Saisonvorschau Semperoper Dresden 2014/15

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Grund für das Abweichen vom kindlichen Ideal aber war die Textvorlage der »Mutter« der Königskinder: Elsa Bernstein. Die unter dem männlichen Pseudonym Ernst Rosmer schreibende Bernstein kam ursprünglich aus dem Naturalismus, in dem die Abbildung sozialer Missstände ihre Wiege hat. In ihren »Königskindern« verknüpft sie alt­ bekannte Elemente des Märchens – die Hexe, den Wald, den tugendhaften Königssohn – mit dem Zerbrechen an einer eisig-realistischen Gesellschaft, wie sie auch in einem Drama Gerhart Hauptmanns vorkommen könnte. Eine un­ bewusste Vorahnung der späteren politischen Verhältnisse in Nazideutschland, die die Autorin noch am eigenen Leibe erfahren sollte? Von ihrer Münchner Wohnung aus konnte Elsa – ebenfalls ein Kind der Wagnerverehrung, wie der Name schon verrät – damals auf den Königsplatz blicken, auf dem später die Nationalsozialisten ihre Paraden und Kundgebungen abhalten sollten. »Es ist kalt draußen … es weht einen schaudernd an, wenn man den Kopf aus dem Fenster steckt, um zu sehen, was für Wetter in der Welt ist«, schrieb ihr Ehemann Max Bernstein zur Entstehungszeit der »Königskinder« in einem Artikel der Zeitschrift »Die Na­

tion«. Mit dem Erstarken des Nationalsozialismus veränder­ te sich das Klima um Bernstein: Als Jüdin wurden ihr nicht nur Telefon, Radio und Wohnung entzogen, sondern sie selbst wurde noch im hohen Alter von 76 Jahren zusammen mit ihrer Schwester in das Konzentrationslager Theresien­ stadt deportiert. Während Elsa unter dem Protektorat Wi­ nifred Wagners den Schutz des Prominentenhauses genoss und überleben konnte, starb ihre Schwester bereits nach wenigen Wochen. Ein »deutsches Märchen« ohne glückli­ ches Ende, ohne den gefeierten Sieg des Guten über das Böse – wie in »Königskinder« antizipiert. Und von wegen »Märchenonkel«: Während Bernstein am Schluss noch ei­ nen Hoffnungsschimmer für die Zukunft lässt, eliminiert Humperdinck diesen auch noch durch einen illusionsfrei­ en, unendlich traurigen Ausklang. Und so sind die Eltern der Königskinder zwar keine Könige, auch nicht Hure und Henker, aber Künstler mit dem Herzen eines Kindes und der Weitsicht wissender Meister, denen es gelang, ein Werk so berührend wie fantasievoll zu schreiben und dem alten Märchen dadurch eine erschreckende Modernität zu ver­ leihen. Von Valeska Stern

»Was ist ein König?« Engelbert Humperdinck: »Königskinder« (Gänsemagd)

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