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BILD: GUIDO SÜESS

Wörter von Pörtner Chrampfer Bei einer Fahrt durch eine ländliche Gegend begegnet mir auf einem Wahlplakat der Begriff «Chrampfer». Der abgebildete Kandidat bezeichnete sich als solchen und empfahl sich damit für den Gemeinderat. Dieses Wort, das ich schon fast vergessen hatte, heimelte mich an und erinnerte mich an meine Kindheit. Als Chrampfer galten jene Väter von Spielkameraden – oft waren es Inhaber eigener Geschäfte –, die wir nur selten zu Gesicht bekamen, weil sie ständig am Arbeiten waren. Der Titel Chrampfer war hart verdient, und wer ihn trug, dem wurde mit Ehrfurcht begegnet. Trotzdem fand ich schon damals, dass das Wort ungesund klang. Ein Chrampf ist ein starrer, schmerzhafter Zustand, in dem gar nichts mehr geht. Von einem Menschen, der anstrengend ist oder Dinge tut, die nerven, sagt man, dass er Krämpfe mache. Wenn man jemanden

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als vollkommen verkrampft beschreibt, ist das kein positives Urteil. Das positiv gewertete Chrampfen hingegen beschreibt das Arbeiten, das mit einer derartigen Intensität ausgeführt wird, dass keinerlei Raum für Entspanntheit und Musse bleibt. Es ist kein Zufall, dass dieser Begriff vor allem in ländlichen Gegenden noch in Gebrauch ist. Als die meisten Tätigkeiten noch manueller Art waren und viel Körperkraft verlangten, machte es einen entscheidenden Unterschied, wie jemand seine Arbeit verrichtete. Schaufeln, Pickeln, Heuen, Schleppen sind über längere Zeit nicht mit Leichtigkeit auszuführen. Irgendwann sind die Muskeln müde und verkrampfen sich. Wer dann weitermacht, chrampft. Mehr in kürzerer Zeit zu erledigen war immer besser. Mit einem Burnout brauchte da keiner zu kommen. Bis für die meisten derartigen Tätigkeiten Maschinen erfunden wurden, mit denen kein Mensch mithalten kann. Dadurch hat sich die Arbeitswelt radikal verändert. Heute verlangen die meisten Tätigkeiten eine sehr hohe Sachkenntnis oder einen gewissen Grad an Kreativität und Flexibilität. Das Letzte, was gefragt ist, ist Verkrampftheit. Unternehmen wie Google oder Facebook, obwohl sie mitunter im Verdacht stehen, die Weltherrschaft anzustreben, geben sich betont locker und entspannt, bieten Kurse in Meditation, Tai-Chi und Yoga an, die sogar während der Arbeitszeit besucht werden

können. Natürlich wird auch dort hart gearbeitet, die Anforderungen sind hoch, nur die Besten der Besten finden eine Stelle. Fleiss, Leistungsbereitschaft und Ehrgeiz sind nicht verschwunden. Hinzugekommen ist der Anspruch, dass man seine Arbeit mit Leidenschaft ausführt. Vom Chrampf zur Leidenschaft ist es ein weiter Weg. Arbeit bedeutet – idealerweise – Erfüllung für die Person, die sie ausübt. Die Arbeit an und für sich ist schon eine Belohnung. Für die Chrampfer ist sie der Weg zum Ziel. Man chrampft, damit man es einmal besser hat oder es die Kinder einmal besser haben. Obwohl der Begriff am Verschwinden ist, gibt es immer noch viele Chrampfer auf der Welt. Vor allem in ärmeren Ländern und undankbaren Jobs. Wenn es sie eines Tages nicht mehr bräuchte, wäre das ein Fortschritt. Doch das wird so schnell nicht geschehen, und wahrscheinlich wird es dann noch schwieriger, Leute für den Gemeinderat zu finden.

STEPHAN PÖRTNER (STPOERTNER@LYCOS.COM) ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT (SAVVE@VTXMAIL.CH) SURPRISE 325/14


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