Surprise Strassenmagazin

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Voll Vegi Wie Fleischverzicht sexy wurde Sparlampe: die Energiespar-Ikone unter Beschuss

Die Stube als Schulzimmer – wenn Eltern selber unterrichten

Nr. 263 | 18. November bis 1. Dezember 2011 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


Macht stark.

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Titelbild: Keystone, Everett Collection

Editorial Anders leben BILD: ZVG

Erlauben Sie die Frage: Sind Sie zufrieden mit Ihrem Leben? Oder besser gefragt: Sind Sie glücklich? Über Zufriedenheit und Glück diskutierte kürzlich eine bunte Runde im «Zischtigsclub» auf SF1. Sie kam auf einen interessanten Befund, angestossen ausgerechnet von DJ Bobo, ja nicht gerade bekannt als profilierter Kritiker der Konsumgesellschaft. Auf das Votum von Wirtschaftsprofessor Alois Stutzer, dass gemäss Umfragen eine Gesellschaft je wohlhabender, desto zufriedener sei, protestierte Bobo: Glück sei etwas ganz anderes als die schlichte Zufriedenheit etwa mit dem Besitz oder dem Einkommen. Niemand widersprach. Ja, die Runde war sich gar einig, dass wir es heute wahrlich schwer haben, glücklich zu sein – im Überfluss schwimmend und permanenter Reizüberflutung ausgesetzt. FLORIAN BLUMER

Dieses Heft handelt von Menschen, die ihr Glück abseits des Mainstreams suchen. REDAKTOR Zum Beispiel von Milena Gross, die zwar als Aktionskünstlerin international erfolgreich ist, aber vom einfachen, aufregenden Leben in einem Wanderzirkus – nicht nur – träumt. Oder von unserem Verkäufer Daniel Meier, der seinen Platz nicht in unserer Arbeits- und Leistungsgesellschaft gefunden hat und gerne Surprise verkauft, weil er überzeugt ist, damit etwas Positives zur Gesellschaft beitragen zu können. Und von Familie Kuhn, in welcher zwei der drei Kinder zu Hause unterrichtet werden, weil die Eltern überzeugt sind, dass es das Beste für sie ist – auch wenn sie sich damit dem Vorwurf aussetzen, ihren Kindern zu schaden. Auch wer sich seine eigenen Gedanken zur Ernährung macht, stösst auf Widerstände. Vor ein paar Jahrzehnten noch galt man als Fundamentalist, wenn man auf Fleisch verzichtete. Heute werden Veganer als extrem angesehen – Menschen, die konsequent nichts mit der heute üblichen Massentierhaltung zu tun haben wollen, also auch keine Eier und keine Milchprodukte essen. Auch sie werden in Zukunft vielleicht einmal ihren Fundamentalistenstatus verlieren. Denn was als normal gilt, ist einem sich wandelnden Zeitgeist unterworfen. Dies zeigt der heitere Rückblick meiner Kollegin Diana Frei auf vier Jahrzehnte Vegetarismus exemplarisch. Wir können uns nie sicher sein, dass auch richtig ist, was gerade als normal gilt. Und wären daher besser beraten, Menschen, die anders leben, nicht als Bedrohung zu empfinden. Sondern ihnen zuzuhören und die Chance zu packen, unsere eigene Einstellung zu hinterfragen. In diesem Sinne: eine anregende Lektüre Herzlich Florian Blumer

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, redaktion@strassenmagazin.ch. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion behält sich vor, Briefe zu kürzen. SURPRISE 263/11

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Inhalt Editorial Anders Leben Basteln für eine bessere Welt Handschuh-Voodoo Aufgelesen Arbeitslose als Umweltexperten Zugerichtet Ein alter Gauner Leserbriefe Israel und Watt Starverkäufer Lemlem Kahsai Porträt Feuertanz Le Mot Noir Weihnachtsgeschenke Musik Feuriger Rotschopf Kulturtipps Lärm und Wut Ausgehtipps Betörende Melancholie Verkäuferporträt Gegen das Bauchgefühl Programm SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP

Noch vor 40 Jahren verzichteten nur tierliebende Körnlipicker aufs Fleisch. Heute wird man Vegetarier, um das Klima zu schützen. Ein Rückblick auf vier Jahrzehnte Vegetarismus bietet auch Einblicke in den jeweiligen Zeitgeist. Heute ist der Fleischverzicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen, mit Unterstützung diverser Promis: In den 70er-Jahren entdeckten Paul und Linda McCartney ihre Liebe zu Schafen, in den Nullerjahren liess sich Pamela Anderson demonstrativ in Schlachthofmanier beschriften.

14 Umweltschutz Absage an Glühbirnennostalgiker Sie ist die Ikone der Energierevolution: die Sparlampe. Doch viele sind mit ihr nicht so richtig warm geworden. Ihre Gegnerschaft hat nun in einer Streitschrift zweier Umweltschützer eine Stimme gefunden. Die Autoren werfen der staatlich verordneten Ablöserin der guten alten Glühbirne vor, ihr Licht mache krank. Ausserdem sei ihre Umweltbilanz noch schlechter als die ihrer Vorgängerin. Was stimmt nun? Ein Faktencheck.

BILD: ISTOCKPHOTO

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BILD: DAVIDE CAENARO

16 Erziehung Schule zu Hause

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Bildungspflicht heisst nicht zwingend Schulpflicht. Dass Lernen auch ausserhalb des Klassenzimmers möglich ist, zeigen die sogenannten Homeschooler. Etwa 350 Kinder in der Schweiz werden von ihren Eltern unterrichtet. Was früher oft streng gläubige Christen praktizierten, wird immer mehr zur Option für Eltern mit reformpädagogischer Neugier. Sie sehen die Bildung als Familienprojekt, das die ganze Welt als Klassenzimmer versteht und Verwandte und Bekannte als Lehrer einbindet.

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ILLUSTRATION: SIMON DREYFUS | WOMM

1 Nehmen Sie einen alten Wollhandschuh. Ziehen Sie einen oder mehrere Finger ganz oder teilweise nach innen, sodass es entweder nach Ohren, Hörnern oder wilden Antennen aussieht. Nähen Sie die Öffnungen zu.

2 Stopfen Sie den Handschuh mit Watte aus und nähen Sie dann die Öffnung zu.

3 Nähen Sie Augen, Mund, Nase, Narben drauf. Entweder direkt mit buntem Faden oder mit Knöpfen, Schleifenbändern, Filz, … , lassen Sie ihrer Fantasie freien Lauf. Oder richten Sie sich nach einer Vorlage (siehe Text unten).

4 Wie man einen Voodoo-Zauber vollführt, werden wir Ihnen hier nicht auf die Nase binden. Das müssen Sie bei Interesse schon selbst herausfinden.

Basteln für eine bessere Welt Es ist ein altes Übel: Nicht nur Socken pflegen sich heimlich voneinander zu trennen, auch Handschuhe tauchen nach der Sommerpause gerne einzeln wieder auf. Nutzen Sie die Gelegenheit und machen Sie eine Monster-Voodoo-Puppe draus! Sie können damit schon früh den bösen Wintergeistern etwas entgegensetzen. Sollte es Ihnen gelingen, Ähnlichkeit zu einem der Kandidaten zu erreichen, können Sie vielleicht gar die Bundesratswahl nächsten Monat entscheidend beeinflussen. SURPRISE 263/11

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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Arbeitslose als Umweltexperten Stuttgart. Umweltschutz können sich nur Wohlhabende leisten? In Stuttgart hat ein Zusammenschluss verschiedener Hilfsorganisationen den Spiess umgedreht und eine Klimaschutzaktion für Sozialhilfeempfänger auf die Beine gestellt. In vierwöchigen Trainings werden Langzeitarbeitslose zu Stromsparhelfern ausgebildet. Diese beraten dann Kunden, wie sie ihre Energiebilanz verbessern können. Unter anderem empfehlen sie, die Glühbirnen durch Sparlampen zu ersetzen – nicht zu Unrecht, wie Sie auf S. 14 dieses Hefts nachlesen können.

Das Ende der Fernreisen Graz. Die Befreiungsbewegungen in den arabischen Ländern haben auch längerfristige Auswirkungen auf das Reisen, sagt Tourismusexperte Harald Friedl. «Die Zeit schwindet, in der man mit der Kamera behängt durch die Gegend geht und die Leute anschaut.» Angesichts unserer Praxis, Konflikte zu exportieren, indem wir billige Ressourcen importieren, habe sich in diesen Ländern ein riesiges Konfliktpotenzial aufgestaut. Aufgrund der Umweltprobleme würden Fernreisen aber mittelfristig sowieso nur noch für sehr Reiche drinliegen.

Helfen statt saufen Kiel. Wir haben es immer gewusst: FC-St.Pauli-Spieler sind einfach bessere Menschen. Ex-Profi Michél Mazingu-Dinzey, mit kongolesischen Eltern in Berlin aufgewachsen, engagiert sich intensiv gegen Hunger und Armut in der Welt. Er bringt kongolesischen Kindern St.-Pauli-Shirts und Schuhe mit, reiste nach der Flut nach Pakistan, um zu helfen, in Hamburg unterstützt er den Förderverein für drogen- und suchtgefährdete Kinder. Dies hat einen Hintergrund: MazinguDinzey war lange Zeit, auch als Bundesligaspieler, selbst Alkoholiker.

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Zugerichtet CSI Seniorenheim Der Mann ist nicht mehr gut zu Fuss, er hat 72 Jahre auf dem – nicht nur sprichwörtlichen – Buckel. Der Rücken! Das Herz! Die Gelenke! Er scheint aus einem früheren Zeitalter angereist. Mit seinem breitkrempigen Hut und einem schwarzen Anzug mit Gilet scheint er wie aus einem dieser vergilbten Fotos von circa 1950 entsprungen zu sein. All das ist wohl weniger seinem Alter zuzuschreiben als der Tatsache, dass er aus einer entlegenen Ecke im tiefsten Innerschweizer Hinterland stammt, wo er aufgewachsen ist und – von einem dreijährigen Intermezzo als Taxifahrer in einer grösseren Schweizer Stadt abgesehen – auch immer gelebt hat. Zu verantworten hat er sich wegen mehrfachen Betrugs. In der halben Schweiz hatte er in Inseraten ausgeschriebene Gebrauchtwagen, Wohnwagen und Wohnmobile gekauft, respektive so getan als ob. In Serie schaffte er es, dass die Verkäufer ihm die Fahrzeuge ohne weitere Abklärungen überliessen; einige nach einer bescheidenen Anzahlung, anderen reichte eine Kopie des Ausweises des Angeklagten. Vermutlich wären diese Geschäfte anders vonstatten gegangen, wenn statt des knorrligen alten Mannes ein ex-jugoslawischer Macho in einem Trainer auf diesen Gebrauchtwagenplätzen aufgetaucht wäre. Der hätte ohne sofortige Aushändigung des vollen Verkaufspreises wohl gar nichts gekriegt. Man kann hier nun sehr klare milieubedingte Abgrenzungen innerhalb der kriminellen Szene erkennen. Die Connections des kriminellen Seniors aus dem Kaff sind anders. Der Mann hinter dem Mann vor den Schranken des Gerichtes ist ein alter Be-

kannter des Angeklagten, der seit eh und je eine Garage mit Occasionshandel betrieb. Der Plan, den die beiden ausheckten, war simpel: Senior A besorgt die Fahrzeuge, wie oben beschrieben, die Garage von Senior B dient zum profitablen Weiterverkauf, den Erlös wollen sie sich brüderlich teilen. Während beim Garagisten die Geschäfte leidlich liefen und ihm der Geklautwagenhandel nur die Bilanz versüsste, hatte der Angeklagte mit existenziellen Problemen zu kämpfen. Seine heutige Gebrechlichkeit würde es nicht vermuten lassen, aber der Mann hatte sich vor zehn Jahren eine sehr junge Frau aus einem sehr fernen Land geleistet. Und mit ihr vier Kinder gezeugt. Zweifelsohne: Eine sechsköpfige Familie kommt mit einer kleinen Rente nicht weit. Auch nicht im Hinterland. All das vermag das Gericht aber nicht milde zu stimmen. Der Senior muss 16 Monate hinter Gitter. «Das trifft Sie hart», sagt der Gerichtspräsident bei der Urteilsverkündung. Der Verteidiger hatte argumentiert, dass dem herzkranken Alten die Haft nicht zuzumuten sei, das Gericht möge die Strafe bedingt aussprechen. «Wir haben es immer öfter mit delinquierenden Senioren zu tun – viele werden, wie Sie, erst im Rentenalter kriminell», erklärt der Richter. «Die können wir nicht einfach laufen lassen, bloss weil sie alt sind.» Allerdings räumt er ein, dass die Gefängnisse für diese Fälle nicht eingerichtet seien. Der demografische Trend hin zur Überalterung stellt also auch den Strafvollzug vor neue Herausforderungen. Für die Zukunft heisst das: Vergitterte Seniorenheime inklusive Pflegeabteilung und Spitex. YVONNE KUNZ (YVONNE@REPUBLIK.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 263/11


Leserbriefe «Culturescapes ist mitnichten ein Kulturfestival»

«Masslos falsch» Schade, dass im guten Artikel über das Energiesparhaus so oft «2000 Watt pro Jahr» stand. Das physikalisch unsinnige «pro Jahr» wurde auch in die Aussagen aus der ETH und dem PSI hineingeflickt, ja sogar in den «Vertrag» auf der Fassade, der abgebildet war – ohne «pro Jahr». In Watt misst man die Leistung, die in einem bestimmten Zeitpunkt bezogen beziehungsweise abgegeben wird. Der Verbrauch in einer bestimmten Zeitdauer wird in Wattstunden gemessen. In der 2000-WattGesellschaft stehen jeder Person (samt ihren Zulieferern) doppelt so viele Kilowattstunden zu, wie das Jahr Stunden hat. Rechne! Daniel Goldstein, Boll Uns erreichten noch weitere Zuschriften und Anrufe ähnlichen Inhalts. Wir haben Physik nachgebüffelt und gerechnet: Tatsächlich sind es 17 520 Kilowattstunden, die einem 2000-Watt-Bürger pro Jahr zur Verfügung stehen. 2000 Watt ist die Leistung, die z.B. dem permanenten Energiebedarf eines laufenden Haarföhns entspricht. Wir entschuldigen uns für den Fehler. Die Redaktion «Kein Wort zum Kulturboykott» Der Artikel über Palästina gibt einen korrekten kurzen Überblick über die Lage, hat aber eigentlich im Strassenmagazin nichts verloren, da jeglicher Bezug zu irgendetwas, mit dem sich Surprise befasst, fehlt. Weiter hinten der Artikel zu Culturescapes. Kein Wort zum Kulturboykott gegen Israel, kein Wort zum Auftritt der israelischen Kulturschaffenden Ofira Henig am Eröffnungsabend und der betretenen Nichtreaktion des israelischen Botschafters und seiner Schweizer Gesinnungsgenossen. Sind diese Artikelpaarung und die Auslassungen tatsächlich Zufall? Yvonne Lenzlinger, Zürich

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, redaktion@strassenmagazin.ch

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«Propagandatricks» Culturescapes ist mitnichten ein Kulturfestival. Vielmehr handelt es sich bei diesen Veranstaltungen um eine gezielte Propagandaaktion für das zionistische Besatzerregime Israel. So hat denn Jurriaan Cooiman an einer Informationsveranstaltung in Basel auch einräumen müssen, dass er von der israelischen Botschaft angefragt wurde, Culturescapes mit Israel als Gastland zu veranstalten. Wie der Bericht von Amir Ali in derselben Ausgabe von Surprise zeigt, ist es für Israel dringend notwendig, sein Image aufzupolieren: Vertreibung, Landraub, Folter und Mord an der palästinensischen Bevölkerung sind im Zionistenstaat nach wie vor an der Tagesordnung. Derartige Gräueltaten nun mit «Kultur» aus Israel übertünchen zu wollen, ist eine Schande. Markus Heizmann, Arlesheim Jurriaan Cooiman, Direktor von Culturescapes, nimmt wie folgt Stellung: «Differenzierte Stimmen aus Israel» Die Entscheidung, unsere diesjährige Festivalausgabe den Kunst- und Kulturschaffenden aus Israel zu widmen, haben wir nach sorgfältiger Überlegung getroffen. Von Anfang an war uns bewusst, dass wir damit auch kontroverse Reaktionen auslösen könnten. Wir sind sicher, dass das Kulturschaffen eines Landes immer auch einen aussagekräftigen Spiegel der Bewegungen und Diskussionen unter der Oberfläche des vordergründig sichtbaren Geschehens darstellt. Mit dieser Sichtweise ergibt es sich fast von allein, dass Culturescapes in den vergangenen Jahren auch immer wieder auf Länder zugegangen ist, die aus gesellschaftlichen oder politischen Gründen im Fokus der öffentlichen Diskussion stehen. Viele der Künstlerinnen und Künstler aus Israel, die beim Festival auftreten werden, setzen sich differenziert, offen und kritisch mit den drängenden Fragen des Landes auseinander, wozu selbstverständlich auch die Palästinafrage gehört. Wir finden es wichtig und sinnvoll, das Gespräch mit den Künstlern zu suchen und zu ermöglichen und somit differenzierten Stimmen aus Israel Raum für einen vielschichtigen Diskurs zu geben. Jurriaan Cooiman, Festivaldirektor Culturescapes

BILD: ZVG

Nr. 261: Grosse Bühne

Starverkäuferin Lemlem Kahsai Christophe A. Beck nominiert Lemlem Kahsai: «Gerne nominiere ich Frau Lemlem Kahsai als Starverkäuferin. Frau Kahsai verkauft seit Längerem Surprise im Einkaufszentrum Zürich-Witikon. Sie stammt aus Äthiopien, spricht schon sehr gut Deutsch und hat trotz ihrer schwierigen familiären Situation immer ein ansteckendes Lächeln und ein gutes Wort für ihre Kunden bereit. Sie zeigt echtes Interesse am Gegenüber, ist sichtbar bemüht, sich unseren Gepflogenheiten anzupassen, und stets freundlich. Mich mit ihr zu unterhalten, ist interessant und bereitet mir jedes Mal viel Freude.»

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Porträt Tanz mit dem Feuer Nach einem Absturz in die Drogensucht und einer Versicherungslehre steht die Bernerin Milena Gross heute als Aktionskünstlerin auf Bühnen in ganz Europa. Ihr Lebenstraum ist ein Wanderzirkus. VON FLORIAN BLUMER (TEXT) UND MAREN MICHAELIS (BILD)

Daneben machte Milena mit dem weiter, was ihr Spass machte: Sie fertigte Hula-Hoop-Reifen und trainierte damit, übte sich im Feuerschlucken und -spucken. Zu dieser Zeit, um 2006, kamen in Bern die ersten Burlesque-Shows auf – ein Revival des erotischen Cabarets, das im frühen 20. Jahrhundert in den USA populär war. Milena verband diese Form des Strip-Tanzes mit einer Feuershow und begann, damit aufzutreten. Sie etablierte sich in der Berner Musikszene, trat in Videos und auf der Bühne mit lokalen Grössen wie Reverend Beat Man oder dem aufstrebenden Kutti MC auf. Seit einer «Eifersuchtsgeschichte», mehr möchte sie nicht dazu sagen, würde sie jedoch von der Schweizer Burlesque-Szene geschnitten. Sie hatte schon fast aufgegeben, als ein Mail aus London kam. Kurz darauf stand Zora Viperaz direkt vor dem USBurlesque-Star Dita von Teese auf der Bühne der Olympic Hall Kensington. Seither tritt sie in angesagten Clubs auf, in Berlin, Mailand und – als erste Burlesque-Tänzerin überhaupt – in Istanbul. Die Burlesque-Shows bieten ihr eine gute Plattform, sagt Milena. Sie habe ein gutes und natürliches Verhältnis zu ihrem Körper, weshalb es ihr nichts ausmache, sich auf der Bühne auszuziehen. Doch den Strip (bis auf den Slip und eine Bedeckung der Brustwarzen) baue sie nur in ihre Shows ein, um bei «dem ganzen Burlesque-Zirkus» mitmachen zu können. Sie möchte sich selbst denn auch nicht als Burlesque-Tänzerin bezeichnen, sondern beschreibt sich als Cabaret-Performerin im Stil der Side-Shows, die früher am Rande der grossen Zirkusveranstaltungen aufgeführt wurden. «Seit ich ein Kind war, träume ich von einem Wanderzirkus», sagt sie, «dies ist mein Lebensprojekt.» Vor etwas mehr als einem Jahr gründete Milena mit drei Gleichgesinnten die «Guerilla-Zirkusgruppe» Sole Confuso. Seither sind sie auf Stelzen, feuerspeiend und Klamauk machend in den abendlichen Einkaufsstrassen Berns unterwegs. Gleichzeitig bauen sie an ihrem Traum: Einen Traktor haben sie bereits und Milena baut an einem Wagen mit Klappbühne. Zora werde auch dabei sein, wenn sie damit durch die Gegend ziehen – aber es sei nicht das Ziel, mit den

«Endlich habe ich jemanden gefunden, der mir ‹chlöpple› beibringen kann!», sagt Milena Gross strahlend, noch bevor sie die Jacke ausgezogen und sich gesetzt hat. Die alte, heute kaum noch praktizierte Handarbeitstechnik möchte Milena – sie hält nicht viel von siezen, deshalb im Folgenden beim Vornamen genannt – bei der Fertigung eines neuen Kleids für Zora einsetzen. Liebevoll spricht die 26-Jährige von «der Zora», bei einem Glas Chai in der Ateliergemeinschaft Alte Brauerei in der Berner Lorraine, wo sie regelmässig probt. Zora habe einen wandelbaren Charakter, erklärt sie in breitem Berndeutsch. Zora Viperaz ist Milenas Kunstfigur. Für sie schafft sie eigene Bild-, Klang- und Duftwelten. Zora taucht in immer neuen Rollen auf: als Zora Sultana, die Orientalische, die den modernen, verruchten Bauchtanz «Tribal Fusion» aufführt. Als Zora Zatanna, die Magierin, oder als Zora Hypnotica. Die jüngste Inkarnation ist Zora Helvetica, behangen mit Fünfräpplern und ausgerüstet mit einem brennenden Schweizer-Kreuz-Schild. Zora ist meist eher knapp bekleidet und führt verführerische Tänze mit Stöcken, Hula-Hoop-Reifen und anderen, selbst geschweissten Objekten auf. Diese müssen immer brennen, denn am meisten liebt sie das Spiel mit dem Feuer. Gewandelt hat sich auch Milena selbst. Am radikalsten im Alter von 18 Jahren, als sie nach zwei exzessiven Drogenjahren – «ich habe alles genommen, was man nehmen kann» – eines Tages im Spital aufwachte, ohne Erinnerung, wie sie dorthin gelangt war. «Ich hatte die schönste Kindheit, die man haben kann», sagt Milena. Sie sei sehr behütet aufgewachsen, in einem Haus mit Garten und Spielplatz. Doch als sie elf, zwölf war, begann ihre Familie auseinanderzufallen: Die Mutter wurde krank, ihr Bruder wanderte nach Schottland aus, die Eltern trennten sich. Mit 15 zog Milena von zu Hause aus. Sie fing an zu modeln, arbeitete im Kult-Kleiderladen Olmo und im Dead End, einer stadtbekannten Berner Bar für sehr späte Stunden, die auch eine Gassenküche betreibt. Für eine Gymnasiastin hatte sie viel Geld, sie lebte das Leben einer Erwachsenen. «Etwas in mir sagte, ich müsse mich jetzt entscheiden: Doch es war nicht ihre Welt. Milena fühlte sich Will ich leben oder will ich sterben.» unerfüllt, immer unzufriedener. Eines Tages begann sie, auch harte Drogen zu nehmen. Im Spital sagten ihr die Ärzte, sie sei nur knapp dem Tod entronnen. Shows viel Geld zu verdienen. Milena träumt vom einfachen Leben: Ganz nüchtern meint Milena heute: «Etwas in mir sagte, ich müsse mich Handy und Fernseher besitzt sie schon heute nicht und sie freut sich jetzt entscheiden: Will ich leben oder will ich sterben.» Sie entschied darauf, dass auf Achse auch noch Miete und Versicherungen wegfallen sich fürs Leben. Und dieses neue Leben begann sie bei einer Versichewerden. «Fürs Essen und das Benzin» wollen sie spielen. rung. Es reizte sie das Unbekannte, sich in einer Welt zurechtzufinden, Und doch: Die Idee eines geregelten Lebens «im System» hat Milena in der sie nicht zu Hause war. nicht endgültig verworfen. Sie erklärt: «Ich glaube, mit jedem Gedanken Mit dem Plan im Kopf, das biederst-mögliche zu machen, ging sie erschafft man auch gleich einen Gegengedanken. Wenn ich jetzt den durch die Stadt, entdeckte die Berner Vertretung einer grossen VersiTraum habe, mit Wagen durch die Gegend zu ziehen, dann habe ich dacherung, ging hinein und fragte, ob sie hier arbeiten könne. Sie konnmit auch das Gegenteil davon erschaffen – dass ich eine Familie haben te: Zuerst als Praktikantin, dann begann sie eine Lehre, dazu machte will, einen geregelten Tagesablauf.» So, wie Milena über das Geld, den sie das KV. Milena erklärt: «Ich wollte den Kapitalismus kennenlernen. Kapitalismus und ihre Freiheitsliebe spricht, würde eine «Rückkehr ins Und den konnten sie mir bei der Versicherung auch sehr gut zeigen. Es System» wohl zumindest nicht in Form eines 08/15-Bürojobs geschewar Ausbeutung hoch sieben, in jeglicher Hinsicht, emotional wie fihen. Doch, so sagt sie: «Wirkliche Freiheit liegt für mich darin, mich nanziell.» nicht entscheiden zu müssen.» ■

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BILD: REUTERS/JOHANNES EISLER

Die deutsche Schauspielerin Katie Pfleghar solidarisiert sich an einer Demonstration 2008 in Berlin mit ihren gefiederten Freunden.

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Vegetarismus Aufzucht an der Gemüsefront Es gab Jahre, da schien der Vegetarismus etwas bleich. Doch unterdessen ist er gross geworden und unser Kontrolltermin im Jahr 2011 hat ergeben: Es wird doch noch was Rechtes aus ihm.

VON DIANA FREI

Zu Grossmutters Zeiten stand der Sonntagsbraten noch unhinterfragt auf dem Tisch und niemand fand etwas dabei, ein Stück Fleisch auf dem Teller zu haben. Denn was die Grossmutter noch wusste, war, woher das Tier kam. Vielleicht hatte es der benachbarte Bauer sogar selbst geschlachtet. Zwar hatte Oskar Bircher-Benner die vegetarische Vollwertkost längst als Heilmethode entdeckt, aber noch nicht mal der Körnlipicker, der im Reformhaus die Tofubratwurst ersteht, erschien auf dem Radar der durchschnittlichen Bevölkerung. Heute dagegen weiss auch die Grossmutter nicht mehr recht, woher das Fleisch kommt, und ihre Urenkel beginnen sich erst zwischen Kindergarten- und Teeniealter bewusst zu werden, dass sie mit Hamburger und Spaghetti Bolognese Tiere essen, die in Plüschversionen derweil auf ihrem Bett warten, bis sie vor dem Schlafengehen geknuddelt werden. Auch als der Vegetarismus langsam anfing, über den Kreis einiger weniger vergeistigter Hippies und entrückter Indienreisender hinaus Thema zu werden, sagten die meisten Leute immer noch: Es liegt nun mal in der Natur des Menschen, Tiere zu essen, und Tiere essen schliesslich auch andere Tiere. Ein Kreislauf von Leben und Sterben. Darauf hatten überzeugte Vegetarier wiederum kämpferische Antworten, die sich die Schweizerische Vereinigung für Vegetarismus bis heute als eine Art Handbuch der Selbstverteidigung bewahrte (siehe www. vegetarismus.ch). Und die Vegetarier waren stets intensiv mit ihrem Verzicht beschäftigt: Statt dass sie das Fleisch einfach wegliessen und Gemüserisotto oder Polenta mit Pilzragout kochten, ersetzten sie aus Angst vor Proteinabbau und Eisenmangel das tierische Eiweiss geflissentlich durch Tofu und Seitan, später durch Quorn und andere abenteuerliche, in Plastik eingeschweisste Ersatzprodukte. Vegetarismus war fanatisch, fundamentalistisch. Nicht wie Ich-maghalt-Gurken-nicht. Sondern eine Haltung, die die Ignoranz der Fleischesser an den Pranger stellte. In den 70er- und 80er-Jahren steckte der Fleischverzicht noch in den Kinderschuhen, und entsprechend war der Vegetarismus der Anfänge fordernd und manchmal nervig wie das Geschrei eines Babys. Rohe Rüebli, schlechte Laune Mitte der 70er entstand die Tierrechtsbewegung, als Auslöser gilt Peter Singers Buch «Animal Liberation», das 1975 erschien. Singer warf seinen kritischen Blick auf die Massentierhaltung und propagierte den Vegetarismus als Boykott gegen Tierfabriken. Gleichzeitig entdeckten Promis öffentlich ihr Gewissen. Berühmtes Beispiel sind Paul und Linda McCartney, die sich seit den 70ern für den Vegetarismus engagierten. Ihr Schlüsselerlebnis hatten die beiden – so geht die Legende – in der Idylle ihrer schottischen Farm. Sie schoben sich gerade eine Gabel Lammfleisch in den Mund, als vor dem Fenster ihres Hauses eine Schafherde mit Muttertieren und Lämmern vorbeizog. «Iss nichts, das ein Gesicht hat», wurde in

diesem Moment zum Motto des Hauses. Ein klarer Grundsatz, der aber eher wie ein Auszug aus einem Kinderbuch klingt als nach einem Argument. Bei wem nicht selbst tagtäglich eine Schafherde vor dem Fenster vorbeizieht, wird ihn schnell wieder vergessen haben. Auf den Covern ihrer Kochbücher steht Linda McCartney mit ihrem Gemüse da wie eine Hauswirtschaftslehrerin. Die Bauernhofästhetik macht weniger Lust, ihre Rezepte auszuprobieren, als dass sie einem das Gefühl vermittelt, man müsse sich nun endlich ein wenig verantwortungsvoller verhalten. Pamela Andersons Filetstücke Noch weniger rissen einen andere vegetarische Kochbücher der ersten Generation mit. 1977 erschien mit dem «Tassajara Kochbuch» ein Werk, das den Zen-Buddhismus mit dem Kochen verband. Abgebildet ist darauf eine Kasserolle, aus der eine ganze Landschaft mit Bergen und Wölkchen überkocht. Das Ganze sieht nach eingedampfter Essenz des Zen-Buddhismus aus, zubereitet für Münder, die nach Lebensweisheit gieren. Auch das «Vegetarische Kochbuch Ruhani Satsang» von 1982 befasst sich speziell mit dem geistigen Aspekt der vegetarischen Ernährung. Immerhin nennt Marianne Kaltenbach, Schweizer Ikone unter den Kochbuchautoren, ihr Werk 1988 «Vegetarisch für Gourmets». Doch etwas uninspiriert wirkt der Löffel voll Grünfutter immer noch, und selbst einem Vegetarier entlockt das Bild unfreiwillig den Gedanken: «Irgendwas fehlt hier.» Auch die vegetarischen Restaurants der ersten Stunde waren eine Adresse für ältere Leute, die Gemüse besser kauen konnten als Koteletts. Vegetarismus bedeutete vor 30 bis 40 Jahren rohe Rüebli, Kampf und schlechte Laune. Dann kam eine gewisse Lust auf. Nicht am Essen, aber an der Provokation. Das war sozusagen die Teeniephase des Vegetarismus. Im Schulzimmer und auf dem Pausenplatz ist es praktisch, wenn man seine Identität in einer klaren Haltung finden kann. Die einen sind Punks, die anderen Rocker, die nächsten Vegetarier. Hauptsache Haltung. Auch der Vegetarismus kann als Attitüde kämpferisch wirken, und vor allem taugt er dazu, die Mutter vor den Kopf zu stossen, die zu Hause nicht mehr weiss, wer ihr Zürigschnätzlets nun essen soll. Auf der globalen Ebene ist 1980 offenbar aus einer ähnlichen Befindlichkeit heraus eine radikale Tierschutzbewegung entstanden, Peta. Tierschutz, aber krass statt vernünftig. Und drastisch politisch. «Eine Ratte ist ein Schwein ist ein Hund ist ein Junge. Sie sind alle Säugetiere», stellte Peta-Chefin Ingrid Newkirk fest. So weit, so vertret-

Der Vegetarismus der Anfänge war fordernd und manchmal nervig wie das Geschrei eines Babys.

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bar. Doch die Arbeitsmethoden bewegen sich noch heute am Rande oder bereits jenseits allen rechtsstaatlichen Verständnisses. Die Organisation kämpfte von Anfang an mit kontroversen Kampagnen gegen Massentierhaltung, Pelztragen und Tierversuche.

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BILD: KEYSTONE/HERITAGE IMAGES

Fleischlos aus Verantwortungsgefühl: Paul und Linda McCartney kosten einen Vegi-Burger.

Peta unterstützt Aktivisten, die in Tierfabriken einbrechen, um heimlich zu filmen, und inszeniert medienwirksame Auftritte, bei denen im Namen der Tierliebe buchstäblich über Leichen gegangen wird. 2003 startete Peta eine Aktion, die Holocaustopfer neben einem Haufen toter Schweine zeigte. Der Vergleich der Massentierhaltung mit der Judenvernichtung rief grosse Empörung hervor. Selbstredend plädierte die Organisation damit für eine vegane oder zumindest vegetarische Lebensweise. Supermodels wie Christy Turlington und Naomi Campbell traten als Protest gegen das Pelztragen nackt auf, Kate Moss und Cindy Crawford gaben sich her, und Pamela Anderson – selber Veganerin – liess sich wie im Metzgerlehrbuch ihre eigenen Fleischstücke auf der nackten Haut anzeichnen. Die Tierfreunde gefielen sich darin, einmal schockierend zu sein, dann wieder sexy, aber die offensiven Nacktauftritte kippten schnell ins Sexistische. Im besten Fall war das l’art pour l’art. Aber man könnte auch sagen: Tierschützer haben sich schon oft als Hooligans des Vegetarismus positioniert. Auch andere Organisationen pflegen diesen Stil der Empörung. In der Schweiz legten sich Vertreter der Lausanner Tierrechtsorganisation LausAnimaliste auf öffentlichen Plätzen halbnackt und mit falschem Blut übergossen in Fleischverpackungen.

finden. Jugendliche sind übrigens nicht selten sogenannte Pudding-Vegetarier. Die meiden zwar Fisch und Fleisch, futtern dafür aber Fertigprodukte und Schokoriegel, die vermutlich nicht ganz ohne Kinderarbeit, unfairen Handel oder regenwaldvernichtendes Palmöl hergestellt worden sind. Gesund ist das auch nicht, aber es verbindet die tierliebe Ethik mit Kioskbesuchen. Etwas inkonsequent halt, aber was solls, Mann. Dann kamen die Nullerjahre, und die waren einfach gesund. «Mein Eindruck ist, dass die Leute heutzutage nicht mehr an den lieben Gott glauben, sondern an die Gesundheit», konstatierte der Psychiater und Theologe Manfred Lütz, der 2002 mit seinem Buch «Lebenslust» gegen den grassierenden Gesundheitswahn anschrieb. Hypercholesterinämie, Diabetes mellitus und oxidativer Stress gehörten plötzlich zu Otto Nor-

Ein Vegetarier beweist seine Vernunft. Er ist fleischgewordene Überzeugung.

Verseuchtes Fleisch Tierliebe auf der einen Seite, Sexismus und Holocaust-Vergleiche auf der anderen – das hat tatsächlich etwas mit der Persönlichkeitsstruktur eines Teenies zu tun: Man wird langsam politisch, gibt sich gerne radikal im Denken und benützt liebend gerne schockierende, drastische Bilder, um die Welt wachzurütteln – vielleicht aber auch nur, um sich selber zu

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malverbrauchers gängigem Vokabular, und das Verhältnis zum Essen wurde pragmatischer: Essen war nicht mehr Essen, sondern gleichbedeutend mit Nähr- und Inhaltsstoffen; Functional Food kam auf. Man wusste nun: Tierisches Fett = Cholesterin = schlecht für die Gesundheit. Somit war klar: Olivenöl ist besser als Butter und Tofu gesünder fürs Herz als Mettwurst. Flankiert wurde der Gesundheitswahn von Rinderwahnsinn, Vogelgrippe und Antibiotikadiskussion. Fleisch schien per se verseucht zu sein. Es stellte sich das Gefühl ein, das System an sich sei krank und das Gleichgewicht der Erde gehe langsam zugrunde. Nicht mehr nur die Tiere waren die Bedrohten, sondern jeder Einzelne und die ganze GesellSURPRISE 263/11


BILD: KEYSTONE/AKIRA SUEMORI

Fleisch ist Fleisch: Pamela Anderson vor ihrem Plakat aus der Vegi-Kampagne von Peta.

schaft. Es ging alle etwas an. McDonald's nahm einen Gemüse-Mac ins Sortiment, und was mal Körnlipicker war, wurde nun liebevoll «Vegi» genannt. Die Migros führte ihre vegetarische Linie 1995 ein und nannte sie «Cornatur», Coop zog 2006 mit «Délicorn» nach. Vegetarier, die Zehen essen Das Thema interessierte. Diesen fruchtbaren Boden brauchte es, damit ein Buch wie «Tiere essen» 2009 zum globalen Bestseller werden konnte, in dem Jonathan Safran Foer alles akribisch zusammentrug, was ein Fleischesser über Tierfabriken nicht wissen will. Auf dem deutschsprachigen Markt wurde Karen Duves «Anständig essen» trotz dem moralisch anmutenden Titel 2010 zum Verkaufshit. Autorin Charlotte Roche liess sich das Cover von «Tiere essen» auf den Arm tätowieren – und sie wirkte dadurch erstaunlicherweise nicht noch abgedrehter, als sie für viele schon war, sondern irgendwie geerdeter. Roche als Vegetarierin – das ist nicht «Feuchtgebiete», das ist Vernunft, Fleisch gewordene Überzeugung. Neben den Tierfabriken hat sich unterdessen ein neues Argument für den Vegetarismus in den Vordergrund gedrängt: die Klimadiskussion. Ob das Rind aus Argentinien kommt, das Lamm aus Neuseeland und ob das Fleisch überhaupt auf den Teller gehöre, führt nicht mehr zwingend zum Familienstreit, sondern je länger je mehr zum gepflegten Tischgespräch über den Zustand der Welt. Es geht nun um klimapolitische Argumente und Verantwortung und um politische Vorgaben, nicht mehr nur um persönliche Vorlieben und Mitleid mit dem Schaf auf der Weide. Mit der Unterschrift des Kyoto-Protokolls hat sich die Schweiz 2003 zu einem international koordinierten Klimaschutz verpflichtet. Und der Vegetarismus ist nun einmal klimaverträglicher als der Fleischkonsum. SURPRISE 263/11

Somit ist er ein Weg geworden, zum Klimaschutz beizutragen. Vegetarier zu sein, ist heute ähnlich, wie wählen zu gehen. Im Jahr 2011 wird die Akzeptanz des Fleischverzichts auch auf der Lifestyleebene sichtbar: Hiltl, das wohl bekannteste vegetarische Restaurant der Schweiz, bietet neben Kochschule und Showküche längst auch Bar und Clubatmosphäre. Es ist offenbar nicht mehr nur möglich, ohne Fleisch zu überleben, sondern sogar zu chillen, ohne über seinen Eisenhaushalt nachzudenken. In Zusammenarbeit mit Hiltl kocht auch Globi seit Neustem vegetarisch. Und selbst wenn der blaue Vogel alles andere als eine Lifestyleikone ist, muss, was Globi macht, gesellschaftlich bereits fest verankert sein, denn als Avantgardist gilt er sicher auch nicht. Das vegetarische Zürcher Restaurant Bona Dea hat den Fleischverzicht zudem ironiefähig gemacht, indem mit einer Knoblauchknolle und dem Satz «Wir essen sogar die Zehen» geworben wurde. Durch die Medien wird zurzeit Yotam Ottolenghi geschleift, der vegetarische Vorzeigekoch aus London – und zwar erscheint er nicht etwa unter der Rubrik «Kochen», sondern als Thema im Gesellschaft-und-Kultur-Ressort. Auch die Kochbücher haben sich gewandelt. Die Umschläge kommen in edlem Violett daher, die Aubergine wird als Kleinod inszeniert oder die Rezepte werden mit Reiseanekdoten kombiniert. Zwar kommt Ottolenghis Kochbuch «Genussvoll vegetarisch» wie ein «Gästebuch eines orientalischen Puffs» daher, wie auf einem privaten Blog zu lesen ist. Aber auch wenn sich über Geschmack streiten lässt: Es geht um Genuss und Verführung. Zur vegetarischen Ernährung hat sich die Lust gesellt, sie ist zum urbanen Lifestyle geworden, und man könnte sagen: Der Vegetarismus ist erwachsen geworden. Man hat sogar das Gefühl, er sei ein bisschen stolz darauf. Denn nun darf er endlich Party machen. ■

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Ökologie Fiat Spar-Lux Die Energiesparlampe ist Sondermüll, spart viel weniger Energie, als versprochen und ihr Licht macht krank. Das behaupten ihre Gegner. Ein nüchterner Blick auf die Fakten zeigt jedoch: Sie ist allemal besser als die Glühbirne. VON STEFAN MICHEL

Wir werden hinters Licht geführt, sind Claudia Karstedt und Thomas Worm überzeugt. Corpus delicti: die Energiesparlampe. Die bürokratisch verordnete Lichtquelle halte nicht nur nicht, was sie verspreche, nämlich einen tieferen Energieverbrauch, sie sei gar schädlich. Zusammen haben sie ein Buch geschrieben mit dem Titel «Lügendes Licht – Die dunklen Seiten der Energiesparlampe». Darin finden sich die typischen Argumente der Antisparlampenfront. Und doch passen Karstedt und Worm nicht ganz zu den Sparlampengegnern und Glühbirnenverehrern, die in Internetforen und Kommentarspalten gegen das Lampendiktat wettern. Beide sind Umweltjournalisten, Worm zudem ehemaliger Mitarbeiter von Greenpeace. Eine im Greenpeace-Giftschrank endgelagerte negative – und mittlerweile 20 Jahre alte – Studie über den Um-

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welteffekt von Energiesparlampen scheint ihn angetrieben zu haben, tiefer ins Dunkel vorzudringen. Schwungvoll und durchaus unterhaltsam geisseln die Rechercheure Unwissen, Verordnungswahn und Denkverbote, oder was sie dafür halten. Sie stossen auf verschiedene Ungereimtheiten bei der vermeintlichen ökologischen Revolution in der Lampenfassung. Am meisten sprechen sie jenen aus dem Herzen, die schon immer wussten, dass es nicht gut kommt, wenn Staat und Verwaltung mit Verboten Gutes tun wollen. In «Lügendes Licht» klingt das so: «Brüssels bürokratischer Krake bemächtigt sich der letzten individuellen Rückzugsgebiete. Streckt seine Tenakel in die Wohnräume und Schlafzimmer aus, dringt dort ein in die selbst gewählte Lichtaura (…)» Die Entrüstung über das Glühbirnenverbot durch die Europäische Kommission – in der Schweiz nachvollzogen durch den Bundesrat – SURPRISE 263/11


zieht sich über die ganzen 200 Seiten. Daneben lässt sich die Kritik in zwei Gruppen gliedern: Die Ökolampe werden aus diversen Gründen keine Energieeinsparung bringen und sie sei gefährlich für Umwelt und Mensch.

fürchten, wenn Sie dauerhaft Quecksilberdämpfe atmen oder Quecksilber-verseuchte Fische essen. Der interessanteste Abschnitt von «Lügendes Licht» ist jener darüber, wie Kunstlicht unsere Wahrnehmung beeinflusst. Der bläulich kalte Schein der Energiesparlampe ist ihre augenfälligste Komforteinbusse. Wer ist nicht schon zusammengezuckt beim Blick in den Spiegel einer fluoreszenzbeleuchteten Bahnhoftoilette – fahl die Haut, schwarz umrandet die Augen? Der Grund: Glühlampen leuchten gelb-rot und sind dem Tageslicht viel näher als die grün-blau strahlenden Sparlampen. Karstedt und Worm listen eine Reihe von Studien und Anekdoten auf als

Sparlampen wärmen nicht Wieder und wieder schreiben Karstedt und Worm, dass niemand eine Ökobilanz der «Kompaktleuchtstofflampe», alias Sparlampe, von der Herstellung über den Transport bis zur Entsorgung erstellt habe. Dabei ist den beiden Deutschen entgangen, dass in ihrem südlichen Nachbarland ein knappes Jahr vor der Publikation ihres Werks die Eidgenössische MaterialprüfungsanWer vor Elektrosmog sicher sein will, sollte auch Mobilstalt (Empa) genau diese Analyse geliefert hat. telefon und Wireless-Netzwerk ausser Betrieb setzen. Die Empa verglich Energieaufwand und Umweltschäden von Glühlampen, LeuchtstoffröhHinweise dafür, dass der Fluoreszenzschein der Sparlampen Geist und ren (im Volksmund Neonröhren genannt), Kompaktleuchstofflampen Körper schaden kann. Beweise liefern sie nicht. Sie stossen sich vielund LED-Lampen (Light Emitting Diodes, die nächste Lampengeneramehr daran, dass weder EU noch Bundesrepublik die Gesundheitsrisition). Das wichtigste Resultat: «Die weitaus grösste Belastung fur die Umken in Langzeitstudien abklären liessen. welt ist der Betrieb der Lampen.» Roland Hischier, der für die Studie verChristian Cajochen, Humanverhaltensbiologe und Leiter des Zenantwortlich war, erklärt: «Die Energieeinsparung in der Gebrauchsphase trums für Chronobiologie des Universitätsspitals Basel, hat die Auswirüberwiegt so stark, dass der Zusatzaufwand in der Herstellung rasch wiekungen verschiedener Lichtarten auf den menschlichen Körper unterder aufgeholt ist. Ganz klar, die Ökobilanz der Sparlampe ist deutlich bessucht. Deren wichtigste: blaues Licht, wie wir es seit Jahrzehnten aus ser als die der Glühbirne.» Leuchtstoffröhren kennen, regt wachheitssteigernde Hirngebiete an und Die Glühbirne wandelt 80 Prozent der Energie in Wärme um. Das unterdrückt das Müdigkeitshormon Melatonin. Cajochen betont: «Jede Licht ist quasi ein Nebenprodukt. Damit, argumentieren Karstedt und Lichtart beeinflusst Hirnströme und Hormonhaushalt – auch das TagesWorm, tragen sie zur Raumwärme bei. Mit Sparlampen muss mehr licht.» Er empfiehlt im Wohnbereich Sparlampen mit niedriger FarbtemEnergie ins Heizen gesteckt werden. Hischier winkt ab: «Hält man sich peratur (circa 2500 Kelvin), während im Arbeitsbereich 6500 bis 7500 den Energieverbrauch einer Heizung vor Augen, wird klar, dass eine 60Kelvin Sinn machen. Wohlbefinden hat viel mit Gewohnheit zu tun. So Watt-Birne nur einen Bruchteil dazu beiträgt.» Im Schweizer Durchbevorzugt man im südlichen Europa seit Langem kaltes, blaues Licht. schnittshaus reicht die Abwärme einer 60-Watt-Birne kaum, um einen Dr. Cajochen sind keine nachgewiesenen Gesundheitsschäden durch Quadratmeter Wohnfläche auf Zimmertemperatur zu bringen. Sparlampenschein bekannt. «Wenn es gravierende Schäden gäbe, wüsDie beiden Sparlampengegner prophezeien überdies, dass die massiv ste man das», ist er überzeugt. kommunizierte Energieersparnis der Ökolampe die Menschen vom Das Bundesamt für Gesundheit empfiehlt mindestens 30 Zentimeter Energiesparen abbringe. Schliesslich steige der Energieverbrauch trotz Abstand von Sparlampen wegen deren nichtionisierender Strahlung, immer energieeffizienterer Geräte weiter. Dass dies an umweltschonenbesser bekannt als Elektrosmog. Wer davor sicher sein will, sollte auch den Apparaten liegt, ist so wahr, wie die Katalysatoren schuld daran gleich Mobiltelefon, Schnurlostelefon und Wireless-Netzwerk ausser sind, dass immer mehr Auto gefahren wird. Beim Wort genommen, Betrieb setzen. spricht diese Logik gegen jegliche Umweltschutzmassnahme, da diese die Menschen verleitet, die Umwelt noch mehr zu belasten. Die KliÖko-Sieger Sparlampe maerwärmung werden Sparlampen allein natürlich nicht stoppen. DaWie «Lügendes Licht» richtig anprangert, fehlen unabhängige Stufür ist ihr Anteil am gesamten Stromverbrauch zu klein (18 Prozent dien, die beweisen, dass die Sparlampen ihre angegebene Lebenszeit Stromverbrauch bei den Haushalten). Die Umstellung ist einer von vievon 6000 bis 10 000 Brennstunden tatsächlich erreichen. Viele geben len kleinen notwendigen Schritten – und nicht der schmerzhafteste. schon vorher den Geist auf oder büssen deutlich an Leuchtkraft ein. Recht haben die Buchautoren mit dem Vorwurf, dass in China, wo Zum Vergleich: Eine Glühbirne erlischt nach rund 1000 Stunden, der Grossteil der Sparlampen hergestellt wird, wenig Rücksicht auf Ummanchmal etwas später. Die Empa hat sich dazu eine interessante Frawelt und Arbeitskräfte genommen wird. Wer sich die Hände am Lichtge gestellt: Wie lange muss eine Sparlampe brennen, bis sie ihren ökoschalter weniger schmutzig machen will, greift zum etwas teureren Prologischen Nachteil der aufwendigeren Herstellung und Entsorgung im dukt aus europäischer Fertigung. Vergleich zur Glühbirne dank ihrem niedrigeren Stromverbrauch aufgeEs ist das Lieblingsargument vieler Glühbirnenverehrer: Die Elektroholt hat? In der Schweiz sind es 187 Stunden. Legt man den europäinikbauteile und das Quecksilber der Sparlampe machen diese zu schen Strommix zugrunde, sind es wegen der vielen Kohlekraftwerke soSondermüll. Hischier verweist auf die vor einem Jahr publizierte Begar nur 50 Stunden. rechnung: Ein 1000-Watt-Kohlekraftwerk – wie sie ausserhalb der AlHischier fügt an: «Durch die Wahl von umweltfreundlich produzierpenländer verbreitet sind – bläst pro Stunde so viel Quecksilber in die tem Strom kann man ökologisch mehr erreichen als durch die blosse Atmosphäre, wie in rund 9000 Energiesparlampen enthalten ist. Umstellung auf Energiesparlampen.» Die Resultate der Empa finden auf Richtig ist: Ausgebrannte Sparlampen gehören nicht in den Hausdrei Seiten Platz. Und sie bieten, was Karstedt und Worms auf 200 Seikehricht, sondern zurück an den Verkaufsort, wo sie der Rezyklierung ten nicht liefern: einen schlüssigen Vergleich von Glühbirne und Ökozugeführt werden. Doch selbst bei schlechter Rückgabequote geht die Leuchtstoffröhre. Die Endabrechnung fällt eindeutig zugunsten der grosse Quecksilberbelastung nicht von den Sparlampen aus, sondern Sparlampe aus. von ihrer Stromquelle. Noch ein Tipp: Geht eine Leuchtstofflampe so in ■ die Brüche, dass das Quecksilber austritt, dann lüften Sie gut durch und kehren Sie das flüssige Quecksilber sorgfältig zusammen, ohne es zu berühren (in Gummihandschuhen und mit Kartonstücken als Werkzeug)! Thomas Worm, Claudia Karstedt: Lügendes Licht. Die dunklen Seiten der EnergieDer Stoff ist giftig, gesundheitliche Schäden haben Sie aber nur zu besparlampe. Hirzel 2011. SURPRISE 263/11

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Erziehung Die ganze Welt ein Schulzimmer Wenn ihre Altergenossen frühmorgens die Schulsachen packen und sich auf den Weg machen, bleiben die neunjährige Simona und der vierjährige Fabio bei ihrer Mutter. Der Unterricht findet bei ihnen zu Hause statt. VON MONIKA BETTSCHEN (TEXT) UND DAVIDE CAENARO (BILDER)

Herbstlaub und Muscheln liegen auf der grossen Tischplatte. Sorgfältig hält Fabio eines der zart gemusterten Gehäuse in die Luft. «Die haben wir alle auf Sardinien gefunden», erzählt der vierjährige Bub, legt die Muschel wieder auf den Tisch und greift nach dem nächsten der ausgebreiteten Inselschätze. Das Wohnzimmer der Familie ist ein multifunktionaler Raum mit Sofa, Kochecke und Regalen voller Bücher. Hier wird gegessen, gelacht, gespielt – und gelernt. Fabio besucht keinen Kindergarten. Und später wird er in keine öffentliche Schule gehen. Seine Eltern werden ihn zu Hause unterrichten wie seine neunjährige Schwester Simona. Die 42-jährige Primarlehrerin Deborah Kuhn und ihr Mann haben sich vor einigen Jahren aus Überzeugung für das freie Lernen zu Hause, das sogenannte Homeschooling, entschieden. Im Sommer lernen die Kinder gerne im Garten, in der kühlen Jahreszeit drinnen im Wohnzimmer. «Wir möchten, dass unsere Kinder ihren Interessen und ihrem Tempo entsprechend lernen können, ohne Leistungsdruck und frei von Versagensängsten», sagt Kuhn. Schule in den eigenen vier Wänden, kein fester Stundenplan, kein Schulweg, keine Pausenglocke. Nach welchem System wird da unterrichtet? Deborah Kuhn winkt ab. «Es gibt nicht die Methode. Jede Familie, die sich für Homeschooling entscheidet, findet ihren ganz eigenen Weg.» Lernen werde dabei bewusst nicht durchstrukturiert, sondern geschehe oft auch spielerisch und ungeplant aus dem Alltag heraus. So wie jetzt gerade am unteren Ende des Tischs: Während Simona die Teilnehmerliste ihrer Theatergruppe studiert, blättert Fabio in einem Spielzeugkatalog. «Schau, den möchte ich haben!», unterbricht er die Schwester und tippt auf einen roten Kran. «Der ist aber gross, 1.20 Meter. Weisst du, wie gross das ist?» Simona holt einen Meter und klappt ihn neben dem Bruder in die Höhe auseinander. Der Kran würde Fabio um einen halben Kopf überragen. 1.20 Meter ist nicht länger eine abstrakte Zahl, sondern ist innerhalb einer Minute zu einer fassbaren Grösse geworden.

geheftet und durch Registerkarten nach Fächern unterteilt. Simona mag Arbeitsblätter über Geometrie und Rechnen. Sie notiert als Lernkontrolle, wie viele Aufgaben sie richtig gelöst hat: «12 von 13, 10 von 10, 13 von 15 richtig», steht da. Vor Kurzem hat sich Simona ein Lehrmittel der 4. Klasse aus dem Kanton St. Gallen gewünscht, um ein Thema selbstständig vertiefen zu können. Und manchmal testet sie ihre Rechenfähigkeiten auch am Computer. «Rechnen und Mensch und Umwelt machen mir besonders Spass. Ich könnte mir gut vorstellen, später einen Beruf mit Tieren zu lernen», erzählt Simona, während sie die Seiten durchblättert. Die typische Homeschooling-Familie gibt es nicht. Wer sich dafür entscheidet, seine Kinder zu Hause zu unterrichten, tut dies nicht nur aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen, sondern manchmal auch aus einer allgemeinen Unzufriedenheit gegenüber dem Schulsystem heraus. «Je länger je mehr findet dieses Modell bei Leuten wie uns Zuspruch, die von der öffentlichen Schule generell enttäuscht sind. Zurzeit werden in der Schweiz rund 350 Kinder zu Hause unterrichtet, Tendenz steigend», hält Deborah Kuhn fest. Schwester Martina geht in die Schule Oft wird Eltern, die sich für das freie Lernen zu Hause entscheiden, allgemein vorgeworfen, sie würden ihre Kinder weltfremd und antiautoritär aufwachsen lassen. «Ich bin auf dem Land, im St. Galler Rheintal, mit fünf Geschwistern gross geworden. Die 68er-Bewegung ist dort an uns vorbeigegangen», sagt Kuhn. Der Entscheid für dieses alternative Schulmodell fusse auf anderen Überlegungen. «Viele Eltern und Lehrpersonen beobachten, wie an den Schulen Fächer wie Turnen, Handarbeit oder Zeichnen aus den Lehrplänen verdrängt werden», sagt sie. Gerade in wirtschaftlich angespannten Zeiten greife die Verunsicherung der Leute auch auf das Schulsystem über. Wenn die Wirtschaftswelt von Leistungsdruck und Profitmaximierung geprägt sei, würden gerade Eltern von schulpflichtigen Kindern das Schulsystem und die dort vermittelten Werte infrage stellen. Doch ist es nicht eine Notwendigkeit, die Kinder schon früh mit der Realität der Arbeitswelt zu konfrontieren? Gerade mit einem Unterricht, der mehr und mehr auf Leistung per Knopfdruck fokussiert. Dabei blieben viele Kinder einfach auf der Strecke, was mit einer soliden Vorbereitung auf die Berufswelt oder auf ein konstruktives Miteinander mit Arbeitskollegen wenig zu tun habe, kontert Kuhn.

Enttäuscht von der öffentlichen Schule Aber wie kann ohne ein festes System sichergestellt werden, dass die Kinder eine solide Grundbildung erhalten? «Homeschooling wird in den Kantonen sehr unterschiedlich gehandhabt, die Richtlinien werden überall laufend verschärft», so Kuhn. Im Kanton Zürich etwa müsse man neu über ein Lehrerdi«Viele Eltern und Lehrpersonen beobachten, wie an den plom verfügen, wenn Kinder länger als ein Jahr Schulen Fächer wie Turnen, Handarbeit oder Zeichnen zu Hause unterrichtet werden. Die Bildungsdiaus den Lehrplänen verdrängt werden.» rektion verlange, dass man einmal im Jahr einen detaillierten Stundenplan einreiche. «LehrÜber die Entwicklungen an der staatlichen Schule ist Kuhn durch ihpläne und Lehrmittel können wir kostenlos bei den Behörden beziehen. re älteste Tochter, die zwölfjährige Martina, immer im Bild. Martina Ausserdem besucht uns einmal im Jahr eine Aufsichtsperson, um die besucht im Unterschied zu ihren Geschwistern die Volksschule. «Sie Qualität des Unterrichts und den Wissensstand der Kinder zu überprümöchte das so, weil sie sich in der Klasse wohlfühlt und wir respektiefen.» «Genau», bestätigt Simona, stellt sich suchend vor ein Regal und ren ihren Entscheid», sagt die Mutter. zieht schliesslich einen pinkfarbenen Ordner hervor. «Den muss ich dann Zwei Schulmodelle in einer Familie: Da könnte unter den Geschwiszeigen, weil kontrolliert wird, wie ich lerne», sagt das Mädchen ernst und tern leicht Missgunst entstehen, denkt man. Und die Mutter sagt: «Wenn klappt den Deckel auf. Die Arbeits- und Theorieblätter sind sauber ab-

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Der vierjährige Fabio geht nicht in den Kindergarten, er lernt und spielt dafür zu Hause nach Lust und Laune mit seiner älteren Schwester.

Martina am Morgen früh aufstehen muss, um rechtzeitig in der Schule zu sein, würde sie manchmal lieber zu Hause bleiben. Sie hat die freie Wahl, welche Variante sie für sich haben möchte.» Ab und zu werde sie von neugierigen Eltern auf der Suche nach alternativen Schulmodellen um Rat gefragt, erzählt sie: «Unser Weg löst im Umfeld unterschiedliche Reaktionen aus. Viele empfinden den Leistungsdruck, der auf Lehrern und Schülern lastet, als ungut.» Unter gleichaltrigen Kindern gebe es massive Unterschiede: «Jedes steht an einem anderen Punkt seiner Entwicklung. Wird diesem Umstand keine Rechnung getragen, werden die Kinder schon von klein auf in Gewinner und Verlierer unterteilt, daran stossen sich viele besorgte Eltern.» Stammkundin der Bibliothek Auf der anderen Seite wird die Familie Kuhn auch mit dem Vorwurf konfrontiert, sie würde ihre Kinder vom echten Leben abschotten. «Doch weder verwehren wir unseren Kindern soziale Kontakte, noch packen wir sie in Watte.» Die Kinder sind in Vereinen und im Sport aktiv und kommen so mit anderen Kindern in Kontakt. Wie Simona mit ihrer besten Freundin Xenia: «Xenia geht an die Volksschule, aber es ist für uns nicht wichtig, wer wo in die Schule geht. Wir fahren zusammen Velo, gehen in die Theatergruppe und geniessen die Zeit miteinander», erzählt Simona. Auch ihr kleiner Bruder kennt im Quartier schon von klein auf ein gleichaltriges Mädchen, mit dem er oft spielt. Dieses Mädchen geht nun aber in den Kindergarten und die beiden sehen sich nicht mehr jeden Tag. «Trotzdem ist der Kontakt immer noch da», freut sich Deborah Kuhn mit ihrem Sohn.

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Homeschooling, die beste Lösung für alle, die ihre Kinder selber bei einer ganzheitlichen Bildung begleiten möchten? Auch beim freien Lernen gebe es noch Entwicklungspotenzial, so Kuhn. «Die Frage, ob die Kinder zu sehr geschont werden, stellen wir uns immer wieder.» Ausserdem verfüge die öffentliche Schule über eine breitere Infrastruktur als die Homeschooler. Diese Mängel gelte es zu kompensieren mit einer guten Vernetzung, wie sie beispielsweise im Verein «Bildung zu Hause» ermöglicht werde. Die städtischen Angebote in Kultur und Sport ergänzen das Lernen zu Hause. Ihr Vorbild seien die skandinavischen Länder mit freier Schulwahl, in denen Homeschooling die Bildungslandschaft bereichere, sagt Deborah Kuhn. «Bildung zu Hause ist übrigens keine neue Idee, sie war vielmehr die übliche Bildungsform, bevor im 19. Jahrhundert die obligatorische Schulpflicht eingeführt wurde.» Kinder sollen ohne Druck die Welt entdecken dürfen, damit sie spüren, dass man sie so annehme, wie sie seien, und man ihren Fähigkeiten vertraue, fasst Deborah Kuhn die Grundidee hinter dem freien Ler-

«Bildung zu Hause war die übliche Bildungsform, bevor im 19. Jahrhundert die obligatorische Schulpflicht eingeführt wurde.» Deborah Kuhn nen zusammen, und sie meint: «Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.» So habe etwa Simona lange Zeit kaum Interesse am Lesen gezeigt und sich lieber vorlesen lassen. Doch plötzlich war sie bereit und seither ist das Mädchen Stammkundin der Bibliothek und liest und liest und liest. ■ SURPRISE 263/11


Erziehung «Es ist schade, wenn man die Zeit nicht als Familie verbringt» Benjamin Lanz, der Präsident des Vereins Bildung zu Hause, wehrt sich gegen den Vorwurf, Homeschooler schotteten ihre Kinder von der Aussenwelt ab. Er sieht das heimische Klassenzimmer vielmehr als Familienprojekt, das ganze Generationen einbinden kann. INTERVIEW DIANA FREI

Herr Lanz, was sind das für Eltern, die sich fürs Homeschooling entscheiden? Verschiedene. Es gibt die Freilerner, die sagen: Der Wissensdurst leitet das Kind selbstständig an, das Leben zu entdecken, Sachen zu erforschen. Und die Eltern sollen sie dabei begleiten und Lernfelder schaffen, in denen das Kind experimentieren und lernen kann. Andere sind mit der öffentlichen Schule unzufrieden und sagen: Statt dass man die Zeit einfach absitzt, tun wir zu Hause etwas Sinnvolles. Einige haben überdurchschnittlich begabte Kinder, die sich in der Schule langweilen, sie können sich aber keine Privatschule leisten. Dann gibt es die Christen, die bemängeln, dass das christliche Weltbild in der Schule verloren gegangen ist. Und wir selber haben uns gesagt: Wir haben fünf Kinder, und es ist schade, wenn man sich für die Familie entscheidet, einen Grossteil der Zeit aber gar nicht als Familie verbringt. Homeschoolers sind oft Grossfamilien? Ja, wir haben im Verein eine Familie mit zwölf Kindern, eine mit zehn und eine mit sieben. Das ist bezeichnend: Es sind Leute, die vom Konzept Familie begeistert sind und eine Vision von Leben und Lernen als Gesamtprojekt haben. Wenn sich der Staat immer mehr in Bildungsangelegenheiten einmischt, ist das nicht eine Frage wie etwa die Regelung des Strassenverkehrs. Er greift unmittelbar in die Familienstruktur ein. Er zerstört sie damit zum Teil auch. Wie stellt man Lehrpläne auf? Oft ist es so, dass man sich an der öffentlichen Schule orientiert, aber andere Lehrmittel auswählt, ein anderes Deutschbuch etwa. Einige Familien wählen eine Mischform und arbeiten mit einer Fernschule zusammen. Es gibt auch Curricula, anhand derer man sich einen Plan zusammenstellt. In Hauptfächern wie Mathe und Deutsch werden gewisse Grundlagen SURPRISE 263/11

erwartet. Aber in der Allgemeinbildung zum Beispiel setzt man andere Schwerpunkte. In einem Klassenverband nimmt man einen gewissen Querschnitt an Bildung und sagt: Das muss nun für alle interessant sein, das müssen alle lernen. Und bei der Bildung zu Hause sagt man: Okay, das interessiert das Kind. Also setzen wir dort einen Schwerpunkt. Unter dem Deckmäntelchen des Homeschooling können sich auch Sektenmitglieder von der Aussenwelt abschotten. Sehen Sie diese Gefahr auch? Die sehen wir absolut. Und hier hat bisher die Kontrolle des Staates auch gut funktioniert. Die Medien brachten den Fall einer Mutter und ihres Sohnes, der mit elf Jahren kaum lesen konnte und keine Tagesstruktur hatte. Mit Recht haben die Behörden da gesagt: Das geht nicht. Das Kind musste eingeschult werden. Wir scheuen den Kontakt mit den Behörden nicht. Die Frage ist nur, wie weit der Staat in vorauseilendem Gehorsam Familien, die Eigenverantwortung übernehmen, zurückstutzt, statt genau jene zu fördern. Aber wenn sich das Leben nur im geschützten Rahmen der Familie abspielt, werden soziale Kompetenzen weniger stark gefördert als in einer Schulklasse. Es ist eine festgesetzte Meinung in den Köpfen der Leute, dass man in einer Schulklasse besser sozialisiert wird. Aber es gibt dermassen viele Mobbingfälle und Schüler, die in einer Klasse jahrelang unglücklich sind. Da bin

türlich müssen Kinder auch lernen, in einer Gruppe zu leben – für ein Einzelkind, das zu Hause lernt, ist die Situation sicher eine spezielle Herausforderung. Aber es gibt so viele andere Felder, in denen man das lernen kann, Jugendgruppen, Sport zum Beispiel. Trotzdem: Wenn Eltern zugleich Lehrer sind, fehlen die unterschiedlichen Bezugspersonen. Es entsteht eine Abhängigkeit von den Eltern. Es wäre zu eng gefasst, wenn man denken würde, Homeschooling passiere nur zu Hause mit den eigenen Eltern. Als unsere Kinder kleiner waren, hat mein Schwiegervater mit ihnen zum Beispiel ein Modellboot gebaut. In unserer Kirchgemeinde gab es eine Frau, die ihnen

«Wenn sich der Staat in Bildungsangelegenheiten einmischt, greift er unmittelbar in die Familienstruktur ein.» ich der Meinung: Schüler werden nicht durch Gleichaltrige sozialisiert. Das ist eine Irrmeinung. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Sozialisierung durch Erwachsene passieren muss. Die haben Lebenserfahrung, die sehen das Leben in grösseren Zusammenhängen. Na-

Haushaltsarbeiten wie Nähen beibrachte, und einen Mann, der sie in Geometrie unterrichtete. Wenn Sie Leute finden, die mithelfen, dann ist Homeschooling ein Generationenprojekt mit Grosseltern, anderen Verwandten und Freunden. ■

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Kurzgeschichte Insektenbelustigung

VON KLAUS MERZ

Im Fünfuhrzug nach B. liest mir zwischen A. und O. ein Inder die Hand. Ungerufen setzt er sich mir gegenüber ins Abteil und mischt sich ohne Umstände in mein Leben ein, das nicht gerade vor Zuversicht strotzt. Im Westen bauen sich immer neue Wolkentürme auf, aber dieser Mann kümmert sich nicht ums Wetter. Good head, sagt er, und hat schon meinen Kopf im Auge. Ich kann ihm das nicht verbieten. Freundlich zum Fremden, versuche ich mir meinen Schädel von außen vorzustellen, ein Blick ins Fenster während der kurzen Tunneldurchfahrt erleichtert die Sache. Aber schon werde ich aufgefordert, gemeinsam mit ihm in mein Gehirn hineinzuschauen: Good ideas, kündet der Deuter, aber die Umsetzung meiner Gedanken und Wünsche in Taten klappt nicht immer. Genug Geld ist zwar im Augenblick da, doch das wahre Glück fehlt. Wem sagt er das, frage ich mich und schaue aus dem Zugfenster in die vorbeifahrende Gegend hinaus. Vor einer Schuhfabrik weiden drei Esel. But on twentyfifth of this month, nimmt er den Ball wieder auf, it will change. Er drückt mir ein weißes Zettelchen in die feuchte Hand. Press! Und ich presse tatsächlich, als wäre das verheißene Glück eine Zitrone, die Zitrone ein Zettel, auf dem bei hohem Druck in gelben Buchstaben das Skript meines Lebens sichtbar wird. Es erübrigt sich zu fragen, wie er unterdessen zu meiner anderen Hand in seiner Hand gekommen ist. Der Fleischteller liegt schon aufgeklappt vor ihm, die Lebenslinie leuchtet. Ein biblisches Alter von 92 Jahren weissagt mir der schwarze Mann, ich sehe meine Großmutter väterlicherseits in ihrem Gitterbett strampeln. Ein ungewöhnlich harter Winter war es, und sie wollte ständig barfuß in den Schnee hinaus. Mit solchen Aussichten soll mir der Fasler nicht kommen und kommt mir zuvor: No sickness at all, nur Weisheit und Gelassenheit und ein weißer Haarschopf wie Abraham auf den Radierungen von Schnorr von Carolsfeld. In diesem meinem letzten Menschenleben auf Erden. Aha, soso, und was war davor? Ein Spanier sei ich gewesen, sagt der Seher und zeigt mir sein Augenweiß. Ein geplatztes Äderchen markiert die Umrisse der Iberischen Halbinsel.

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1755 in Barcelona geboren. In der Nachbarschaft bebt die Erde, Lissabon meldet dreißigtausend Tote, und der letzte Wisent wird in Preußen erlegt. Marie Antoinette, nachmalige Königin von Frankreich, und Gerhard von Scharnhorst sind meine Jahrgänger, eine Schafottistin und ein Krieger, das erste Streichquartett von Haydn erklingt. Kant entwickelt die Vorstellung zahlreicher rotierender Milchstraßen im All und Rösel von Rosenhof publiziert ihre «Insektenbelustigungen». Aber davon erzählt mir der Inder natürlich nichts, sondern läßt meine Hand nachlässig fahren – your heart-line is great! – und bringt sofort mein zweites Leben ins Spiel: 1822 in Italien auferstanden. So rasant ging das damals. Ich war entweder eine spätbarocke Frühvollendung oder stand, kaum pensioniert, schon wieder im aktiven Leben außerhalb Roms. Caspar David Friedrich malte fernab meiner Geburt den Mondaufgang am Meer, die Wellen schwappten um die Staffelei des Romantikers, Stendhal handelte in Frankreich unterdessen die Liebe ab, und freigelassene Schwarze aus Amerika gründeten den Staat Liberia. In Südamerika, wo ich schon immer gerne gewesen wäre – eine Reise bis hinunter nach Feuerland kündet der Sternkundler auf das Ende des Jahrzehnts mit Bestimmtheit an – befreite Bolivar Ecuador von der Herrschaft meines vormaligen Heimatlandes, während Ampère ein für allemal festhielt, daß der Magnetismus der Stoffe auf elektrischer Molekularströmung beruhe und Schuberts Achte Symphonie, h-moll in zwei Sätzen, noch nicht «die Unvollendete" hieß: Allons enfants de la patrie-i-e! Aber es bleibt mir jetzt keine Zeit zum Singen und keine Zeit, mich in meinem unverhofften Weltenbürgertum zu sonnen, denn die Erde rotiert weiter um ihr heißes Muttergestirn, und mein Zug taucht in die seegrüne Dunkelheit eines Mischwaldes ein. 2015, sagt der Fremde und überspringt generös meine letzte Geburt, das Kernkraftwerk rechter Hand dampft, die werknahen Bohnen liegen im Schatten des Wolkenhuts, zu meinem Fünfundfünfzigsten also solle ich materiell ausgesorgt haben für alle Zeit – Health, Love, Money – um mein Augenmerk ausschließlich auf Gott und das Immaterielle zu richten. Geschenke und Gaben an die Armen würden natürlich insgeheim mein Gut mehren, fügt er beiläufig hinzu und greift ein Papier aus der Luft. Wie viel mir mein Glück überhaupt wert sei, fragt er schnell und schreibt drei Zahlenvorschläge auf den Zettel, um mich auch über seinen Tarif nicht im Ungewissen zu lassen. SURPRISE 263/11


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führt weiter zwischen azurblauen Badeanstalten und sattgrünen Wiesen hindurch. Es folgt gerodeter Wald. In Reih und Glied liegen die Wurzelstöcke der gefällten Bäume auf dem offenen Feld, Teile eines vergessenen, dreidimensionalen Alphabets. Vor einem Bauernhof fällt mir der aufrechte Gang der Gänse ins Auge, Geranienwut tobt in den Fenstern. Einer Leserin im Garten des Altbaus fühle ich mich im Vorbeifahren besonders verbunden. Sie liest in ihrem Buch, als läse sie sich selbst aus der Hand. Ihrem Kind, das am Bahndamm spielt, baumeln zwei kleine, buntscheckige Weltkugeln an den Ohren. Es hält die Flügel einer Wiesenschnake zwischen den kleinen Fingern und lässt das Tierchen lustig tanzen. Aber kurz vor B. erst bricht endlich das Gewitter los, das sich schon in A. angekündigt hat, und kühlt die Luft. ■ (Aus «Am Fuss des Kamels», Haymon Taschenbuch, Innsbruck/Wien 2010)

BILD: ZVG

Ein wenig verwirrt sitze ich vor der Buchhaltung des Propheten und täusche, um Zeit zu gewinnen, erst einmal Verständigungsschwierigkeiten vor. Der Deuter respektiert meinen Kleinmut und notiert nebenbei noch die Anzahl meiner Kinder, über die wir nicht geredet haben, auf sein Papier. Und eine Zahl zwischen eins und fünf darf ich nennen. Ich wähle die 3. Er wendet wortlos seinen Zettel und zeigt mir die 3, die rückseits nur auf ihren Auftritt gewartet hat. Meinen Namen und die Rufnummer habe ich auf sein Verlangen hin bereits bei ihm deponiert. Ungern, aber ehrlich. Es kommen noch manche Versuchungen auf dich zu, doch deiner Frau bleibe treu, she is a good woman, sagt er mir auf den Kopf zu, als sich der Zug in eine lang gezogene Linkskurve legt. Ich aber will jetzt rasch und willig nach meinem Geldbeutel greifen, um den Zauberer auf der Stelle zufrieden zu stellen und ihm Einhalt zu gebieten, da tritt der Schaffner mit seinem blauen, durchbrochenen Sommerhut und der roten Diensttasche zwischen uns und verlangt nach den Fahrscheinen. Im Lautsprecher wird der Aufenthalt in O. angekündigt, der Wahrsager greift nach seinem spärlichen Handgepäck. Wenigstens den Aufpreis für den Klassenwechsel will ich für den Fremden bezahlen. In meiner Angst vor dem Sommerkollaps ist er mir durch die überhitzten Zweitklasseabteile in eines der großzügigeren und klimatisierten Abteile auf dem Fuß gefolgt. Ich fuchtle mit einer Zehnernote zwischen dem Schaffner und dem Fremden herum, da zückt dieser, schon im Stehen, sein Erstklasseabonnement und läßt mich mit meiner ganzen Schuld für Vergangenheit und Zukunft allein im weichen Polster sitzen. Auch wenn Unglaube und meine angeborene Skepsis (seit 1755) sich während der Weiterfahrt immer wieder über das Gehörte und das Gesehene hermachen, hat zwischen A. und 0. auf einmal alles auf der Hand gelegen und schwingt jetzt nach, als der Zug über die Brücke fährt und der Blick zwischen den rostenden Eisenträgern hindurch aufs reißende Wasser fällt. In der Linken halte ich zwei Kügelchen einer gelben Jahrmarktskette, die mir der Magier überlassen hat. Das eine für meinen Geldbeutel, zur Mehrung des ordinären Glücks, das zweite für meine Frau, damit ihre Liebe nicht ende. Meine Handgelenke riechen nach Eisenbahn, Jura reitet als roter Schriftzug über ein Satteldach, am Rücken klebt das Hemd. Die Fahrt

Zur Person: Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt als freier Schriftsteller in Unterkulm/Schweiz. Zuletzt erschienen von ihm die Gedichte «Aus dem Staub», die Novelle «Der Argentinier», die «Erzählungen LOS» und «Adams Kostüm» sowie der Roman «Jakob schläft». Am 29. Januar wird ihm der Basler Lyrikpreis 2012 verliehen.

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BILD: ANDREA GANZ

Le mot noir Weihnachtsgeschenke Kürzlich am Sonntagabend daheim. «Warum muss dein Nachbar so spät eigentlich noch Holz hacken!», tigert meine andere Hälfte in die Küche. «Keine Ahnung», rühre ich in einer Pfanne. «Vielleicht will er ein Feuer machen?» «Ich habe nachgezählt. Der hackt seit über einer Woche Holz!» «Mal probieren?», halte ich die Kelle hin. «Daraus mache ich dieses Jahr Weihnachtsgeschenke. Das ist Tomatenkonfitüre!» «Tomaten und was?» «Ich weiss!», bin ich frustriert. «Die müsste doch irgendwie rot sein, oder nicht?» «Machst du jetzt jeden Abend Konfitüre?», will meine andere Hälfte knurrig wissen. «Wir können Weihnachten auch ausfallen lassen», säusle ich scheinheilig zurück. «Aber dann weiss ich nicht, was ich den Nachbarn schenken soll.» «Der Holzhacker braucht sicher keine Konfitüre!» «Probier doch mal! Schmeckt

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irgendwie wie nasser Sand …» «Asbest!», attestiert meine andere Hälfte zufrieden. «Davon kann er ein Glas haben, wenn was übrig bleibt.» «Du darfst als Erster aussuchen!», zeige ich auf die vollen Gläser. «Braun oder grau, irgendwo ist auch ein merkwürdiges Grün. Das kommt, glaube ich, von den Pfirsichen.» «Okay, wenn ich auf ein rotes Glas warte?» «Ich hab keine Ahnung, was ich falsch mache. Das Foto bei dem Rezept sieht richtig einfach aus. Einfach knallrot!», rühre ich sauer weiter. «Und ähm, wenn wir schon bei Rot sehen sind, meinst du nicht, der Hund müsste auf seiner Matte schlafen?» «Unbedingt», wedle ich mit der Kelle mit. «Ich habe nachgezählt. Wir haben seit einer Woche keine Nacht im Bett verbracht. Das ist doch nicht normal oder?» «Ich fürchte, er verteidigt sein Terrain», säusle ich in die Pfanne und rühre weiter. «Aber vielleicht könnt ihr das untereinander klären?» «Das habe ich versucht!» «Okay», stelle ich das Feuer schwächer. «Vielleicht hilft das weiter: Als er klein war, hab ich zu ihm gesagt, Luxus könne er vergessen, aber dafür darf er sich entfalten.» «Er hat sich entfaltet, so viel ist klar», ist meine andere Hälfte noch immer angefressen. «Das kannst du doch auch?», säusle ich über ein paar Tomaten hinweg. «Entfalte dich! Und ich versuche hier so lange, Konfitüre hinzukriegen, okay?» «Du musst dich in der Küche doch nicht so abrackern», macht meine andere Hälfte jetzt

auf friedlich. «Wir können die doch locker kaufen. Merkt kein Mensch!» «Ich möchte die Konfitüre aber lieber selber machen», sage ich. «Weil du dich von einer Tomate nicht unterbuttern lassen willst?» «Weil einfache Handgriffe, wie in einem Topf zu rühren, angeblich seien wie Meditieren. Das hab ich in diesem Artikel gelesen», zeige ich mit der Kelle auf den Küchentisch. «Da steht, dass Kochen beruhigt!» «Wenn ich mir diese Gläser ansehe, finde ich nicht, dass deine Konfitüre wahnsinnig beruhigt», wirft meine andere Hälfte das Handtuch. «Aber wenns dir hilft: Ich versuche, uns mal einen Platz im Bett zu ergattern.» Später auf der Hundematte. «Woran denkst du?», will ich gurrend wissen. «Ich dachte, das sei klar», dreht sich meine andere Hälfte schmollend weg. «An diesen Holzhacker da draussen!»

DELIA LENOIR LENOIR@HAPPYSHRIMP.CH ILLUSTRATION: IRENE MEIER (IRENEMEI@GMX.CH) SURPRISE 263/11


Folk Bereit für den Erfolg Shirley Grimes kreiert seit gut 20 Jahren Sounds der stillen, aber prächtigen Sorte. Dennoch gilt die in Bern wohnhafte Irin als eins der bestgehüteten Geheimnisse der hiesigen Musikszene. Eins, das endlich gelüftet gehört.

Endlich, endlich sei «The Long Road Home» fertig, freut sich Shirley Grimes auf ihrer Website schon fast lauthals. Fast vier Jahre sind seit ihrem letzten Werk «Sweet Rain» – einer überaus popnahen Angelegenheit – vergangen. Seither hat sich Entscheidendes getan bei der gebürtigen Irin: Nach einem guten Jahrzehnt hat sie ihre fixe Band aufgelöst. «Ausserhalb der Formation kam es mir vor, als hätte ich keine eigene musikalische Identität mehr», erklärt Grimes den Entschluss und bändigt ihre rote Lockenpracht zu einem Zopf. Also kein Streit und keine Unstimmigkeiten, vielmehr habe sie einfach wieder spüren wollen, wer sie sei und wohin es sie und ihren Sound ziehe, so ohne Einfluss von aussen. Was weder ein schneller noch ein einfacher Prozess gewesen sei, jedoch ein notwendiger. «Zunehmend wurde mir klar und wichtig, dass ich wieder meine irische Seite zeigen will.» Zwar würden alle über schöne Stimmen verfügen, aber ansonsten sei Musik in ihrer Familie nicht tiefer verwurzelt, sagt Grimes zum Klischee, dass sämtliche Bewohner der grünen Insel fideln oder zumindest auf einer Bodhrán rumtrommeln. Erst in der Pubertät habe sie zur Gitarre gegriffen, als Autodidaktin. «Die Riesenwende kam, als ich traditionelle Musiker kennenlernte.» Und so nahm die Werdung der Shirley Grimes ihren Lauf. Mit 18 reiste sie – eher durch Zufall – in die Schweiz, nach Bern, und ist gleich geblieben. Und schon kurz darauf veröffentlichte sie 1993 ihre erste CD, «Songs Of Seas And Ferries». Obwohl die Platte bis auf Platz 2 der Schweizer Album-Charts vorstiess, verabschiedete sich die Künstlerin alsbald für vier Jahre von der Musikszene und eröffnete einen Tanzklub. «Ich war einfach nicht bereit für den Erfolg», sagt sie. Das sei heute anders. Selbst wenn sie vom Business weiterhin nichts hält. Was aber auch egal sei: «Ich lasse es in Ruhe und es lässt mich in Ruhe.» Lieber setze sie auf persönliche Kontakte, das genüge, das funktioniere. Gut zwei Wochen vor dem Produktionsbeginn von «The Long Road Home» habe sie den involvierten Musikern einen Packen mit rund 15 Liedern überreicht. Zusammen mit der Warnung, dass «es dann keine der Nummern auf die CD schaffen wird». Und in der Tat: Die sieben Eigenkompositionen, die Grimes letztlich vertonte, sind alle in quasi letzter Minute entstanden. Der positive Druck der Deadline. «Vorher war ich einfach nicht genügend im Saft.» Grimes, die schon für Bonnie Raitt oder Van Morrison («Von ihnen habe ich mitbekommen, was Professionalität ist») Konzerte eröffnete und des Öfteren mit dem Ho Orchestra («Eine Ansammlung fantastischer Divas, nein, Frontleute») unterwegs ist, will sich in den kommenden Monaten auf ihr eigenes Ding konzentrieren. «Ich bin nicht gut drin, parallel an Projekten zu arbeiten.» Dass sie bei ihrer Konzertreihe von gleich zwei Frauen – der Violinistin Veronika Stalder und der Klavierspielerin Vera Kappeler – begleitet wird, hat viel mit besagtem Ho Orchestra zu tun: «Da habe ich gelernt, wie sehr es ‹fegen› kann, mit Musikerinnen aufzutreten.» SURPRISE 263/11

BILD: MARK NOLAN

VON MICHAEL GASSER

Shirley Grimes will ihre irische Seele zeigen.

«The Long Road» zeigt eine entspannte Shirley Grimes. Eine, die ihre traditionelle Musikseite aufgefrischt hat und ihre Singer/SongwriterSeite nicht versteckt. Die Künstlerin verzichtet auf grosse Politur, selbst nennt sie es nonchalant «Bio-Folk». Ihre Stücke wirken ungepützelt, direkt und freudig. Indem sie gewichtige Klassiker wie «Lady Jane Franklin’s Lament» neben ihre eigenen Kompositionen stellt, geht Grimes ein Wagnis ein. Mit Erfolg. Prächtige Tracks aus ihrer Feder wie das leicht melancholische «Goodbye, Adieu» oder das zärtlich zerfliessende «Precious» halten die Pace der Traditionals, erhöhen sie gar. Und last but not least: Grimes singt schöner denn je, ergreifender, voluminöser. Und welche Erwartungen hat sie an «The Long Road Home»? «Keine», sagt sie und lacht fröhlich. Ausser, dass das Album gefallen soll. Was es auch tut, schampar. ■ Shirley Grimes: «The Long Road Home» (Endorphin/Irascible) Live: Fr, 18. November, 20.30 Uhr, Parterre, Basel; 19. November, 21 Uhr, Mokka, Thun; 20. November, 19.30 Uhr, La Cappella, Bern. www.shirleygrimes.com

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BILD: ZVG

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Kulturtipps

Woher der Höcker? Der Rüssel? Die Flecken? Kipling beantwortet zeitlos drängende Fragen.

Ballern in der Banlieue: Auch Jean-Rogers Eltern machen zu Hause Schiessübungen.

Buch Sprachmagier

DVD Falke statt Kanarienvogel

In Rudyard Kiplings «Genau-so-Geschichten» wird die Schöpfung auf märchenhafte und augenzwinkernde Weise lebendig.

Sommer 2011, London, Zürich, Basel: Junge Menschen machen Radau. Mit dem Film «De bruit et de Fureur» hat Jean-Claude Brisseau bereits 1987 seinen Blick auf störrische Jugendliche in einem Pariser Vorort geworfen.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

Als Gandalf, der Zauberer, zu Beginn in «Herr der Ringe» an Bilbos Geburtstags- und Verschwindefest teilnimmt, verzückt er Jung und Alt mit seinem magischen Feuerwerk. Ein solcher Zauberer ist auch Rudyard Kipling, der Autor des «Dschungelbuch». In seinen Geschichten erweist er sich als Sprachmagier, der uns mit seinen Wortkaskaden, seiner Ironie und seinen verspielten Einfällen beglückt. Dass Kipling (1865–1936) nicht nur in Bombay geboren wurde, sondern auch weit in der Welt herumgekommen ist, merkt man diesen Geschichten an. Sie sind im indischen Dschungel ebenso beheimatet wie im Orient und lesen sich wie die Märchen- und Mythensammlung eines Ethnologen. Doch haben sie nichts von trockener Gelehrsamkeit an sich. Vielmehr spürt man die Fabulierlust, die man am besten laut geniesst – vorlesend oder zuhörend. Von allerlei Getier ist da die Rede, und Kipling beantwortet Fragen, die zeitlos drängend sind: Wie etwa das Kamel zu seinem Höcker kam oder der Elefant zu seinem Rüssel. Wieso die Haut des Nashorns Falten hat und der Leopard Flecken. Und dank den Geschichten von Taffy Tegumai und ihrem Stamm erleben wir gar, wie das Alphabet entsteht, und erfahren viel über den geheimnisvoll wirksamen Zauber der Tabus. Dabei geht es mitunter recht rau zu und nicht ohne Schläge ab. Gisbert Haefs Übersetzung befreit Kiplings Texte von der Verniedlichung vergangener Übertragungen und kommt dadurch dem Original näher als je zuvor. Man lasse sich etwa folgenden Ausschnitt (!) auf der lesenden Zunge zergehen: «… er schritt und er glitt, und er ritt und er stritt, und er roch und er kroch, und er riss und er biss, und er sang und er sprang, und er bog und er hob …», heisst es über den Matrosen, der vom Wal, der «den Mund auf und aufer und noch aufer» riss, verschluckt wird, obwohl Menschen eigentlich «nurpselich» schmecken – ein Wort, das sich in keinem Lexikon findet, das aber unmittelbar verständlich ist. Den Buchtitel übrigens hat Kipling wie folgt erklärt: Wenn er seiner Tochter Effie abends Geschichten vorlas, dann «durfte kein einziges Wort abgeändert werden. Sie mussten just so, genau so, erzählt werden, sonst wurde Effie wach und ergänzte den fehlenden Satz …» – Wer hätte das nicht auch schon «genau-so» erlebt?

VON PATRICK BÜHLER

Rugyard Kipling: Genau-so-Geschichten oder Wie das Kamel seinen Höcker

OV und Deutsch, deutsche Untertitel

kriegte. Unionsverlag 2011. 19.90 CHF.

Extras: Interview mit Regisseur, Kommentar der Schlüsselszenen, Making-of.

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Brisseau erzählt die Geschichte des 14-jährigen Bruno, welcher zu seiner Mutter im 15. Stock eines Hochhauses zieht. Wohnkultur aus Beton. Während die Mutter rund um die Uhr arbeiten muss und mit Bruno nur via Notizzettel, Küsschen Küsschen, «ich hab dich lieb und dein Essen steht im Kühlschrank», kommuniziert, begegnet er dem gleichaltrigen Jean-Roger, welcher gerade die Fussmatte seines Nachbars anzündet und mit ihm in die gleiche Klasse geht. Auch Jean-Rogers Familie ist nicht unbedingt das pädagogische Vorbild: Aggression und Langeweile kennzeichnen den Alltag. Während Opa im kleinen Nebenzimmer im Sterben liegt, veranstaltet der Rest der Familie Schiessübungen im Wohnungsgang. Brisseau romantisiert die Tristesse der Lebenswelten seiner Protagonisten nicht. Die motivierte Lehrerin fördert den irgendwie noch unverdorbenen Bruno, aber scheitert daran, den schulischen Auftrag in der herummaulenden Klasse in den Griff zu bekommen. Die Geschichte steuert ihrem unsentimentalen Ende schonungslos entgegen. Erholung bietet dieser Film nur in seinen surrealen Momenten, in denen Bruno in seine Traumwelten flüchtet, wo sein Kanarienvogel zum Falken wird und seine pubertären Fantasien sich an einer sinnlichen Fee ausleben, welche ihn sanft über seine Wange streichelt. Am Ende bleibt das Ganze ein Blick auf eine Generation von Jugendlichen, welche durch ihren Habitus und ihren schlechten Umgang – eingebettet in ungünstige gesellschaftliche Strukturen – sich und anderen schaden: Bourdieus Theorien werden hier im Alltag sichtbar gemacht. Obwohl sich dies trostlos anhört, ist «De bruit et de Fureur» auch ein unerhört berührender Film, welcher mit seinen exzellenten schauspielerischen Leistungen Figuren zeichnet, welche an ihren tragischen Verstrickungen zugrunde gehen. Eine unsentimentale Regieleistung, welche 1988 am Filmfestival von Cannes mit dem Spezialpreis der Jugendjury ausgezeichnet wurde und dieses Jahr erstmals auf Deutsch erschienen ist. Jean-Claude Brisseau: «De bruit et de fureur», Frankreich 1987, 90 Min.,

SURPRISE 263/11


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Ins Gesicht eingravierte Schicksale:

Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Jakob Tuggeners «Fabrik» von 1943.

Ausstellung Zurück ans Licht Fotobände sind mehr als eine blosse Zierde fürs Büchergestell. Sie sind auch stets Zeugen ihrer Entstehungszeit, wie die Schweizer Fotostiftung mit ihrer aktuellen Ausstellung beweist. VON MICHAEL GASSER

Wer einen runden Geburtstag hat, der feiert. Das ist bei der Schweizer Fotostiftung nicht anders. Anlässlich ihres 40-jährigen Bestehens hat sich die Winterthurer Institution durch ihre Fotobüchersammlung gewühlt. Entstanden ist dabei die Jubiläumsausstellung «Schweizer Fotobücher: 1927 bis heute – eine andere Geschichte der Fotografie». Laut den Machern zeigt sie eine «Tour d’Horizon entlang aufschlussreicher Fotobücher», in denen sich die Entwicklung fotografischer Stile und Ausdrucksweisen ebenso spiegelt wie die grossen Themen. Sieben von diesen werden abgedeckt: Heimat, Menschenbilder, Bergbilder, Arbeit, Luftbilder, Zeitgeschichte und Reisen. Die in einem einzigen Raum untergebrachte Ausstellung richtet sich also nicht nach einer zeitlichen Abfolge, sondern wirft ihren Fokus auf ausgesuchte Gebiete. Wie eben aufs Reisen: Das Cover von Michael von Graffenrieds 1989erWerk «Swiss Image» hängt nur scheinbar wahllos neben jenem von René Burris «Die Deutschen», das seine 60er-Jahre-Herkunft nicht verleugnen kann. Mit wenigen Blicken erhält man einen Zeitraffereindruck, wie sich das Unterwegssein und unser Verständnis davon in den letzten 84 Jahren laufend verändert haben. Früher musste das Fremde für den Betrachter stets noch in einen Kontext gesetzt und so nähergebracht werden. Während uns heute das Fremde häufig schon gar nicht mehr fremd ist. Sprich: Die Welt ist sichtlich zusammengerückt. Ihre eindruckvollsten Momente hat die Ausstellung, wenn sie Vergessenes oder Verdrängtes wieder ans Licht zerrt. Wie die müden und ausdruckslosen Arbeitergesichter, die Jakob Tuggener 1943 für sein Fotobuch «Fabrik» verewigte. Oder wie die drei Jahre zuvor von Hermann Stauder abgelichteten «Schweizer Volkstypen», die von – aus heutiger Sicht – schwer verdaulichen Blut-und-Boden-Bildlegenden begleitet sind. Das Einzige, was die Ausstellung trotz gut und klug gefüllter Wände und Vitrinen sowie zweier Videos natürlich nicht bieten kann, ist das haptische Gefühl, in einem Fotobuch blättern zu können. Doch genau diese Lust will die Schau ja auslösen. Was ihr auch gelingt, problemlos.

01

Bölsterli Hitz GmbH, 8005 Zürich

02

www.rechenschwaeche.ch

03

Philip Maloney, Privatdetektiv

04

VXL gestaltung und werbung ag, Binningen

05

Scherrer & Partner GmbH, Basel

06

Balcart AG, Carton Ideen Lösungen, Therwil

07

KIBAG Bauleistungen

08

responsAbility, Zürich

09

Odd Fellows, St. Gallen

10

Coop

11

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Ottenbach

12

Velo-Oase Bestgen, Baar

13

Schweiz. Tropen- und Public Health-Institut, BS

14

Augusta-Raurica-Loge Druidenorden Basel

15

Druckerei Hürzeler AG, Regensdorf

16

Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

17

Stellenwerk AG, Zürich

18

www.bauernschlau.ch, Hof, Web, Kultur

19

Axpo Holding AG, Zürich

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AnyWeb AG, Zürich

21

Niederer, Kraft & Frey, Zürich

22

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

23

Knackeboul Entertainment, Bern

24

Locher Schwittay Gebäudetechnik GmbH, Basel

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Kaiser Software GmbH, Bern

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Strassenmagazin Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Schweizer Fotobücher: 1927 bis heute – eine andere Geschichte der Fotografie; Fotostiftung Schweiz, Winterthur. Bis 19. Februar 2012. www.fotostiftung.ch 263/11 SURPRISE 263/11

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So sieht Heldentum aus: «I’d like to save the world, but I’m too busy saving myself.»

Basel Kurz die Demo getanzt «Eine Entdeckungsreise durch die zeitgenössische Tanzszene» verspricht der Tanzfaktor Interregio 2011. Auf dem Programm stehen sechs ausgewählte Kurzchoreografien von Tanzschaffenden aus der ganzen Schweiz. Da bewegt sich eine Tänzerin im Beisein ihres eigenen Abbilds und trifft dann und wann auf ihr eigenes Ich in «Reflekt!». Und da werden grosse Themen wie Gerechtigkeit, Freiheit, Wohlstand vertanzt: «I’d like to save the world, but I’m too busy saving myself», macht sich die Anonymität, das Heldentum und das Leiden der gesichtslosen Menge zunutze, um die Frage des politischen Engagements in der westlichen Gesellschaft tanzend zu erforschen. Versammlungen und Demonstrationen – sperrige Themen, die zur Bewegungskunst werden. Da stellen wir uns «Animals are like water in water» schon geschmeidiger vor, denn hier tritt der Mensch als von animalischem Gestus geprägtes Geschöpf auf die Bühne. Und das Tier als tanzendes Wesen, vielleicht. (dif)

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BILD: CHRISTOPH HOIGNÉ

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Ausgehtipps

Poetry Slam macht Sie zum Laienrichter.

Low mit Mimi Parker (rechts) und Alan Sparhawk (links).

Bern Slam in der Kappelle

St. Gallen/Fribourg Sanft und intensiv

La Cappella, die Konzertkapelle im Breitsch, macht eine Verjüngungskur. Bisher eher bekannt für Sylvesterkonzerte nicht mehr ganz taufrischer Berner Troubadouren, gibt es seit Ende Sommer neu einmal im Monat «Das Wort zum Sonntag». Was erstmal auch nicht gerade nach Teenie-Format klingt, ist in Tat und Wahrheit eines: Unter diesem Titel stellen sich nämlich Slam-Poeten, meist im Gymnasiastenalter, dem unerbittlichen Urteil des Publikums. Eine regelmässige Veranstaltung mit dieser so spannenden wie unterhaltsamen Kunstform hat Bern bislang gefehlt. Gut, gibts La Cappella! In der letzten Ausgabe dieses Jahres werden neben schweizerischen auch deutsche PoetrySlam-Grössen wie Daniel Wagner, Vize-SlamChampion 2010, auf der Bühne stehen. Als Stargast wird zudem der junge Berner Autor Christoph Simon mit dabei sein. Nutzen Sie die Chance: Gehen Sie hin, seien Sie unerbittlich! So explizit ist Ihre Meinung als Zuschauer selten gefragt. (fer)

«Mittelständisches Unternehmen» ist ein Begriff, der so langsam ausser Gebrauch gerät. Denn Geschäfte, die weder zum Kleingewerbe zählen noch zu den Big Players, werden immer rarer. So auch im Musikbusiness: auf der einen Seite Megastars, auf der anderen Nischenbeackerer. Gut eingeführte Bands mit anhaltendem Publikumszuspruch – mittelständische Musikanten also – gibt es nicht mehr allzu viele. Umso erfreulicher, wenn eine Band wie Low auch im 18. Karrierejahr ein tolles Album wie «C’mon» veröffentlicht. Slowcore heisst das Etikett, das die US-Band nicht mag, und das trotzdem recht passend ist für die sanften und doch so intensiven Songs. Es spricht nichts dagegen, dass Low auch live Wertarbeit liefern werden, schliesslich weiss das Mormonenpaar Mimi Parker und Alan Sparhawk traditionelle Tugenden zu schätzen. Mittelstand eben. (ash) Low live: 29. November, 21 Uhr, Palace, St. Gallen; 30. November, 20 Uhr, Fri – Son, Fribourg.

Das Wort zum Sonntag, 27. November, 20 Uhr. Jeweils am letzten Sonntag im Monat.

Anzeigen:

La Cappella, Allmendstrasse 24, Bern.

Tanzfaktor Interregio 2011, 24. und 25. November, 20 Uhr. Roxy Birsfelden, 7. Dezember Kurtheater, Baden www.tanzfaktor.ch

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SURPRISE 263/11


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Keine Angst vor Irritationen: Joan & The Sailors.

«The Iron Wall» – Kultur aus Palästina.

Auf Tour Betörend melancholisch

Zürich Kunst unter Besatzung

Joan & The Sailors veröffentlichen dieser Tage ihr Debütalbum «Mermaids». Stilistisch verortet sich die Formation aus der Zentralschweiz zwischen Postrock, Gothic Folk und Trip-Hop. Die Songs dürfen Bruchstellen haben, eine Ballade auch mal mit schroffen Gitarren aufgerauht werden. Joan Seiler ersingt sich auf Anhieb ihren Platz im stark besetzen Feld einheimischer Sängerinnen. Mit einer schönen Stimme gesegnet, nutzt sie diese facettenreich und ausdrucksstark. Bereitwillig ergibt man sich dem Sog der detailverliebt arrangierten Songs und taucht ein ins betörende Halbdunkel. (ash) Live: 25. November, 21 Uhr, Kuppel, Basel; 26. November, 20 Uhr, La Fourmi, Luzern; 3. Dezember, 20 Uhr, Stickerei, St. Gallen; 10. Dezember, 20.30 Uhr; Im Schtei, Sempach; Dezember, 21 Uhr, Ono, Bern.

Ende Oktober wurde Palästina in die Unesco, die UN-Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur, aufgenommen. Doch welchen Stellenwert haben Kunst und Kultur in einem besetzten Land? Dieser Frage widmet sich noch bis zum 7. Dezember die Veranstaltungsreihe «Palästina – Kulturaspekte» in der Roten Fabrik in Zürich. Und zwar in Theorie und Praxis. Zum einen ist eine Reihe von Theaterstücken, Filmen und Konzerten zu erleben, zum anderen wird in Vorträgen und Diskussionen über Stellenwert, Möglichkeiten und Themen von palästinensischen Kulturschaffenden gesprochen. Spannend werden dürften Filme wie «The Iron Wall», der Auswirkungen der israelischen Trennmauer zeigt. Musikalisch treten unter anderem die Hip-Hopper DARG Team aus Gaza auf und aufschlussreich wird wohl auch die Podiumsdiskussion «Kulturschaffen in Palästina» mit Künstlern aus der Region. (ash) Podiumsgespräch «Kulturschaffen in Palästina», Dienstag, 29. November, 20 Uhr. Film «The Iron Wall», Mittwoch, 30. November, 20 Uhr. Konzert «Hip-Hop Palestina» mit DARG Team, Samstag, 3. Dezember, 20 Uhr. Jeweils in der Roten Fabrik, Zürich. Infos zu weiteren Veranstaltungen: www.rotefabrik.ch

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Verkäuferporträt «Strassenleute sind reifer» BILD: FER

Der 30-jährige Daniel Meier aus Basel sagt, um Erfüllung in seinem Tun zu finden, reichen ihm eigentlich zwei Dinge: Hip-Hop und Surprise. AUFGEZEICHNET VON FLORIAN BLUMER

«Surprise verkaufen ist eine Herzenssache. Das Tolle ist, dass die Leute fast nur positives Feedback geben. Sie fragen nie ‹was machst denn du› oder so, höchstens einmal, ob man nicht arbeitet – dann denke ich jeweils: Doch, jetzt stehe ich hier und arbeite! (lacht) Für mich ist Surprise ideal, denn man kann sich die Tagesstruktur frei einteilen und die Sachen erledigen, die man muss, für die man sonst fast keine Zeit hat. Ich arbeite Dienstag bis Samstag, ungefähr vier Stunden pro Tag, zwei am Vormittag und zwei am Nachmittag, immer beim Coop City am Marktplatz. Wenn man genug Geld verdient, ist das schön, aber ich denke, das hat auch mit Glück zu tun. Andere können einfach in solche Strukturen hineingehen, beginnen zu arbeiten, lernen vielleicht eine Frau kennen, haben Familie und dann läuft das, dann kannst du nicht mehr aussteigen. Ich bin vorher schon ausgestiegen, habe das Leben gesehen, ohne zu arbeiten: durch die Schweiz reisen, Kollegen sehen, kreativ sein, schlafen, malen oder mit Leuten von der Strasse zusammen sein. Obwohl sie zuunterst sind: Die Leute von der Strasse sind charakterlich viel reifer als diejenigen, die arbeiten und mitmachen. Sie sehen mehr, was notwendig ist im Leben, zum Teil. Auch emotional sind sie viel lebendiger, ich habe einfach einen besseren Draht zu diesen Leuten. Bis vor drei, vier Jahren habe ich als Elektriker gearbeitet, das habe ich fast vier Jahre gemacht. Aber der Job hatte mich gelangweilt, und da war ich auch nicht der Einzige: Du musst einfach auf dem Bau sein und eigentlich scheisst es alle an. Du kannst nicht einfach sagen, du machst jetzt Feierabend, auch wenn du gar nichts mehr zu tun hast. Ich hatte damals eine gute Lebensart, habe nicht geraucht, nicht getrunken. Ich fand dann blöderweise, ich höre jetzt auf mit dem Job, ich gehe weg, ich habe keine Lust mehr. Dann veränderte sich halt auch die Lebensart. Und als ich vom Reisen zurückkam, hatte ich nichts mehr ausser einem Rucksack. Ein halbes Jahr lebte ich dann in Basel auf der Strasse. Dieses Jahr wollte ich so etwas wie Freiwilligenarbeit machen, aber das hat mir das Sozialamt verweigert. Ich sei zu jung, hiess es, das sei nur etwas für solche, die gar nichts mehr anderes machen können. Dann war ich halt immer zu Hause und habe gekifft. Dabei hatte ich schon mit 22 jemanden im Rollstuhl herumgefahren, das hat mir mega Spass gemacht. Und diese Leute freuen sich auch und ich denke, dieser Dank ist auch viel wert. Man muss nicht immer einen riesigen Lohn haben. Ich möchte etwas zum gesellschaftlichen Leben beitragen, und das kann man mit Surprise auf jeden Fall. Das Schöne am Heftverkauf ist auch, dass man ein bisschen wie der Fels in der Brandung steht: Alle sind am herumwirbeln und nur man selber steht da und ruft ‹Surprise!› alle zehn Minuten. Ich glaube, wenige haben mal Zeit, stehen zu bleiben und zu überlegen oder einfach einmal ruhig zu sein. Surprise gibt einem wirklich etwas Raum, auch denen, die es kaufen. Mal ein bisschen Pause zu haben.

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Ich habe jetzt auch wieder etwas im Sinn: anfangen zu massieren. Aber ich bräuchte dazu das Geld von der Pensionskasse und das habe ich bis jetzt nicht bekommen. Es ist mühsam, das System legt einem Steine in den Weg. Ich hätte schon gerne einen Job, mit dem ich die Grundbedürfnisse selber decken könnte. Das braucht halt viel Zeit und vielleicht geht es auch irgendwann einmal, wer weiss. Mein Traum wäre eher, etwas in Richtung Musik zu machen, das braucht allerdings dann auch wieder Geld und Geduld. Ich höre viel Hip-Hop. Hip-Hop hat ja vier Elemente: Man kann zeichnen, breaken (Breakdance), auflegen sowie schreiben und rappen. Mir gefällt auch die Lebensart, es passt zur Strasse. Hip-Hop ist eigentlich mein zweites Standbein. In diese Richtung würde ich mich gerne weiterentwickeln. Ich zeichne viel, habe auch an verschiedenen Orten auf Auftrag gesprayt. Und ich arbeite daran, dass ich in Clubs auflegen kann. Das wär so der Traum, dass ich hier Fuss fassen könnte. Eigentlich reicht mir das auch: Hip-Hop und Surprise (lacht). Mehr brauche ich nicht.» ■ SURPRISE 263/11


Eine Chance für alle! Werden Sie Surprise-Götti oder -Gotte Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten als andere. Menschen, die sich aber wieder aufgerappelt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt Struktur und wieder einen Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Die Surprise-Strassenverkäuferinnen und -verkäufer helfen sich

Marika Jonuzi Basel

Ausserdem im Programm SurPlus: Bob Ekoevi Koulekpato, Basel Jovanka Rogger, Zürich Jela Veraguth, Zürich Wolfgang Kreibich, Basel

selber. Das verdient Respekt und Unterstützung. Regelmässige Verkaufende werden von Surprise gezielt unterstützt. Die Teilnehmer am Programm SurPlus sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit). Mit der Programmteilnahme übernehmen die Surprise-Verkaufenden mehr Verantwortung; eine wesentliche Voraussetzung dafür, wieder fit für die Welt und den Arbeitsmarkt zu werden.

René Senn Zürich

Fatima Keranovic Baselland

Kurt Brügger, Basel Anja Uehlinger, Baden Peter Hässig, Basel Andreas Ammann, Bern Marlies Dietiker, Olten

Tatjana Georgievska, Basel Peter Gamma, Basel Josiane Graner, Basel

Ja, ich werde Götti/Gotte von: 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

Vorname, Name

Telefon

Strasse

E-Mail

PLZ, Ort

Datum, Unterschrift

1 Monat: 500 Franken

263/11 Talon bitte senden oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 263/11

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

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Herausgeber Strassenmagazin Surprise GmbH, Postfach, 4003 Basel www.strassenmagazin.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@strassenmagazin.ch Geschäftsführung Paola Gallo Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@strassenmagazin.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Reto Aschwanden, Florian Blumer (Nummernverantwortlicher), Diana Frei redaktion@strassenmagazin.ch Ständige Mitarbeit texakt.ch (Korrektorat), Yvonne Kunz, Delia Lenoir, Irene Meier, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Patrick Bühler, Davide Caenaro, Michael Gasser, Klaus Merz, Maren Michaelis, Stefan Michel Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 15 000, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 61 Theres Burgdorfer, t.burgdorfer@strassenmagazin.ch

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden von der Strassenmagazin Surprise GmbH geführt, die vom gemeinnützigen Verein Strassenmagazin Surprise kontrolliert wird. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83, M +41 79 428 97 27 Zoë Kamermans, Patrick Würmli, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@strassenmagazin.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@strassenmagazin.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@strassenmagazin.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@strassenmagazin.ch Strassensport T +41 61 564 90 10, F +41 61 564 90 99 Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat, David Möller l.biert@strassenmagazin.ch, www.strassensport.ch Trägerverein Strassenmagazin Surprise Präsident: Peter Aebersold Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen.

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Dazu passend: Leichtes T-Shirt, 100%Baumwolle, für Gross und Klein.

Schön und gut. Grosses Badetuch 100 x 180 cm aus sehr langlebigem Zwirngarn, 100% handgepflückte Baumwolle. Mit Surprise-Logo eingewebt und von A bis Z in der Schweiz hergestellt. Vorder- und Rückseite verschiedenfarbig: vorne kühles Aquablau, hinten heisses Rot.

Herren CHF 25.– S (schmal geschnitten) Kinder CHF 20.– XS S Alle Preise exkl. Versandkosten.

Strandtuch (100 x 180 cm) CHF 65.–

50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.

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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch

Ist gut. Kaufen! Wer etwas verkauft, braucht Geld. Schlichte Wahrheit – gute Sache. Denn 50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute. Alle Preise exkl. Versandkosten.

Surprise Zeitungs-Taschen (34 x 36 cm); CHF 37.50 neon-orange schwarz

Surprise City-Taschen (24,5 x 35,5 cm); CHF 40.– rot blau schwarz

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Surprise Rucksäcke (32 x 40 cm); CHF 89.– schwarz rot

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