber auch Kleidung, die noch nicht wirklich verwest ist. Das decken wir dann oft auch zu. Das wäre für die Angehörigen ein Wahnsinn das zu sehen. Und im Sommer stinkt das auch gleich. Helmut M.: So Art Polyester, Strümpfe oder diese Trachtenanzüge brauchen ewig zum Verrotten. Früher haben sie diese dehnbaren Spitzen um die Särge gegeben. Ich habe viel Geduld, aber da fluche ich dann, wenn die Schaufel dann hängenbleibt und sich der Stoff nicht rausziehen lässt und denke mir dann, womit habe ich das verdient …

Wie ist das mit dem Geruch? Helmut M.: In unserer Firma am Hochofen bist du auch nach einiger Zeit den Schwefelgeruch gewohnt. Aber der ist - sagen wir mal - elegant im Gegensatz zum Friedhof … (lächelt) Monika M.: Wo der Boden nass und durchlässig ist, ist es besonders schlimm. Helmut M.: Meine Frau jammert schon öfter. Es kommt schon mal eine Wolke heraus, aber man gewöhnt sich daran. Der alte Lagerhausverwalter hat immer zu mir gesagt: “Helmut, wenn es einmal nicht mehr geht, kommst du zu mir herüber.” Der hat nicht weit vom Friedhof ein Kammerl gehabt. Öfter bin ich dann zu ihm: „Anton, es geht nicht mehr!“ (grinst) Dann hat er den Doppelliter Schnaps hervorgeholt. Wir haben uns recht gut verstanden. Bei Regen habe ich mich auch bei ihm untergestellt, oder wir haben uns von oben gemeinsam das Begräbnis angeschaut. Wenn man in einem Tausend-Seelen-Ort Totengräber ist, kennt man doch viele Menschen, die man eingräbt. Helmut M.: Wie soll man sagen, zu viel nachdenken darf man nicht. Das muss man wegstecken, denn wenn man das Nachgrübeln anfängt, denkt man sich, was macht man da eigentlich? Aber machen muss es wer! Das Gute ist, ich habe noch keine vier oder fünf Mal davon geträumt. Das wirklich Arge ist, wenn die Angehörigen kommen und die Nachricht bringen, dass jemand gestorben ist. Wenn jemand stirbt mit 80, 90 Jahren, dann werden halt die Augen ein wenig nass. Aber bei Freunden, und bei ganz jungen Menschen, das zieht einen schon ordentlich rein. Selten gehe ich dann in die Leichenhalle und sehe sie mir an. Ich hab auch meine Mutter selbst eingegraben.


Im Oktober werden es sieben Jahre. Natürlich habe ich da eine Weile überlegt … Das war schon nicht einfach. Aber wir haben zusammengeholfen und machen muss es wer … Gibt es schon einen Nachfolger? Helmut M.: Ich weiß nicht, ob mein Sohn, der Christian, weiter tut. Gezwungenermaßen ist er dazu gekommen, als ich krank war. Ich hab ihn gefragt, ob er nicht bereit wäre es zu machen. Und er hat es eigentlich gleich gemacht. Für ihn war das kein Problem. Er möchte halt gleich in einer Stunde fertig sein, aber das geht nicht. Ich bin jetzt 57. Ich habe jetzt 38,5 Jahre

Aber bei Freunden, und bei ganz jungen Menschen, das zieht einen schon ordentlich rein. Schichtarbeit gemacht. Jetzt bin ich nur daheim und am Friedhof. Nächsten Monat gehe ich in Pension. Ich hab noch nie Urlaub gehabt, einmal und das war alles und jetzt bin ich dann mal weg ... Haben Sie schon Pläne für die Pension? Helmut M.: Die transsibirische Eisenbahn, mit der möchte ich fahren. Afrika hebe ich mir für den Schluss auf. (grinst) Irgendwann muss man abschließen, weil sonst bist da drüben (deutet durch das Fenster am Friedhof) und hast nie was gesehen, hast umsonst auf der Welt gelebt, nur für

andere. Wenn du so sterben musst, dann stirbst hart. Da ist es gescheiter, du stirbst gar nicht. Da gehst du elendig zu Grunde. Das will ich nicht haben. Und das habe ich mir immer vorgenommen, irgendwann kommt der Tag. Macht man sich da auch Gedanken über das eigene Begräbnis und wie das aussehen soll? Helmut M.: Die einen sagen verbrennen, die anderen sagen eingraben … Monika M.: Wenn du eingeäschert wirst, heißt das ja nicht, dass du kein ordentliches Begräbnis am Friedhof haben kannst! Helmut M.: Wir haben auch eine Frau in Pierbach, die hat die Urne ihres Mannes zu Hause. Also das möchte ich auf keinen Fall! Dazu ist doch der Friedhof da. Monika M.: Ich möchte mich einäschern lassen und am Friedhof begraben werden. Weil ich denke mir, die ganze Schufterei, mit dem ganzen Gatsch, das muss nicht sein. Das geht hygienischer auch. Sie denken, Sie würden es dem Totengräber dann einfacher machen? Monika M.: Ja, sicher! (lächelt) Was sagen Sie? Helmut M.: Indem ich so ortskundig bin, ist mir das Grab lieber.

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Herbert hats geschafft //////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////

Text: Maria Hofer

I

m Grunde ist es nur eine Frage des Erfolgsrezeptes.   Wenn man kein klares Ziel vor Augen hat, wie soll man es denn zu etwas bringen?

Das ist schließlich schon seit mehreren Generationen so. Wenn es schon nicht wächst und sich bessert, dann soll es eventuell wenigstens gleich bleiben. Es geht im Universum ja keine Energie verloren, hört man in Seminaren dazu. Seminar zum Glücklich sein, Seminar fürs Flirten, Seminar für Priester, Seminar für Lebensgestaltung, Seminar für Farbund Typberatung und allgemeine Optimierungsseminare. Wo ein Wille, da auch ein Weg und wo ein Weg, da bitte nicht auf den Rasen treten. Außer halt, es machen eh alle. Immer wieder auf und nieder, immer weiter rauf und runter. In der Besprechung reden sie sich die Köpfe wund. Herbert hat sich schon immer in der Schule leicht getan, aber er war halt faul. Das hat ihm der Klassenvorstand auch schon gesagt und ihm dann auf die Schulter geklopft. Das spätere Studium wurde auch absolviert. Es folgten beeindruckendes Engagement und mehrere Praktika in angesehenen Institutionen. Man darf sich ja nicht zu viel erwarten. Von nichts kommt nichts. Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Aber das kommt der Aerodynamik zugute. Die Fakten liegen auf dem Tisch, liebe Mitarbeiter. Zur Veranschaulichung:

1. Herbert in der Früh: Mein Berechtigungsausweis ist klein, weiß und in Scheckkartenformat. Diesen Berechtigungsausweis lege ich auf das dafür vorgesehene Berechtigungsausweisfeld, und schon geht die Türe auf. Grüß Gott, Herr Portier! 2. Herbert am Vormittag: Ich darf mir während der Arbeit ein Jausenweckerl holen, ich darf mir während der Arbeitszeit ein Jausenweckerl holen! 3. Herbert liest die Anweisungen: Weil es gut so ist. Ihr seid eine Gruppe Mitarbeiter. Hier ist eure Excel-Liste. Sie ist genau einen Monat lang. 4. Herbert zeigt Engagement: Ist es erlaubt, die Liste auch in einem dreiviertel Monat abzuarbeiten? 5. Herbert wird ein bisschen enttäuscht: Leider haben wir keine Dreiviertelmonatslisten. 6. Gottseidank hat Herbert einen Mentor, der wieder für gute Stimmung sorgt: Ihr seid nicht hier zum Trübsalblasen. Es soll ja auch Spaß machen. Dann geht alles viel leichter in den Schädel. 7. Herbert wird nachdenklich: Die Excellisten sind gerastert wie die Blenden vor dem Fenster.


Aber genug davon. Da draußen ist die Welt nichts für Weichlinge. Das war schon bei den Spartanern so. Man kann das in einigen Filmen schnell nachschaun. In jedem von uns steckt nämlich ein kleiner Superheld, der nur darauf wartet, endlich rausgelassen zu werden. Ganz wichtig dabei ist, dass man für eine S A C H E kämpft. Dafür sind eine gute Ausbildung und ein moralisch korrekter Lebenswandel nur leider unerlässlich. Wo der Rest hinkommt, weiß niemand so genau. Wo der Rest bleibt, das weiß niemand so genau. Wahrscheinlich Verkäuferin oder alleinerziehend und einsam. Aber stellt euch, als geneigte Leser, jetzt bitte mal vor, euch bei DM zu bewerben. Ich persönlich würde aus purer Sympathie DM dem Bipa vorziehen. Aber das ist eine persönliche Entscheidung. Stellt euch mal vor, ihr bewerbt euch um eine Stelle bei DM. Und dann steht ihr jeden Tag auf und zieht euch das Leiberl vom DM an. Mit der Zeit nehmt ihr das Leiberl vom DM mit zur Arbeit und zieht es erst dort dann an. Weil ihr es in der U-Bahn nicht tragen wollt. Ihr fragt euch dann aber sehr schnell, ob das die falsche Entscheidung war. Denn seid ihr euch wirklich sicher, ob die U-Bahnsitze auch wirklich regelmäßig gesäubert werden? Man könnte auf jahrealtem Urin sitzen. Aber man weiß das nicht genau. Natürlich könnte es auch sein, dass die Waggons innen mittels einer Sprühvorrichtug, ähnlich wie bei Kammerjägern gereinigt werden. Auf den Gedanken haben mich übrigens die Putztruppen gebracht, die vor allem vormittags immer durch die vollgestopften Waggons eilen und die Haltevorrichtungen mit mehr oder weniger dreckigen Fetzen reinigen. Angeblich wurden sie beauftragt, um die Reinlichkeit der Wiener Linien täglich erneut zu bezeugen. Manchmal können wir nicht schlafen, weil wir wissen, es ist unsere Schuld, dass wir DM-Verkäufer geworden sind. Dann können wir nicht schlafen, weil wir sonst vielleicht sogar den Beruf verlieren könnten. Ich bin eher so der einsame Krieger. Es ist ja eh bestimmt wieder mal knapp vor Weltuntergang. Dann sind wir endlich alle gleich. Weil es gibt natürlich so etwas wie eine kosmische Weltgerechtigkeit. Man muss sich nur richtig anstellen, dann kommt man auch in ihren Genuss. Mitunter nützlich:

• Als Lebensmittelverkäufer immer „Serviervorschlag“ auf die Packungen schreiben, damit sich die Käufer keine falschen Hoffnungen machen. • Think global act local • Moralisch Handeln • Moralisch Essen • Anderen ein moralisch nicht einwandfreies Leben verunmöglichen • Sich mit Kernseife waschen und/oder Waschnüsse verwenden • Nett zu den Nachbarn sein • Nicht nett zu den Ausbeutern sein und ab und zu ein Posting darüber machen Denen ist langweilig, sagen die Fleißigen dann als Einwand. Dann muss man was dagegen tun, ihnen mal zeigen, was echte, ehrliche, harte Arbeit ist. Langeweile ist die Vorstufe zur Arbeitslosigkeit. Hat ihnen denn niemand beigebracht, dass Überflüssiges hässlich ist? Protzen tun ja nur die Neureichen. Diese Schuhe mit den Löchern im Leder sind ursprünglich für sumpfigen Untergrund. Damit es das Wasser wieder nach außen pressen kann. In dem Fall sind die Löcher in den Schuhen schön. Schön und nützlich ist fast das Gleiche. Nur bei Platteausohlen bin ich mir noch nicht ganz sicher. Aber man kann sie jetzt wieder tragen, wenn man auch sonst im Fetzenchique gekleidet ist. Der „avantgardistische“ Fetzenmarkt-Kleidungsstil diverser ehemaliger Klassensprecherinnen zeigt wieder mal „Mut zur Hässlichkeit“. Das ist natürlich auch total mutig und verdient mindestens so viel Anerkennung, wie mit dem Ferrari mehrmals hintereinander die Ringstraße zu penetrieren. Aber hey, ich bin doch in Wirklichkeit auch nur eine von euch und hab auch total niedliche Probleme und denke auch ab und zu darüber nach, wie es wohl ist, so zu leben wie die anderen. Aber leider ist mir der Gedanke daran viel zu langweilig. (läuft in eine Straßenbahn, als sie ein SMS beantwortet).

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Schön sind wir schon seit unserer Geburt. Da wo wir herkommen gibt es ein Sprichwort, das nicht viele kennen. Schön sind Kinder dann, wenn der Geburtsvorgang möglichst kurz war. Das Gesicht wird dabei nämlich nicht so sehr zerquetscht. Der Kaiserschnitt macht die Kinder schön. Und der heißt schließlich nicht umsonst so. Gemütlichkeit ist eine Tugend. Darüberhinaus Nationalgut. Wie es so schön heißt, wir sind reich und ziehen uns an, als ob wir nur beim Flohmarkt kaufen würden. (Warhol) Aber man merkt schon, dass die Jacke hier 4.000 Euro gekostet hat. Letzten Mittwoch, da war ich einkaufen und ich hab so ein DM-Leiberl gefunden, ein altes natürlich, keins, das die Leute dort jetzt tragen. Und mit dem Lederrock schaut das echt witzig aus. Mir geht es dabei ja nicht darum, zu zeigen, wie viel Geld ich hab, sondern darum, wie witzig es ist, ein DMLeiberl zu tragen. Ich trage das mit einem Augenzwinkern. Ich habe das gewisse Etwas. (wartet auf die Straßenbahn) Hat man also dauernd ein schlechtes Gewissen, gibt es aber auch einen Ausweg: Wir können immer noch fleißig versuchen alles das auswendig zu lernen. Manche Sachen kann man nicht lernen. Dazu braucht man einen Hofstaat. Dem sagen wir dann, dass es so einfach ist, aufzufallen. Aber wen wunderts, wenn man für das Haus Miete zahlt, das ihnen gehört. Aber natürlich möchte ich jetzt keine Spielverderberin sein. Ach, ich hab jetzt schon ein schlechtes Gewissen. Das bereitet mich auf meine spätere Rolle in der Gesellschaft auch optimal vor. Und überhaupt: Was sollen wir nur von Herbert halten? Ehrlich währt am längsten. Sie singen vor, wir singen nach. (Die sind so inspirativ. Da kriegt man gleich Lust, ihnen ordentlich auf den Schinken zu dreschen) Immerhin kann man’s damit auch schon ins Fernsehen schaffen. Und wenn man das hat, kann man auch was bewirken. Man kann ein Zeichen setzen. SETZEN WIR EIN ZEICHEN! Wir singen nach. Mit mehr Gefühl als das Original. Gott sei Dank gibt es Leute, die uns sagen können, wie viel dann zu viel ist. Wir sollen ja schon auch etwas von uns selbst in den Song legen. Überaus peinlich ist es deswegen, wenn wir

den Text vergessen. Manche können nicht mal in der siebten Klasse Gymnasium richtig Englisch. Aber wir können es schaffen. Wir werden nicht abgeschafft. Am Juridicum hält es ja sowieso niemand aus, der noch alle Tassen im Schrank hat. Und dann lachen sie. Woah, war das gerade witzig. Immerhin waren sie heute, während wir uns ausschließlich um unsere Ideen gekümmert haben oder eben nicht, schon 10 Stunden in der Bibliothek. Gemeinsam mit allen Freunden waren sie 10 Stunden in der Bibliothek. Der Papa und die Mama sind also stolz auf die Kleinen. 10 Stunden. Mit einer kleinen Mittagspause und zahlreichen Plaudereien. Lernen kann so schön sein. Es ist auch praktisch, wenn man sich selbst keine Gedanken darum machen muss, was da steht. Es ist die Wahrheit. Und dann fragen die Leute, wie man denn auf neue Wahrheiten kommen kann, wenn doch eh immer schon alles da steht und man die Prüfung und damit das Leben schafft, DIE PRÜFUNG UND DAS LEBEN vor allem, wenn man lernt, was da steht. Man soll da nur ja nicht zu viel hineininterpretieren, weil sonst könnte man etwas verwechseln. Und ich muss zugeben, es ist WAHRSCHEINLICH IMMER so, dass die dann was verwechseln. Weil sie es gar nicht verstehen können, weil sie nicht mitdenken können, weil ihnen das ja niemand beigebracht hat! Darf ich vorstellen: die künftige Elite. Nein, leider doch nicht. Dann wärs ja einfach. Man kann natürlich auch ganz gut auswendig lernen, wie man sich widersetzt. Dann protestiert man und sagt denen mal so richtig, was man nicht ok findet. Im Idealfall so, wie es sich schon etabliert hat. Und wenn man einfach gar nichts macht, ist es in beiden Fällen ein Skandal. Das gehört möglicherweise abgeschafft. Es zählen ja bekannterweise die RESULTATE. Der Herbert hat es geschafft. Von einem einfachen Mitarbeiter bei einer Flirtschule hat er nicht nur dank des ihm dort vermittelten Wissens eine wunderbare Freundin, die er vielleicht heiraten will, sondern auch einen gut bezahlten Job als Seminarhalter für Flirtanfänger. Damit hat er eine gesicherte und originelle Existenz. Das ist schon was. Das müsst sogar ihr zugeben. SOGAR.


Kolumne ///////////////////

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Brooklyn Decker Clara Gallistl

D

ie fünfzig Euro, die ich gestern bei Abendessen, Bowlen und in der Pratersauna ausgegeben habe, sind eigentlich wirklich nichts. Das lerne ich von Adam Sandler, der in „Meine erfundene Ehefrau“ ein Schönheitschirurg ist, für den Geld keine Rolle spielt. Ich lerne, dass Geld keine Bezugsgröße ist, die differenzierte Vergleiche zwischen Versionen von Menschenleben anstellen kann, besonders in der Szene, in der Adam Sandler auf Hawaii in einem Hotel ein Zimmer bucht, das 12.000 Dollar pro Nacht kostet. Witzig abschätzig, wie er ist, fragt er noch, ob das Zimmer denn aus Pandabären gemacht sei. (Ein Witz, der jemandem, der in der Produktion etwas zu sagen hatte, am Herzen gelegen zu sein scheint. Er darf zweimal an prominenten Stellen Lacherlieferant sein.) Witz hin, Kreditkarte her: Sandler, der in jedem seiner Filme das gleiche Kostüm zu den traurigen Augen trägt, zahlt. Für seine Pseudo-ExFrau braucht er auch ein Zimmer, das kostet 8.000 Dollar. Man bleibt circa drei Tage, das macht vier Nächte: 80.000 Dollar für drei Tage Hawaii. Nehmen wir an, Verpflegung, Bespaßung, Sportund Beauty-Angebote seien im Preis inkludiert. Mit Flug für die siebenköpfige Truppe, die eine zwanzigjährige Blondine als Sandlers love interest aktivieren soll, sind das ungefähr 65.000 Euro. Das ist schon ein Patzen Geld für ein Wochenende. Mit meinen 50 Euro komme ich mir schäbig vor. 50 Euro, das ist wirklich nichts. Dafür habe ich in der Pratersauna auch nicht die Liebe meines Lebens kennengelernt, geschweige denn von mir als perfect match überzeugen können. Man muss schon ordentlich was hinlegen, wenn man in der Liebe siegen will. Als Mann, lerne ich. Nicht als Frau. Als Frau muss man seinen Körper zeigen. Das zeigt sich nicht nur in den diversen Slow-Motion-Szenen, in denen die betont erwachsene Jennifer Aniston, die sich am Ende des Filmes als wahre Liebespartnerin für Sandler zu erkennen gibt, ebenso wie die namenlose, amerikanische Model-Schauspielerin, die der Held der Handlung eigentlich zu erobern sucht, aus dem Wasser steigen beziehungsweise ins Wasser springen. Nackte Frauen und Feuchtigkeit, das gibt schon was her. Da muss man als RegisseurIn dann auch die Reaktionen der männlichen Scheiß-Hollywood-Archetypen in Slow Motion zeigen. Sie wissen, wie gaffende Idioten aussehen, die sich vor sprechenden Frauen fürchten, weil Frauen dann „hysterisch“ werden. Da lieber stumme Frauenkörper beim Objektsein betrachten. Am liebsten feucht. Tonangebend ist für die Konzeption der idealen Frau in Sandlers Film ein Hula-Wettbewerb, der zwischen zwei Konkurrentinnen aus High-School-Zeiten über ideale Weiblichkeit entscheiden wird. Neben zwei Mitstreiterinnen tanzen Jennifer Aniston und Nicole Kidman in Baströckchen und Kokos-BH auf einer Bühne vor einer trinkenden Abend-Gesellschaft um die Wette. Das Publikum entscheidet durch Applaus-

lautstärke. Nachdem die Weiblichkeiten „Alte Frau“ und „Dicke Frau“ durch Lachen beziehungsweise Buh-Rufe von der Bühne gewählt werden, wird die Entscheidung zwischen der aufdringlichen Weiblichkeit Kidman, die immer wieder hohe Kreischlaute der sexuellen Verfügbarkeit von sich gibt, und der coolen Weiblichkeit Aniston, die ihre performance durch lustige Einlagen aufpeppt, durch eine Stichwahl getroffen. Das Stechen besteht aus einem kurzen Wettbewerb, bei dem nun die jeweiligen Partner „ihren“ Frauen unter die Arme greifen müssen. Aniston und Sandler gewinnen und erkennen: Sie lieben sich doch. Sandlers love interest verschiebt sich. Palmer, so der Name der jungen Zwanzigjährigen, fliegt raus. Aniston und Sandler heiraten. Alle freuen sich. Ende. Das hätte Sandler billiger haben können, denke ich mir, hätte er sich ein bisschen zurückgenommen und mal nachgedacht, anstatt Lügenkarusselle an verschiedenfarbigen Frauenhaaren herbeizuzerren. Und plötzlich tut mir Palmer leid. Ich sehe vor mir das junge Publikum, das gestern die Pratersauna bevölkert hat. Eine widerliche Menge schlecht geschminkter Besoffener und Eingerauchter, deren Kostüme nicht mehr als angedacht und auch schon halb zerfleddert an ihnen herunterhängen. Sie sind jung und sie wollen eigentlich nur eines: Schmusen. Die Liebe finden, die zu ihnen hält, ihnen Sicherheit gibt, sie nicht auslacht, aber mit ihnen lacht. Ich finde es nicht lächerlich, sich Liebe zu wünschen. Adam Sandlers Kinofilm bringt mir bei, Zwanzigjährige seien nicht bereit für die Liebe. Das Filmskript stellt Palmer von Anfang an als dumm (sie liebt N‘Sync) und zu jung (fällt ihr Alter, rollen Augen) vor. Sie ist allein (der Film zeigt sie in keinem Umfeld, das als ihrer Person zugehörig codiert ist) und wird am Ende, als sie nach langem Zögern bereit ist, Sandler zu heiraten und mit ihm ihr restliches Leben zu verbringen, sitzen gelassen. Es kann schön sein, seinen Sonntag Nachmittag abgerockt verkatert mit HollywoodGlanzleistungen zu verbringen. Mit Adam Sandler gelingt mir das allerdings nicht. Ich fühle mich stellvertretend sowohl für die Figur der Palmer als auch für die darstellende Schauspielerin Brooklyn Decker beleidigt. So solidarisiere ich mich auf einmal mit einem Konzept von Weiblichkeit, das als Teenager in einer Shopping Mall in North Carolina ENTDECKT wurde und seitdem als Model und Darstellerin von „Charakterrollen“ in flachen Hollywood-Produktionen tätig ist. Welch einschränkendes Stereotyp Frauenrollen wie ihre produzieren und wie abschätzig das Drehbuch der erfundenen Ehefrau die von ihr verkörperte Frau behandelt hat, ist Brooklyn Decker mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht bewusst. Trotzdem tut sie mir leid. Träfe ich sie, gäbe ich ihr 50 Euro Schadensersatz für ihre Blödheit. Oder einen Schlag ins Gesicht, inklusive nachfolgender Erklärung.

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Ausblick

Für die Herbstausgabe der über.morgen (September 2013) reisen wir zum berühmt-berüchtigten Stiertreiben in Pamplona, feiern als Underground-Ermittler mit den „Schönen und Reichen“ die Fête Blanche in Velden am Wörthersee, unterhalten uns mit einem Schieber und Schlepper und tauchen ein in die finstere Welt des früheren Kinderheims Villa Hohe Warte. 74

Illustration: Albert Mitringer

Impressum über.morgen: ISSN 2307-5694; Medieninhaberin & Herausgeberin: Verein zur Förderung studentischer Eigeninitiativen, Rueppgasse 2/10, A-1020 Wien. Kontakt: redaktion@uebermorgen.at; Web: www.uebermorgen.at; Chefredaktion: Clara Gallistl, Matthias Hütter; Layout: Patrick Detz, Alexander Gotter; Redaktion: Jakob Arnim-Ellissen, Lisa Brauneder, Nikolaus Karnel, David Marat, Bianca Mayer, Milena Österreicher, Markus Schauta, Dario Summer, Karin Stanger; Mitarbeit: Maria Hofer; Lektorat: Daniela Ristl; Fotos: Christopher Glanzl, Alexander Gotter, Max Tyler, Flo Smith; Grafik: Julia Bauernfeind, Christine Julius, Albert Mitringer, Marianne Musek, Oliver Ottitsch; Druck: Friedrich VDV, Linz; Alle Rechte, auch die Übernahme von Beiträgen nach §44 Abs. 1 Urheberrechtsgesetz: Verein zur Förderung studentischer Eigeninitiativen. Dem Ehrenkodex der österreichischen Presse verpflichtet.


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